Rien ne va plus, heißt es auf dem Limpertsberg. Zur Verkehrsberuhigung sollen zwei technische Lyzeen aus dem Viertel verschwinden

Fei Leit gin ze Fouss

d'Lëtzebuerger Land vom 20.10.2017

„Nein“, sagt die ältere Dame und schüttelt energisch mit dem Kopf. Sie nehme den Bus nie vor zehn Uhr. „Vorher ist der voller lärmender Schüler.“ In der Linie 2, die vom Schulcampus auf der oberen Avenue Pasteur in Richtung Innenstadt fährt, sitzt eine Hand voll Leute, darunter die ergraute Limpertsbergerin und ihre Freundin. Sie wollen eine gemeinsame Bekannte treffen und gemütlich einkaufen. Von Gemütlichkeit konnte nur eine Stunde zuvor keine Rede sein: Wie Sardinen standen die Menschen in Bussen dicht gedrängt, bis sich Massen von vornehmlich Jugendlichen auf Gehsteige ergossen. Einige waren an er Haltestelle Robert-Schumann oder Victor Hugo ausgestiegen, wo sie den Unterricht in den gegenüberliegenden klassischen Lyzeen besuchen, oder weiter oben, beim Schulcampus Limpertsberg.

Dass das drittgrößte Viertel der Hauptstadt (nach Bonneweg und Belair) unter der großen Verkehrslast ächzt und immer häufiger auch zusammenbricht, ist nicht zu übersehen: Jeden Tag wälzen sich Blechlawinen aus unzähligen Autos und braunen, blauen und roten Bussen entlang der Avenue Victor Hugo, um rund 9 000 Schüler zum Unterricht zu fahren. Oft stehen sie minutenlang Stoßstange an Stoßstange. Kurz vor zehn Uhr nimmt der Verkehr schlagartig ab, um am Nachmittag wieder zuzunehmen.

Die Schulbusse sind nur ein Teil des Problems, aber ein wichtiger, warum Anwohner des Viertels neuerdings wütende Pressekonferenzen organisieren. „Über den Pabeierberg kommen zusätzlich Autos von Bridel und Côte d’Eich und anderswo. Wegen der Tram-Baustelle ist kein geregelter Abfluss mehr möglich“, sagt Romain Diederich. „Ich brauche manchmal fast 30 Minuten, nur um aus dem Viertel zu gelangen.“ Der groß gewachsene Mann mit schmucker Brille und Aktentasche ist Präsident des Lampertsbierger Syndikats, Landesplaner und Kandidat der Christlich-Sozialen der Gemeindewahlen vor zwei Wochen; er will sich aber nur als Syndikatspräsident äußern.

Für Diederich sind es spannende Zeiten: Nicht nur weil der einstige Chef der Landesplanung im – damals CSV-geführten – Landesplanungsministerium „live“ bei den Koalitionsverhandlungen um CSV-Spitzenkandidat und Wahlsieger Serge Wilmes mit den Liberalen um die alte und neue Bürgermeisterin Lydie Polfer hinter verschlossenen Türen um politische Kompromisse feilscht. Vor kurzem wurde zudem bekannt, alle Schulen auf dem oberen Limpertsberg würden komplett fortziehen: Das französische Lycée Vauban soll 2018/2019 endgültig nach Gasperich umziehen, das Lycée technique du Centre soll ebenfalls dorthin kommen, Waldorfschule und das Lycée Michel Lucius sollen auf den Kirchberg, letzteres auf die grüne Wiese hinter die Bürotürme von RTL, wo im Sommer mehrere Tausende Besucher das Food for your senses-Festival feierten.

Gemischte Reaktionen

Dass der neue Standort ihrer Schule am Rande des Bankenviertels liegen wird, stört Pascale Petry, Leiterin des Michel Lucius, nicht: „Die Schule wird durch die Tram angebunden sein. Außerdem bekommen wir mehr Platz.“ Bis zu 1 800 Schüler sollen bis 2025 in dem Neubau unterkommen. Daneben ist eine englischsprachige Primärschule mit allen Zyklen geplant. Der Conseil d’éducation, so Petry, stehe hinter der Entscheidung.

