Gemeindesekretäre haben Zeit, sich in Dossiers einzuarbeiten. Für sie gilt der ausgelaugte Aphorismus „Wissen ist Macht“

Der Einflüsterer

Das Examen besteht,  wer seine Abschlussarbeit von 35 Seiten vor einer Examens-kommission erfolgreich verteidigt
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 02.06.2023

„D‘Gemengesekretären: déi heemlech Buergermeeschteren?“ war Mitte Mai ein Beitrag im Radio 100,7 übertitelt. Das Bild des Lenkers, der hinter dem Schöffenrat mit an den Fäden ziehe, wird häufig bemüht. Eine Macht, die besonders in Majorzgemeinden nahezu zwangsläufig aufgrund des Zeitbudgets ihren Weg findet: Während Bürgermeistern eine politische Beurlaubung von wöchentlich neun bis 13 Stunden zusteht und Schöffen sich bis zu sieben Stunden in Gesetzestexte, Budgetfragen und die Infrastrukturpläne von Abwasserleitungen einlesen können, hat ein Gemeindesekretär hierfür 40 Stunden pro Woche Zeit. Zudem ist er nicht auf Zeit gewählt, wie es die politischen Amtsträger sind. Er ist bei den Schöffenrats- und Gemeinderatssitzungen dabei, schreibt das Gesagte auf; durch sein Ohr gehen alle Entscheidungen, Konflikte und Auseinandersetzungen. Seinem Mund aber sollen ungefragt und willkürlich keine Informationen an unbeteiligte Dritte entweichen; hier gilt, was die Etymologie seines Berufsstandes für ihn festhält: Der Begriff „Sekretär“ leitet sich vom lateinischen secretum ab. Im Mittelalter war der Secretarius zur Verschwiegenheit verpflichtet; er war der Hüter der Geheimnisse.

Der Beruf hat allerdings in den letzten Jahrzehnten einen Wandel vollzogen – er ist vor allem anspruchsvoller geworden. „Die Gemeinden sind gewachsen, die kulturellen und sozialen Angebote wurden ausgeweitet – früher gab es keine Maison Relais –, und die Gesetzestexte, wie beispielsweise im Umweltschutz, sind umfassender geworden“, erklärt Jean-Lou Hildgen, Beamter im Innenministerium. Deshalb wurde der Beruf während der letzten Reform der kommunalen Gesetzgebung auf Bachelor und Masterkandidat/innen erweitert. „Zudem wird für Gemeindesekretäre in B1-Karrieren, also Personen mit Abitur, zunächst eine fünfjährige Vorerfahrung als Redakteur verlangt. Wir haben jedoch festgestellt, dass viele Redakteure vor der Verantwortung zögern, die ein Gemeindesekretär tragen muss und sich deshalb nicht für diesen Posten melden“, so Hildgen. Ein weiterer Grund, weshalb der Beruf zugänglicher gestaltet wurde.

Derzeit sind neun Personen für die Weiterbildung zum Gemeindesekretär eingeschrieben. Häufig finden die Kurse in der Gemeinde Bartringen statt und werden von sechs Sekretären mit langjähriger Erfahrung geleitet, unter ihnen Nadine Braconnier, Gemeindesekretärin in Kayl. Ihr Ehemann ist Michel Wolter, der von 1995 bis 2004 Innenminister, Minister des öffentlichen Dienstes und der administrativen Reform war und derzeit Bürgermeister von Käerjeng ist. 60 Stunden verbringen die zukünftigen Führungsköpfe damit, das Gemeindegesetz und den Aufbau des Budgets zu pauken sowie sich im Schreiben von Gutachten und Berichten zu üben. Das Examen besteht, wer seine Abschlussarbeit von 35 Seiten vor einer Examenskommission erfolgreich verteidigt. Die Themen sind frei wählbar: Die Kandidatin kann über die Unterschiede zwischen Majorz- und Proporzgemeinden nachdenken, über Personalfragen oder juristische Kniffeleien. Das Einstiegsgehalt fällt dabei nicht zu knapp aus, es liegt bei minimum 6 900 Euro Brutto. Im Gemeindegesetz von Dezember 1988 steht der prosaische Satz: „Il y a dans chaque commune un secrétaire.“ Allerdings sind derzeit unter den 102 Gemeinden fünf Sekretärposten provisorisch von Personen besetzt, die die Ausbildung (noch) nicht absolviert haben.

