Europa

Crises? What crises?

d'Lëtzebuerger Land vom 19.05.2011

Portugal gerettet, Griechenland gerüffelt. Der Euro bei 1,423 Dollar. Selbst Griechenland verzeichnet ein Miniwachstum. Spanien aus der Schusszone. Belgien und Italien. Frankreich sowieso. Auch Sarkozy. Deutschland boomt und ist mit 27 Prozent an der Euro-Rettung beteiligt. Die Europäische Union hat drei neue Aufsichtsbehörden auf den Weg gebracht, die den Finanzmarkt überwachen. Rat und Parlament beschließen einen Wachstums- und Stabilitätspakt, der die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der EU-Mitgliedstaaten unter stärkere Gemeinschaftsaufsicht stellt. Die Keimzelle einer europäischen Wirtschaftsregierung ist beschlossen. Es geht voran.

Trotzdem macht sich miese Stimmung breit. In Deutschland, wo manche nicht für den Euro, vor allem aber nicht für die Schulden anderer zahlen wollen. In Italien, wo man sich mit zehntausenden tunesischen Flüchtlingen allein gelassen fühlt. In Frankreich, wo von Staats wegen gegen Roma und andere Ausländer Stimmung gemacht wird. In Dänemark, das Schengen aushebeln will, und in Griechenland, weil sie dort kein Licht am Ende des Tunnels sehen. Europa steckt in der Krise. Nachdem die Finanzkrise zuerst auf die Realwirtschaft und dann auf die nationale Politik durchgeschlagen hat, ist die Welle jetzt auf der europäischen Ebene angelangt. Was müssen uns goldene Zeiten bevorstehen, wenn wir auch noch die letzte Hürde so entschlossen und kraftvoll nehmen wie alle vorherigen?

Die miese Stimmung gründet auf einem verbreiteten Unbehagen. Der bekannte deutsche Essayist Hans Magnus Enzensberger hat in diesem Jahr bei Suhrkamp ein schmales Bändchen herausgegeben, das er Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas nennt. Er antwortet einem Gesprächspartner aus der Kommission beim Ossobuco auf die Frage: „Kann es sein, dass Sie unter einem gewissen antiinstitutionellen Affekt leiden?“ mit dem Satz: „Das ist möglich. Aber an einer Therapie, um dieses Gefühl loszuwerden, liegt mir offen gestanden wenig.“

Enzensberger möchte die Europäische Union, so wörtlich, einer Diät unterziehen. Es sieht sie als die große Vereinheitlicherin, die allein deshalb ein Feind ist, ja sein muss. Sein muss, weil Europa selbst schon viel weiter ist. Real. Für ihn existiert ein Europa der Bürger. Man müsse sich nur einmal vorstellen, welche Verbindungen sich in den Speichern der Mobiltelefone verbergen: „Der eine weiß jedenfalls, wie er den polnischen Stukkateur erreicht, der andere versteckt die Nummer seiner Geliebten aus Amsterdam hinter einem einfachen A, der dritte kennt den Portier eines kleinen Hotels im dänischen Odense. Es wimmelt, laut Enzensberger, über ganz Europa verstreut, von geschiedenen Ehemännern, Sommerhäusern, Geschäftspartnern, Enkeln, Kontonummern, Lehrern und Schülern, Websites, Münzsammlern, Winzern, Putzfrauen, Zahnärzten und Schwarz­arbeitern….

Europa ist real für seine Bürger beim Euro und beim Reisen. Ansonsten könnte es seinen Bürgern am liebsten gestohlen bleiben. Trotzdem sind im Herbst 2010 23 Prozent der Europäer der Meinung, dass die EU am besten in der Lage ist, wirksame Maßnahmen gegen die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise zu ergreifen. Das sind zwar drei Prozent weniger als noch 2009, aber immer noch drei Prozent mehr als die 20 Prozent, die die Nationalstaaten für sich reklamieren können. Ob die Bürger allerdings mit den wirtschaftspolitischen Entscheidungen der EU einverstanden sind, danach werden sie nicht gefragt.