Gegenüber, beim Lycée Technique du Centre (LTC), kam die Nachricht vom Umzug dagegen gar nicht gut an. Das liegt zum einen an der Art und Weise, wie die Betroffenen davon erfuhren: Sie bekamen Wind davon, als Vertreter der Regierung und des Schöffenrats sich im Frühjahr 2017 mit Bewohnern des Viertels trafen, um Fragen der Stadt(teil-)entwicklung zu erörtern, erinnert sich LTC-Direktor Jean-Claude Lenertz. Dort sei das Konzept erstmals vorgestellt worden. „Das schlug ein wie eine Bombe. Wir hatten keine Ahnung.“ Es ist nicht das erste Mal, dass betroffene Lehrer und Schüler von Plänen, die sie betreffen, über Umwege oder aus der Zeitung erfahren. Die Kommunikation von Bildungsminister Claude Meisch (DP) sorgt mittlerweile selbst beim Koalitionspartner für Verdruss.

Dass die Regierung angesichts von Bevölkerungswachstum und rasant steigendem Verkehrsaufkommen nach dezentralen Standorten für den Limpertsberger Campus sucht, ist allerdings seit Jahren bekannt. Die Suche begann unter der vorigen CSV-LSAP-Regierung. Der ehemals agrarisch geprägte Limpertsberg, einstiges Naherholungsgebiet für müde Stater Leit, wurde nach der Schleifung der Festung 1867 von Architekten bewusst auch als Schulviertel konzipiert: Die erste Primärschule entstand 1896 mitten im Wohnviertel, die erste Sekundarschule, die staatliche Industrie- und Handelsschule (Jongelycée), wurde 1907 nach Plänen des Architekten Gustav Serta gebaut. Das Lycéee technique des arts et métiers, die Handwierkerschoul, folgte 1910, die frühere staatliche Gewerbeschule, das heutige Lycée technique du Centre in den 1950-ern. Als letztes zog das Michel Lucius auf den Berg.

Dass die Räume des LTC wegen steigender Schülerzahlen drohten zu eng werden, zeichnete sich spätestens Anfang 2000 ab. 2005/2006 zählte die größte Technikerschule der Hauptstadt fast 3 000 Schülerinenn und Schüler. Das LTC bietet neben den üblichen Berufsausbildungen Ausbildungsgänge an, die es anderswo nicht gibt. Doch das benachbarte private französische Lyzeum platzte ebenfalls aus allen Nähten, und bekam bei Bau und Umzug den Vorrang. Der Staat baute für 60 Millionen ein Gebäude aus Stahl und Beton mit Holzfassade – mit dem Hintergedanken, das LTC könnte die Räume nutzen, wenn das Vauban nach Gasperich umzieht.

2013 stürzte die Regierung, ihr folgte die DP-LSAP-Grüne-Koalition – und mit dem Wechsel begannen die Planungen von vorn. Bald hieß es, nicht das LTC würde in der Avenue Pasteur bleiben, sondern das benachbarte Michel Lucius nach einer Grundrenovierung das Gebäude übernehmen. Das LTC sollte auf den Kirchberg ausweichen. Dort befindet sich bereits die Annexe mit dem Régime préparatoire. Die Aussicht auf einen neuen Bau nach eigenen Vorstellungen konzipiert, hätte wohl die Zustimmung von der Direktion und Lehrern gefunden, wären da nicht Bedenken zur Bauweise gewesen: Der Staat will verdichtet bauen, am liebsten fünf- bis sechsstöckig. „Wie wollen sie Werkstätten und schweres Maschinen-Equipment in höhere Etagen bauen?“, fragt Netty Maas, Vize-Schuldirektorin.

Das Szenario vom Oktober 2016 ist heute noch auf der Webseite des Nachhaltigkeitsministeriums abzurufen, ist aber überholt. Künftiges Zuhause des LTC soll der untere Teil des Ban de Gasperich werden. „Das macht verkehrstechnisch am meisten Sinn, denn dort wird es Bus, Bahn und Tram geben. Zentraler geht es nicht“, sagt Transportminister François Bausch auf Land-Nachfrage. Zudem sei das LTC-Gebäude sicherheitstechnisch überholt. Es sei einfacher, eine neue Schule zu bauen, als an der alten „herumzuflicken“. Insgesamt haben die Planer für Neubauten, Umzug, Abriss- und Umbaumaßnahmen von LTC und LML 402,7 Millionen Euro veranschlagt.

Zentrumsschule ohne Zentrum?