Dass der Beruf in der Mitte der 20. Jahrhunderts ein anderer war, davon kann Goerges Kiessel berichten. Er war von 1976 bis 2018 Gemeindesekretär; drei Bürgermeister hat er durch ihre Amtsperioden begleitet. In den Anfangsjahren hat er jede Steuerkarte einzeln auf seiner IBM-Schreibmaschine eingetippt. Fragt man ihn nach einer größeren Veränderung in seinem Berufsleben, antwortet er: „Das mag banal klingen, aber die Einführung von Faxgeräten in den 1980-er-Jahren ermöglichte es, Gutachten und Stellungnahmen innerhalb einer Minute hin und her zu schicken, statt drei Tage auf einen Postumschlag zu warten.“ Zunächst arbeiteten sie im Büro der Gemeinde Wellenstein nur zu zweit, dann fusionierte die Gemeinde 2012 mit Bürmeringen und Remerschen. „Plötzlich waren wir ein Team von zwölf Personen und konnten uns die Aufgaben aufteilen. Fuhr jemand in den Urlaub oder war krank, stapelten sich nicht gleich die Dossiers“, fasst Kiessel die Vorteile einer Fusion zusammen.

Ein ehemaliges Gemeinderatsmitglied einer Majorzgemeinde im Nordbezirk meint, gerade bei den Aushandlungen des „außerordentlichen Budgets“, wenn die Renovierung einer Straße oder Kirche ansteht, wirke das Wissen und somit die Steuerungsmöglichkeit der Gemeindesekretärin rein. „Dabei wird ihr Spielraum zugleich von den Kenntnissen der Ratsmitglieder bedingt. Haben diese sich nicht eingelesen oder das Budget überprüft, vertrauen sie den Schlussfolgerungen der Sekretärin blind.“ In Gemeinden, in denen ein Bürgermeister zugleich Abgeordneter ist, wie in der Nordgemeinde des Gesprächspartners, ist das Oberhaupt zumeist paragrafenfester als der Sekretär.

Mit der Ausarbeitung und Änderung des allgemeinen Bebauungsplans (PAG) ist laut Gesetz vor allem der Schöffenrat in Zusammenarbeit mit einem Beraterbüro befasst. Es geht dabei darum, unterschiedliche Zonen auf dem Gemeindegebiet festzulegen, in denen bestimmte Bebauungsmöglichkeiten erlaubt oder eben untersagt werden. Obwohl der Gemeindesekretär kein Mandat zur Ausführung des PAG hat, kommt ihm allerdings eine zentrale Vermittlerrolle zu, wie eine ehemalige Schöffin einer Majorzgemeinde erwähnt: „Er legt die Termine fest, telefoniert mit der Architektin, den Ingenieuren und den Personen, die Machbarkeitsstudien durchführen, und so wie er verschiedene Informationen weitergibt, kann er dem Prozess eine leicht andere Nase verleihen.“ Dass sie Abläufe beeinflussen, meint auch das ehemalige Ratsmitglied. Er zeichnet sie als diskrete aber wirkmächtige Einflüsterer: „Wenn die Sekretärin empfiehlt, für eine bestimmte PAG-Änderung den Rat der Denkmalschutzbehörde anzufragen, kann dies ein Bauprojekt in eine völlig neue Richtung lenken.“

