Die Regierung hat versprochen, eine parallele Alphabetisierung in Deutsch und Französisch ernsthaft zu prüfen. Nach dem Referendum scheint das nicht mehr so sicher

Schicksalsfrage Sprache(n)

d'Lëtzebuerger Land vom 21.08.2015

„Das Projekt ist tot“, sagt Christian Meyers. Der Erziehungswissenschaftler gehört zu einer kleinen Gruppe an Forschern, die sich vor rund anderthalb Jahren daran machten, an der Universität Luxemburg ein Konzept für eine Alphabetisierung in Französisch und Deutsch in der Grundschule zu erarbeiten. In einem Gespräch mit einem Ministerialbeamten hatten sie bereits die Grundlinien ihres Ansatzes erörtert, der zeigte sich erst interessiert – „danach hat er sich nicht mehr gemeldet“, so Meyers.

Die parallele Alphabetisierung in Französisch in der öffentlichen Grundschule, gedacht als Alternative vor allem für portugiesische Kinder, die mit der deutschen Alphabetisierung Schwierigkeiten haben, war einst ein bildungspolitisches Kernanliegen der DP. Anne Brasseur hatte als Unterrichtsministerin angekündigt, den Ansatz zu prüfen, doch war sie in ihrer Amtszeit nicht dazu gekommen. Ihre Nachfolgerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) zeigte sich der Überlegung gegenüber ebenfalls offen. Als dann aber zwei größere Grundschul-Modellversuche erhebliche Startschwierigkeiten zeigten, rückte sie davon ab. Ein erstes Papier, entwickelt von Lehrern der École maternelle in Walferdingen, verschwand in der Schublade. Mit dem DP-Schulminister Claude Meisch schöpften die Befürworter einer Alphabetisierung in Französisch erneut Hoffnung. Und tatsächlich schaffte es die Neuerung bis ins Regierungsprogramm: „Le gouvernement étudiera la possibilité d’une alphabétisa-tion parallèle en français et allemand pour les enfants d’origine linguistique différente“.

Doch heute, mehr als anderthalb Jahre nach Regierungsantritt, ist davon nicht mehr viel zu hören. Zu seiner ersten Schul-Rentrée 2014-2015 überraschte Schulminister Claude Meisch mit einer anderen Neuerung: Er wolle die sprachliche Frühförderung stärken und so schulischem Misserfolg vorbeugen. Luxemburgische Kinder sollten schon im Kindergarten an Französisch herangeführt und so mit einer der drei offiziellen Amtssprachen Luxemburgs vertraut gemacht werden. Umgekehrt sollten Ausländerkinder im Kindergarten Luxemburgisch kennenlernen, um so besser auf die Schule vorbereitet zu sein. Meisch wollte sich dazu von Sprachwissenschaftlern der Uni Luxemburg beraten lassen. Im Herbst 2014 trafen sich Uni und Ministerium zum ersten Mal, um sich über den Plan auszutauschen, doch von diesem Treffen drang nie etwas an die Öffentlichkeit.

Der Minister hatte in den vergangenen Monaten vor allem eines oben auf der Agenda stehen: Die Verhandlungen mit den Lehrergewerkschaften um Sparmaßnahmen konnten erst zu den Sommerferien zu einem Abschluss gebracht werden. Doch dafür, dass der Sprachenunterricht eine der Säulen des Luxemburger Bildungssystems ist, der demografische Druck nicht abnimmt (heute sind über die Hälfte aller Grundschüler nicht-luxemburgischer Herkunft) und weiterhin unzählige Schüler Jahr für Jahr an den Sprachanforderungen scheitern, blieb es geradezu unheimlich ruhig. Der Streit um den richtigen Sprachenunterricht loderte nur kurz auf, als die portugiesische Wochenzeitung Contacto berichtete, dass in manchen Kindergärten und Schulen Erzieher und Lehrer ihren Kindern verbieten würden, ihre Muttersprache im Klassensaal zu sprechen. Die Wogen der Empörung konnte der Minister glätten, als er ein weiteres Projekt ankündigte: An einer staatlich finanzierten Europaschule sollen portugiesische Kinder die Möglichkeit erhalten, ihre Muttersprache zu sprechen und lesen in Französisch zu lernen. Obwohl die Schule im nächsten Jahr ihre Türen öffnen soll, ist unklar, welche Kinder die Schule besuchen werden und wie die Alphabetisierung in Französisch vonstatten gehen soll. Nicht geklärt ist auch, ob das Differdinger Projekt nun den im Regierungsprogramm festgehaltenen Modellversuch einer parallelen Alphabetisierung in Deutsch und Französisch in einer Regelschulklasse ersetzen soll, oder nicht. Offiziell wurde der Plan jedenfalls nie begraben.

