Es schmeckt ihr sehr gut, außerordentlich gut, sie ist mit Leib und Seele dabei, beim Sicheinverleiben. Sie isst intensiv und konzentriert, mit allen Sinnen, mit allen Fasern ihres Leibes. Sie wird alles wegputzen, alles wird danach geputzt ausschauen. Sie hat sich eingenistet in der Apfelspalte, einem noch nicht entsorgten Rest. Wegen Achtsamkeit, neuerdings, vielleicht kann die Schöpfung ja noch was damit anfangen, die Schöpfung ist ja so verhaltenskreativ?
Sie krümmt sich in der Anstrengung, über einer schlaffen Apfelhaut, oder schon in ihr, sind das Fühler die dieses müde Häutchen durchdringen, in ihrer penetranten Obsession? Sie rackert und wütet sich durchs mürbe Apfelfleisch, sie tobt und scheint doch extrem organisiert. Eine Orgie ist das nicht, La Grande Bouffe, oder nicht nur, sie ist so bienenfleißig. Sehr professionell. Dabei weiß ich nicht mal, ob es eine ist, eine Biene, meist verkehre ich ja nur mit Wespen. Ich weiß nicht mal, ob sie gerade dabei ist, einen Superapfelhonig zu produzieren, ja, ich weiß nicht mal ob es einen solchen gibt. Was weiß ich eigentlich?
Vielleicht frisst sie einfach so, vielleicht ist sie fresssüchtig, vielleicht workaholic, irgendwas Pathologisches. Jedenfalls habe ich noch nie jemanden gesehen der so total isst. Der sich vollkommen vereinigt mit dem, was er isst. „Im Internet“ steht, Wespen hätten so kräftige Kieferzangen und eine so hohe Nagetätigkeit, dass sie sich durch Wände fressen könnten.
Alles andere scheint ihr egal, alles neben ihr ist nebensächlich, sie ignoriert mich total. Gut, ich nage zwar nicht am Hungertuch, aber an altem Brot mit Knoblauchzehen, wohl nicht ihre Prädilektion. Sie ist derart gekrümmt in dieser Einverleibungsprozedur, dass ich geschockt entdecke, dass ihr Leib aus zwei Teilen besteht, die nur mit einer wie es scheint prekären Membrane verbunden sind. Als könne er jeden Moment auseinanderbrechen! Hat sie eine Behinderung, eine schwerwiegende? So wirkt sie nicht. Ist sie eine Queen die über so was Unappetitlichem wie einen Darm erhaben ist? Eine solche würde doch aber bestimmt bedient. Aber wo stopft sie denn dann alles rein? Oder verwandelt sich alles gleich in Honig und sie scheidet nur Honig aus? Wie himmlisch wäre so ein Wesen! Deswegen heißt es, plötzliche Eingebung, ja Wespentaille! Bzw. hieß es, in bodypositiven Zeiten haben Role Models ja keine Wespentaillen mehr, sie gaben gar keine Taillen mehr.
Ich habe längst fertig mit meiner Kruste und meinen Zehen, der Kaffeenapf ist geleert, sie macht weiter. Es ist Mittag, Nachmittag, sie schuftet immer noch. Sie ist immer noch nicht geplatzt.
Ich wundere mich, dass sie alleine bleibt, oder ist sie längst eine andere? Bestimmt nicht, weil wären dann nicht schon viele da? Familien, Sippen, Schwärme, Stämme? Ich erinnere mich an eine prächtige Torte, die ich einst schwesterlich zu teilen gedachte mit einer Besucherin im Streifenlook. Im Nu hatte sie, ebenfalls konvivial, sozial, alle eingeladen! Das hat man davon, eine tiefe Der-gute-Mensch-von-Sezuan-Frustration stellte sich damals bei mir ein, so blöd würde ich nie mehr sein!
Am späten Nachmittag beobachte ich sie bei einem Ausflug über der altersfleckigen Apfelschale. Vermutlich einem Verdauungsflug, schon bezieht sie wieder Stellung. Überall liegen plötzlich bräunlich goldene Kügelchen. Eine Mitesserin bzw. Arbeitskollegin ist auch eingezogen, vielleicht ein Rationalisierungsprozess, sie roboten nebeneinander. Es gibt keine Konkurrenz, eher Team Work, sie malochen Seite an Seite, wie Goldgräberinnen, dann Kopf an Kopf. Ein friedliches, fleißiges, protestantisch-frommes Tête-à-Tête, ohne Fleiß kein Preis.
In der Nacht sind sie weg. Klar, irgendwann muss man sich ausruhen, von des Tages Last und Müh.
Am nächsten Morgen spätstückt sie wieder mit, die alte Haut mundet köstlich. Es ist Nachmittag, Breakfast in Progress, später Nachmittag. Die Goldkügelchen türmen sich.
Früher Abend. Ist das Apfelrestlein nicht allmählich ausgehöhlt? Systematisch und zielstrebig macht das Jetzt-wieder-Duo weiter. Ein bisschen lahm kommt es mir allmählich vor.