Für den ehemaligen Gemeindesekretär aus Eschweiler und derzeitigen Leiter des Gemeindesyndikats Nordstad, Pierre Grisius, geht mit dem Posten durchaus eine politische Beratungstätigkeit einher: „In Sitzungen zählt der Rat des Sekretärs, er ist darin geübt, einzuschätzen, wie ein bestimmter Fall zu handhaben ist.“ Er sei aber auch ein Schiedsrichter oder eine Art Bindeglied zwischen der Gesellschaft und den politischen Amtsträgern. Gemeinden zeigten sich vermehrt offen und dialogbereit; es komme zu vielen Nachfragen und Interaktionen mit den Gemeindeeinwohnern. Vor allem wenn eine Reform des PAG ansteht: Politikerinnen haben ihre Vorstellungen und die Bürger die ihren – Letztere legen bei Meinungsverschiedenheiten Rechtsbeschwerden ein. „Hier muss der Sekretär aufpassen, dass es zu keinem Stillstand kommt und die Konflikte gelöst werden – notfalls juristisch.“ Insofern mangele es dem Beruf nicht an Herausforderungen. Der Sekretär sollte zudem auf demographische Entwicklungen hinweisen: „Beherbergt die Schule, die heute geplant wird, morgen noch ausreichend Klassensäle?“, so Pierre Grisius, der ebenfalls als Gemeindesekretär-Ausbilder fungiert.

Wer sich in die Texte der Bürgerinitiative „Energie mat Verstand – Keng Wandmillen viru Bierden“ einliest, darf vermuten, dass die Debatten in der Nordstad nicht immer sachlich ablaufen. Die Bürgerinitiative verlinkt Dokumente, die eine angriffsbereite Wortwahl auffahren: Sie spricht von „Windmonstern“ und einer „optischen Bedrängung“, die „gefährlichen Infraschall“ und störende bis hin zu krankmachende Schatten produziere. Sie sieht sich als Opfer einer grünen Energiewende, die in eine Sackgasse führe. Dem Gemeindepersonal, das hier zwischen der Bürgerinitiative und dem politischen Willen, erneuerbare Energien vor Ort zu generieren, als Mediator wirken muss, wünscht man Ausdauer. Viele neue Idee fließen allerdings durch die Vereine in die Kommunalpolitik ein, wie in Schieren, wo das Boulodrome vor Kurzem eröffnet wurde.

„Dat Schlëmmst, wat engem Gemengesekretär ka geschéien, ass ee Mësstrauensvotum“, behauptet seinerseits ein Sekretär aus einer Majorzgemeinde. Ihm seien bereits zwei Verfahren dieser Art in seiner zehnjährigen Karriere untergekommen. „Am Anfang wusste ich gar nicht, was zu tun ist, wie die Prozeduren ablaufen müssen, und wie die Gesetze im Detail zu interpretieren sind. Zum Glück konnte ich einen Kollegen ausfindig machen, der durch den gleichen Schlamassel musste“, erinnert er sich. Man sitze zwischen allen Stühlen, die Opposition verdächtigte ihn, Partei für das Schöffenrat ergriffen zu haben und umgekehrt. Zudem müssten laut Gesetz die Geschäfte weiterlaufen, aber wegen dem internen Streit waren Budgetfragen blockiert. „Die Unternehmen wollen ihr Geld und die Architekten wollen wissen, wann ein bestimmter Bau ausgeführt werden soll, doch einem sind die Hände gebunden. Man verbringt seine Zeit damit, unterschiedliche Parteien zu beschwichtigen. Stress pur“, führt er aus. Auf die Nachfrage, was derzeit den Nachwuchs beschäftige, berichtet Jean-Lou Hildgen, dass in den Kursen Koordinationsaufgaben häufig besprochen werden. „Der Techniker-Dienst, das Personal, das Schöffenkollegium, die Rätinnen – zwischen all diesen Akteuren muss der Sekretär eine möglichst harmonische Zusammenarbeit gewährleisten. Und gegenüber den unterschiedlichen Beteiligten hat der Sekretär eine unparteiische Informationspflicht. Das ist seine Aufgabe.“

Stéphanie Majerus
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