Hinweise dafür, dass der Schulminister von der Idee abrückt, gibt es aber: Kurz nach dem Referendum äußerte sich Claude Meisch bei einer Diskussionsrunde von Radio 100,7 über die Rolle des Französischen in der Grundschule: Man werde die Art und Weise überdenken, wie Französisch in der Grundschule gelehrt werde. „Wir müssen natürlich gucken, was für Verschiebungen wir nach hinten bekommen.“ Sprich: Um sie nicht zu überfordern, sollen Kinder, die daheim nicht Luxemburgisch sprechen, künftig mehr Zeit dafür bekommen, das deutsche ABC zu lernen und erst später mit Französisch beginnen.

Unterstützung erhielt Meisch vom Bildungswissenschaftler Romain Martin der Uni Luxemburg. Der ging so weit und interpretierte das massive Nein gegen ein Wahlrecht für Einwohner kurzerhand zum Votum für Luxemburgisch als Integrationssprache für alle um. Er habe aus dem Referendum herausgehört, so Martin, dass Luxemburger einen „ganz, ganz großen Wert auf die luxemburgische Sprache“ legten. Voraussetzung für eine Alphabetisierung auf Französisch sei, Kinder schon im Spielschulalter an Französisch heranzuführen. Dann aber würde Luxemburgisch in den Hintergrund treten, was offensichtlich keiner wolle. Deshalb müssten Wege gesucht werden, um den „Transfer“ vom Luxemburgischen ins Deutsche zu verbessern. Eine beeindruckende Kehrtwende, denn Martin hatte früher die Forderung des Wissenschaftlers Jean-Jacques Weber befürwortet, einen Modellversuch einer französischen Alphabetisierung für romanophone Kinder zu starten.

Martins Aussagen sorgten kaum für Reaktionen, obwohl seine Schlussfolgerung Angriffsfläche bietet: Zum einen wurde am 7. Juni nicht über die künftige Sprachenpolitik im Bildungswesen abgestimmt, sondern darüber, ob Ausländer, die mindestens zehn Jahre in Luxemburg wohnen, hier wählen dürfen. Zum anderen wäre es aus demokratischen Gründen geboten, bei einem Anteil an der Gesamt-Grundschulpopulation von über 50 Prozent von Schülern nicht-luxemburgischer Herkunft sie und ihre Eltern in die Entscheidung einzubinden. Martins vorschnelle Interpretation erklärt sich vielleicht, weil die spezielle Sprachensituation im Vorfeld des Votums immer wieder Streitpunkt war: In sozialen Netzwerken und in Diskussionsrunden äußerten viele die Sorge, wenn Ausländer wählen könnten, würde Luxemburgisch auf lange Sicht aussterben. Neben ernstzunehmenden Ängsten gab es klar chauvinistische, fremdenfeindliche Stimmen. Fakten spielten kaum eine Rolle. Es reichte die Anekdote irgendeines Nachbarn und Kollegen, der nach zig Jahren im Land angeblich immer noch kein Luxemburgisch sprach. Dass mehr Leute denn je heute Luxemburgisch sprechen, dass Ausländer zunehmend Luxemburgisch lernen, sei es, um bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben oder besser verfolgen zu können, was im Land läuft, dass immer mehr Jugendliche und Erwachsene Luxemburgisch schreiben, drang nicht durch. Die ganz Bornierten luden ihre Ressentiments (schlechte Erfahrungen mit dem Schulfranzösisch?) kurzerhand auf die Ausländer im Allgemeinen und Franzosen und Portugiesen im Besonderen ab – so als sei Französisch nicht Teil der Luxemburger Kultur und die Mehrsprachigkeit ein von Eliten aufgedrücktes Programm.

Die Politiker schwiegen zu den Polemiken weitgehend. Kaum einer ergriff öffentlich Partei gegen die Trolle und stellte klar, dass die Renaissance des Luxemburgischen eine eher junge Erscheinung und Mehrsprachigkeit politisch gewollt ist. Die größte Oppositionspartei hatte entschieden, sowieso auf Angst statt auf Argumente zu setzen. Aber selbst die, die das Referendum verantworteten, schritten kaum ein, um Vorurteile und gröbste Falschinformationen zu korrigieren. Mit dem Ergebnis das alle kennen, über das aber kaum einer mehr zu sprechen wagt. Und jetzt soll das vermurkste Referendum dafür herhalten, dass Luxemburgisch als schulische Integrationssprache per se und für alle aufgewertet und ausgebaut wird? Ist das sinnvoll und kann das überhaupt funktionieren? Zumal die Sprachdidaktik dort noch völlig unterentwickelt ist. Ob Luxemburgisch als Brücke ins Deutsch für alle Kinder mit ihren vielfältigen kulturellen und sprachlichen Hintergründen taugt, ist nicht beantwortet, weil noch gar nicht gründlich untersucht. Romain Martin wies im 100,7-Gespräch im Juni darauf hin, dass Kinder bei Leistungstests in der Spielschule recht gute Luxemburgischkenntnisse hatten. Doch im zweiten Zyklus klafft die Schere auf: 40 Prozent der Schüler erreichen die Mindestanforderungen im Lesen auf Deutsch nicht. „Wir müssen uns eingestehen, dass der Transfer vom Luxemburgischen aufs Deutsche für Ausländerkinder nicht automatisch geschieht“, räumte Martin immerhin ein.