Die Lehrer des LTC überzeugt das nicht. „Wir sind eine Zentrumsschule, was sollen wir isoliert am Stadtrand?“, fragt Laura Asselborn, Vertreterin des Lehrerkomitees. Sie und ihre Kolleginnen haben eine Unterschriftenaktion gestartet, 200 haben gegen die Umzugspläne unterschrieben, viele Lehrer, aber auch technisches Personal. In einem Aktenordner werden Pro-und-Kontra-Umzug-Argumente gesammelt. Zum Beispiel, dass erst im November 2016 mit den Bauarbeiten für die 21 Millionen Euro teure Sporthalle und Kantine in der Avenue Pasteur begonnen wurden. Die würden „genutzt, keine Sorge“, verspricht Patrick Spaus, im Bildungsministerium zuständig für die Infrastrukturen, ohne allerdings zu präzisieren von wem. Der neue Standort liege zu weit vom Zentrum entfernt, die Lage sei „unmöglich“. Was der Nachhaltigkeitsminister als Pluspunkte anpreist, die hervorragende Anbindung an den öffentlichen Transport, sehen Lehrer und Schulleitung skeptisch.

Die gute Anbindung hat einen Preis: Die Ecke ist in der Stadt eine der lautesten. Zwei Autobahnzubringer, zur A6 und zur A3, befinden sich nicht unweit vom künftigen Standort. Die Lärmbelastung liegt auf diesen Strecken bei über 75 Dezibel. „Lärm ist schädlich für die Gesundheit“, warnt Netty Maas. Experten gehen davon aus, dass andauernder Straßenlärm bei rund 80 Dezibel krank machen kann. Dass das Verkehrsaufkommen hier irgendwann abnehmen könnte, glaubt im LTC niemand. „Wie kann ein grüner Minister eine Schule mitten in einen Verkehrsknotenpunkt planen?“, fragt Laura Asselborn entgeistert. Vor sich hat sie einen Ordner mit bunten Plänen aufgeschlagen, voller Textmarkierungen in Neonfarben. Das Grundstück auf dem Park & Ride Cloche d’Or beim Zollamt ist nicht sehr viel größer als das an der Avenue Pasteur. „Die Beamten sagten, im Ban de Gasperich werde in die Höhe gebaut“, so Schulleiter Lenertz. Als er seinen Lehrern von den Hochhaus-Plänen erzählte, sorgte das zunächst für Heiterkeit.

Doch die politischen Verantwortlichen scherzen nicht. „Die Zubringer werden zurückgebaut. Noch ist nicht entschieden, wo das Lyzeum genau hinkommt“, versucht François Bausch zu beruhigen. Auch ein Grundstück, weiter oben im Midfield gelegen, komme in Frage. Bis 2021 sollen Bahnhof und Tram-Anschluss funktionstüchtig sein, dann läge die Schule „mitten in einem Topquartier“, betont er. Schüler, die von mit dem Auto kommen, gelangten über die Autobahn zum neuen Campus.

Auch den Lehrern ist das Lachen längst vergangen, sie haben einen Verdacht: Dass ihr Technique weichen soll, um dem Ausbau des Limpertsbergs als Luxusviertel nicht länger im Weg zu stehen – weil sie Bauherren und gutbürgerlichen Bewohnern nicht ins Bild passt. Der Anteil ausländischer Schüler aus sozial benachteiligten Elternhäusern ist im LTC höher als an den meisten anderen Schulen. Es war die erste Schule, die Angebote gezielt für nicht-luxemburgische Schüler entwickelte.

Dass mangelnde Akzeptanz ein Faktor bei den neuen Planungen spielen könnte, legt eine Grafik einer vergleichenden Studie aus der Bauverwaltung nahe. Dort prangt beim LTC ein signalroter Balken. Die Farbpalette reicht von Grün = gut bis Rot = ungünstig. Beim Michel Lucius steht für den Limpertsberg immerhin gelb. Dabei handele es sich nicht um eine Umfrage, die Einschätzung hätten Beamte der Bauverwaltung „nach dem gesunden Menschenverstand“ vorgenommen, heißt es dazu aus dem Nachhaltigkeitsministerium. Dass die Schulen im oberen Limpertsberg manchen Bewohnern ein Dorn im Auge sind, ist angesichts der enormen Verkehrsbelastung nachvollziehbar. Aber warum sollten sie das LTC stärker ablehnen als beispielsweise die 400 Waldorfschüler oder die 1 400 des Lycée Vauban, die ebenfalls aus dem ganzen Land auf den Berg gefahren kommen? Der Stau, der sich regelmäßig frühmorgens am Square Edouard André bildet, wird unter anderem von weißen oder silbrigen SUVs verursacht, deren Fahrer beim Versuch, das eigene Kind möglichst nahe an der Schule abzuliefern, mitten auf der Straße oder sogar dreist auf dem Bürgersteig halten.

