Raketen für Kaliningrad

Putinkeule

d'Lëtzebuerger Land vom 14.10.2016

Zum zweiten Mal bringt Russland „mit Atomsprengköpfen bestückbare Raketen mit 500 km Reichweite“ nach Kaliningrad. Schon 2014 stationierten sie dort modernste Raketen im Rahmen einer Übung. Es könnte also sein, dass der russische Präsident Wladimir Putin sein militärisches Spitzenprodukt, genannt Iskander-M, wieder abzieht. Glauben mag das zurzeit aber kaum jemand. Der estnische Ministerpräsident Taavi Röivas ist durch die Stationierung alarmiert und hofft darauf, dass das auch auf die anderen Staaten in Nato und EU zutrifft. Aber wer weiß? Da der russische Präsident immer wieder für eine Überraschung gut, tut man gut daran, diese Möglichkeit in alle Spekulationen über die Zukunft mit einzubeziehen.

Im Februar 2007 hielt Putin seine berühmte Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, in der dieser den Vereinigten Staaten vorwarf, die Grenzen in fast allen Bereichen zu überschritten. Noch im gleichen Jahr veröffentlichte Bastian Sick in seinem Buch Happy Aua: Ein Bilderbuch aus dem Irrgarten der deutschen Sprache das kulinarische Angebot „Putinkeule“, das er in einer Gaststätte entdeckt hatte. Gäbe es Aleppo nicht, wir würden darüber schmunzeln, Krieg in der Ostukraine hin oder her. Ein Verfahren gegen Russland wegen Kriegsverbrechen, das Frankreich einleiten will, steht im Raum. Vereinzelt rufen Politiker die Bevölkerung dazu auf, vor russischen Botschaften zu demonstrieren. Auf den Gedanken, dies zuallererst einmal selbst zu tun, kommen sie jedoch nicht.

Russlands Image kann kaum noch schlechter werden. Es ist daher kein Wunder, dass Taavi Röivas besorgt ist. Militärische Falken glauben, dass Russland auch ohne die neuen Raketen Estland und Lettland in 36 bis 60 Stunden überrennen könnte. Die Nato hofft, dass ihr rollierendes System von Elitesoldaten, gepaart mit demonstrierter Entschlossenheit, Russland in ausreichendem Maße von jedem Gedanken an einen schmutzigen Krieg in den baltischen Staaten oder einer erneuter Annexion abhält. Aber, das ist die Kehrseite der russischen Propagandamaschine, so genau weiß man das nicht. Was man mittlerweile weiß, ist dieses: Den russischen Präsidenten zu unterschätzen, kann gefährlich sein. Dem amerikanischen Präsidenten hat es das Ende seiner Präsidentschaft verhagelt. Obama ist handlungsunfähig geworden. Wollte er in Aleppo eingreifen, dann müsste er dies militärisch direkt gegen Russland und mit starken militärischen Kräften tun. Das kann er sich wenige Wochen vor der US-Präsidentenwahl und drei Monate vor dem Ende seiner Amtszeit politisch nicht leisten. Gewollt hat er es nie.

Ob die EU und ihre führenden Mitgliedstaaten Putin unterschätzen, ist nicht bekannt. Bekannt ist, dass in Brüssel ein europäisches Hauptquartier entstehen soll, das die Armeen von Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien koordiniert. Alle EU-Länder, die sich daran beteiligen wollen, sind herzlich eingeladen mitzumachen. Die Hoheit über die Armeen durch die Nationalstaaten bleibt unangetastet. Eine enge Abstimmung mit der Nato wird vorausgesetzt. Zudem haben vor knapp einer Woche die ersten Grenzschützer einer 1500 Mann starken europäischen Grenztruppe an einem Grenzabschnitt in Bulgarien ihre Arbeit aufgenommen. Bei der Startzeremonie trugen auch hier alle anwesenden Offiziere Nationaluniform. Gemeinsam war ihnen die aufgenähte europäische Flagge. Will sie die EU-Grenze wirklich sichern und das muss sie, soll das Schengen-Abkommen überbeleben, muss sie wachsen. Das neue Hauptquartier in Brüssel und der gemeinsame Grenzschutz zeigen, dass sich die Europäische Union verändert. Der größte Gewinn dieser Unternehmungen könnte in der Entdeckung liegen, dass man tatsächlich in der Lage ist, in Kernfragen der Verteidigung zusammenzuarbeiten.

Russland unter Putin zwingt die EU-Mitgliedstaaten zu einer Änderung ihrer Verteidigungspolitik. Putin fordert Europa in der Ukraine, im Baltikum und in Syrien. Überall hat sich das Land eine Position aufgebaut, aus der es militärisch nur mit einem Krieg wieder herauszudrängen ist. Dementsprechend sinnvoll ist es darüber nachzudenken, ob und wie man sich mit Putin arrangieren kann. Die laufenden EU-Sanktionen gegen Russland sind bei und in einigen Ländern nicht mehr gern gesehen. Die brutalen syrisch-russischen Angriffe gegen die Bevölkerung von Aleppo könnten indes eine nochmalige Verlängerung der Sanktionen unumgänglich machen. Wladimir Putin hat sich so die Hände mit Blut besudelt, dass ihm der französische Präsident Hollande die seinen in Paris nicht mehr reichen wollte. Allenfalls eine gemeinsame Absprache, allein über die russische Politik in Syrien zu sprechen in der Hoffnung eine Mäßigung zu erreichen, hätte ihn umgestimmt. Dazu war der russische Präsident nicht bereit. Ein neues russisches Kulturzentrum musste ohne ihn eröffnet werden.

Die russischen Raketen in Kaliningrad haben die großen EU-Mitgliedstaaten nicht aufgeschreckt. Man verlässt sich im Augenblick darauf, dass die verstärkte Nato-Präsenz im Baltikum bei Russland Wirkung zeigt, und im weiteren auf die USA. Für die EU insgesamt, aber für die baltischen Länder insbesondere gilt, was Egon Bahr, der Architekt der Ostpolitik unter Willy Brandt gesagt haben soll: Amerika ist unverzichtbar, Russland ist unverrückbar. Beim russischen Nato-Botschafter, Alexander Gruschko, hört sich das laut der Zeitschrift Politico an: „Russia is not moving. We stay where we stayed.“ Wer sich ein bisschen mit englischer Grammatik auskennt, hätte gesagt ‚we stay where we are‘. Baltische Wachsamkeit ist aus vielen Gründen geboten.

Christoph Nick
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