Eine ähnliche Leerstelle gilt auch für die Alternative: Ob portugiesische Kinder in der Schule besser abschneiden, wenn sie das ABC in Französisch lernen, ist nicht sicher und es wäre daher wichtig, hierzu Sprachwissenschaftler zu hören. Einiges spricht dafür: Beide Sprachen sind romanischen Ursprungs, es gibt ähnliche Worte, vielleicht ähnliche Satzstrukturen. Zudem wird in vielen portugiesischen Elternhäusern neben Portugiesisch oft Französisch gesprochen. Französisch ist auch im Alltag omnipräsent: auf der Arbeit, im Fernsehen, in Verwaltungen oder im Supermarkt um die Ecke. Aber reichen diese Rahmenbedingungen aus, um auf Französisch zu alphabetisieren? Was für ein methodisch-didaktischer Unterricht müsste her, damit der Übergang vom Portugiesischen ins Französische am besten klappt? Welche Lehrer haben das Knowhow und welcher Raum bliebe für die Herkunftssprachen? Macht es dann noch Sinn, Luxemburgisch für portugiesische Kinder in Kindergarten und Spielschule anzubieten oder wäre es nicht besser, sie direkt mit Französisch vertraut zu machen? Was kostet das? Oder wäre es womöglich besser, dass Alphabet gleich auf Luxemburgisch zu lernen, wie der Soziologe Fernand Fehlen 2010 im Forum vorschlug?

Fragen über Fragen, die noch immer einer Antwort harren. Es ist schon absurd: Seit Jahren und Jahrzehnten wird über die komplexe Sprachensituation gestritten, dabei ein ums andere Mal betont, wie zentral die Mehrsprachigkeit für die Luxemburger Identität und Gesellschaft sei. Aber bis heute gibt es kaum empirisch gesichertes Wissen darüber, wie sich (welche) Mehrsprachigkeit am besten für alle erreichen ließe. Dies zu analysieren und fundierte Lösungen zu finden, wäre eine Gemeinschaftsaufgabe von Schule und Wissenschaft. Bisher ist jedoch kein überzeugendes Projekt in Sicht. Zwar genießt die Mehrsprachigkeit in der Forschung der Uni Luxemburg allmählich den Stellenwert, der ihr zukommt. Doch wer genau hinschaut, wird erkennen, dass sich die Ansätze, die sich unterm Übergriff Mehrsprachigkeit sammeln, teils stark unterscheiden, wenn nicht widersprechen. Im Bildungsbericht 2015 der Uni Luxemburg war der kleinste gemeinsame Nenner der Forscher, dass die proklamierte Mehrsprachigkeit in der Schule im Grunde keine ist, sondern an Luxemburger Schulen Deutsch und Französisch als Einzelsprachen unterrichtet werden, mit dem Ziel, diese möglichst perfekt zu beherrschen. Und dass Lehrer zu wenig jene Sprachenkompetenzen berücksichtigen, die viele Kinder bereits haben, bevor sie in die Schule gehen.

Was daraus für die sprachliche Förderung vom Kindergarten bis hin zur Uni und insbesondere auch für die Lehreraus- und -weiterbildung folgt, darüber gibt es keinen Konsens. Weder wissenschaftlich, noch politisch. Die DP-LSAP-Grüne-Regierung hat zwar versprochen, das schwierige Feld zu beackern. Und will dafür eine weitere Arbeitsgruppe ins Leben rufen. Zwei Koordinatoren – einen für die Grundschule und einen für die Sekundarstufe – sollen helfen.

Aber für eine Herkulesaufgabe von solcher Tragweite reicht das nicht. Wo bleibt die Taskforce mit renommierten Sprachwissenschaftlern aus dem In- und Ausland (auch Portugal und dem Balkan, warum nicht?) und erfahrenen Praktikern aus der Schule, die sachbezogen und frei von Einflüssen durch Lobbygruppen und Parteien die anspruchsvolle Sprachensituation untersucht und daraufhin Empfehlungen ausarbeitet? Auf der Basis könnten Politik und Zivilgesellschaft die weitere Vorgehensweise beim Sprachenunterricht gut informiert bestimmen. Wohlgemerkt, nicht nur Luxemburger, sondern alle, die in diesem Land aufwachsen und es bereichern.

Ines Kurschat
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