Limpertsberg den Limpertsbergern

So ist der Streit um den täglichen Verkehrskollaps auch eine Geschichte lieb gewonnener Gewohnheiten und Traditionen: Durchs ganze Land fahren Heere von Bussen Jugendliche bis vor die Schultore. Warum ist es Sekundarschülern nicht zuzumuten, 500 Meter zu Fuß zu gehen? Vielleicht weil Erwachsene dies ebenfalls scheuen. Als das Lycée des garçons in der Avenue Victor Hugo renoviert wurde, einst als Zweigstelle des Athenäums für Jungen aus besserem Hause gegründet, weigerten sich LGL-Lehrer, die 200 Meter vom Tramschapp mit seinen 400 Stellplätzen zur Schule zu gehen und bestanden darauf, ihre Autos weiterhin im Schulhof abzustellen. Im Zeitalter, wo Politiker aller Parteien Mobilité douce oder durable predigen und besorgte Erwachsene Fitness-Parcours für übergewichtige Kinder auflegen, wirkt so ein Verhalten deplatziert.

Elitär und wenig weltoffen klingt, dass sich das Limpertsberger Syndikat dafür stark macht, nur noch Schulen und Infrastrukturen im Viertel zu unterhalten, die „historisch“ dorthin gehören und deren Bausubstanz „von Wert“ sei, wie es Romain Diederich ausdrückt. Geht es nach dem Syndikat, soll die Victor Hugo-Halle ebenfalls verschwinden und sowieso nur noch solche Veranstaltungen stattfinden, die ins Viertel gehören. Also Schluss mit den Parteitagen von CSV, DP oder Grüne? Diederich, CSV-Kandidat und Elftgewählter seiner Liste bei den Gemeindewahlen betont, im Interesse aller Limpertsberger zu sprechen. Wer gibt schon zu, ein Bürgerinteressenverein könnte ein U-Boot der Konservativen sein? Auffällig viele Forderungen des Syndikats finden sich im Stater CSV-Wahlprogramm wieder. Die Repräsentativität und demokratische Legitimität des Syndikats ist begrenzt: Seine Vertreter sind nicht gewählt, jeder kann mitmachen, Hürden sind vielleicht Zeit und Sprache. Wer einmal eine Syndikatsversammlung besucht hat, weiß: Es dominieren ältere Stack-Lëtzebuerger – und damit eine Minderheit.

Als das Land Ansprechpartner alteingesessene Bewohner sucht, sagt einer, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, die Lage im Viertel sei „eine Katastrophe“. Er meint damit nicht etwa den Verkehr, sondern die „73 Prozent Ausländer“, die dort wohnen. Von 10 407 Limpertsbergern hatten 2016 74,5 Prozent keinen Luxemburger Pass. Damit zählt das Viertel nach dem Bahnhof zu denen mit dem höchsten ausländischen Bevölkerungsanteil. Das ist nicht der einzige Wandel: Waren es um die Jahrtausendwende besser gestellte Familien, die in den Einfamilien- und kleineren Mehrfamilienhäuser lebten, hat sich das Verhältnis heute fast umgedreht: 61 Prozent sind Einpersonenhaushalte. Jeder zweite Bewohner wohnt weniger als fünf Jahre dort. Das Durchschnittalter der Ausländer liegt bei 39, das der Luxemburger bei 49 Jahren.

Doch ausländische Limpertsberger sind kaum mehr verantwortlich für die Staus als inländische. Wer an den Hauptachsen wohnt, nimmt öfters den Bus oder geht zu Fuß. Eine Studie von Ceps/Instead und Foreg hatte 2008 herausgefunden, dass Haushalte mit höherem Einkommen eher in Einfamilienhäusern in den ruhigeren Nebenstraßen wohnen, die mit niedrigerem Einkommen in Apartmenthäusern entlang den Hauptstraßen.

Wachstumsgrenzen

Singles, Yuppies und Dinks sind Ausdruck einer ungebremsten Wachstumspolitik, die die Kassen der Hauptstadt seit Jahren klingeln lässt, aber begleitet wird von Folgeerscheinungen, die die Stadt und ihre Bewohner zu bewältigen immer größere Mühe haben. Jedes Jahr wächst die Stadtbevölkerung um 2,5 Prozent, in Limpertsberg betrug der Zuwachs in den vergangenen 15 Jahren fast 39 Prozent. Promotoren und Hausbesitzer (nicht wenige Luxemburger) reiben sich die Hände: Ein Studio auf dem Limpertsberg kostet 1 000 Euro und mehr Miete monatlich. Die Mieter arbeiten in Büros und Banken am Glacis und auf dem Kirchberg, kehren zum Schlafen heim, wenn sie nicht noch ausgehen. War die Stammkundschaft in den Bars und Cafés früher Luxemburger und Franzosen, ist es heute ein kosmopolitischer Mix aus hippen Bankern, Schülern und Studenten. Wobei letztere weniger werden, seitdem die Uni nach Esch-Belval gezogen ist.

Den Uni-Campus hätten die Vertreter des Syndikats gerne behalten, betont Romain Diederich. Ansonsten wünscht sich das Syndikat mehr Grünflächen, mehr Parkplätze exklusiv für Anrainer sowie drastische Verkehrsberuhigungsmaßnahmen, so dass Autofahrer aus anderen Gegenden nicht mehr versucht seien, über den Limpertsberg abzukürzen. Man wird den Eindruck nicht los, dass seine Vision vor allem den Interessen der Bessergestellten dient. Von jeher wird zwischen oberem, wohlhabendem, und unterem, ärmeren Limpertsberg unterschieden. „Dawischen beiden liegen Welten“, sagt eine Bewohner, die auf dem Limpertsberg geboren wurde und es wissen muss.

Diederich versichert aber, mit dem Wegzug der Schulen könnte die Lebensqualität aller steigen. In Wahrheit werden einige wohl stärker profitieren als andere: Die Bewohner der Reihenhäuser in der Rue des Rosiers, Rue Michel Lentz und anderswo mehr als die der Apartmenthäuser in der Avenue Victor Hugo. Und was geschieht mit den angrenzenden Vierteln Mühlenbach und Rollingergrund, wenn die Zufahrtsrouten über den Berg und Schleichwege durch Polder versperrt werden? Das „historische Gabarit“, das Diederich lobt und wiederherstellen lassen will, ist an unzähligen Stellen längst eben das: Vergangenheit. Das gesamte Viertel ist von hässlichen Wachstumswunden übersät, wo gierige Bauherren schmucke Häuser abgerissen haben, um gesichtslose Büros und Apartments hochziehen und dafür irrwitzige Mieten zu kassieren. Dem Vorschub geleistet hat eine politische Führung, liberal in der Hauptstadt und zumeist mehrheitlich christlich-sozial im Land, die nichts dagegen unternommen hat, weil das Recht der Eigentümer und die rasche Rendite mehr wiegen als nachhaltiges sozial verträgliches Wachstum.

Nachhaltigkeitsminister François Bausch, vorm Wechsel in die Regierung Erster Schöffe der Hauptstadt, streitet Planungsversäumnisse nicht ab, will sein Projekt aber „als Chance“ verstanden wissen: Mit dem Wegzug der Schulen aus dem oberen Limpertsberg könne mehr bezahlbarer Wohnungsraum gebaut werden. Die Grundstücke des LTC und des LML gehören dem Staat, die der Waldorfschule der Stadt. Der Bebauungsplan für die Rue de l’avenir verspricht „Nouveaux types d’habitation moins consommateursnde terrain“ et „une grande qualité des espaces libres“ und nennt als Vorgaben eine „habitation à échelle humaine“, was immer das sein mag, eine „mixité de typologie de logements, sowie „développer des habitations à cout modérés sur une partie du projet“. Wie groß dieser Teil sein soll, steht nicht im Plan. Es wäre nicht das erste Mal, dass Bauflächen mit Wohnblöcken zugebaut werden, die sich doch nur Besserverdienende leisten können und deren Bauherren sich nicht darum scheren, ob der Baustil zur Umgebung passt. In der Rue Loic Wercollier wirken die charakterlosen weißen Würfel wie einem Wohnprospekt entsprungen. Eine geplante Zwei-Zimmer-Wohnung in der Rue de la Faïencerie, die ein Bauherr unter athome.lu inseriert hat, kostet 950 000 Euro. Der Stellplatz für das eigene Auto ist im Preis inbegriffen.

Ines Kurschat
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