Europa versagt in Libyen, weil sich Deutschland verweigert. Es versagt bei Schengen, weil sich Italien und Frankreich zusammenschließen. Es versagt in der allgemeinen Außenpolitik, weil es Catherine Ashton nicht gelingt, der EU ein Gesicht zu verleihen. Es versagt im tiefen Schweigen der osteuropäischen Länder, die außer Ungarn und gelegentlich Polen nichts von sich hören lassen. Es versagt in seinen Bürgern, die sich das eigene Haus schön trinken, damit sie die Welt draußen nicht sehen müssen.

Was, möchte man den wahren Finnen fragen, der nach gewonnener Wahl die Regierungsbeteiligung verweigert, weil er dann den Portugiesen helfen müsste, was ist das wahre Europa? Gäbe es Europa ohne die Europäische Union? Wenn ja, was für eines? In den Nummernspeichern der Europäer werden auch Schweizer, Norweger, Kroaten und Serben gespeichert sein. Braucht der Bürger also die Europäische Union oder braucht er sie nicht? Wenn ja, wofür?

Am dringendsten brauchen die Nationalstaaten die EU. Deshalb haben sie sie ja auch einst gegründet. Nur scheint es so, als hätten das gerade sie völlig vergessen. Oder ausgeblendet. Vielleicht leiden sie unter einer gespaltenen Persönlichkeit? Vielleicht müssten sie mal in eine Gesprächstherapie mit ihrem Volk absolvieren. Frankreich, Deutschland und England möchten gerne Europa regieren. Einzeln sind sie auf der Weltbühne allenfalls noch Mittelmächte. Allein sind sie nicht handlungsfähig in der World League der führenden Nationen. Wollen sie nicht absteigen – und die Europäer mit ihnen –, müssen sie sich einander unterordnen. Das tut weh.

Nach den Nationalstaaten sind es die großen Wirtschaftsakteure, die ihr Geschäft ohne Brüssel nicht so reibungslos betreiben könnten. Das gilt auch für Norwegen, die Schweiz und ein paar andere Länder, die im Windschatten des Gemeinsamen Marktes segeln. Ein Markt, der nebenbei der größte der Welt ist. Arbeitnehmer und Konsument profitieren natürlich auch, aber das ist schwer rüberzubringen, da eine Welt ohne EU in Europa nicht als Vergleichsmodell zur Verfügung steht.

Europas Krise ist eine Krise der Glaubwürdigkeit und der Solidarität. Es ist, trotz verbreiteter mittelmäßiger bis schlechter Umfragewerte, keine Krise der Bürger. Denen geht es vielfach gut und sie wissen um den Anteil Europas an diesem Erfolg. Europa steckt in einer Krise seiner politischen Führung. Obwohl die derzeitigen Staatschefs mehr Zeit miteinander in Brüssel verbringen als jede Politikergeneration vor ihnen, haben sie kein europapolitisches Profil ausgebildet. Nicolas Sarkozy ist Präsident der Franzosen, kein Vordenker der europäischen Integration, der der politischen Klasse seinen Diskurs aufzwingt. Das gleiche gilt für die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Beim britischen Premier muss man schon froh sein, wenn er gar nichts zu Europa sagt.

Was ist also das wahre Europa? Das von Enzensberger oder das Europa Großbritanniens, Frankreich und Deutschlands? Das der Europäischen Kommission oder das des Rates? Das des Europäischen Parlaments oder das seiner Bürger? Noch ist die Europäische Union für viele nur ein schlecht sitzender Anzug und weit davon entfernt eine zweite Haut zu sein. Das wahre Europa hat sein Gesicht noch nicht gezeigt. In allen europäischen Staaten wächst das Angebot an populistischen Neinsagern. Der Bürger kann sich zukünftig entscheiden: für oder gegen die Europäische Union. Das gab es in der Vergangenheit so nicht.

Die Leichtigkeit, mit der sich die Kommission bereit gefunden hat, den Schengen-Vertrag neu zu interpretieren und gegebenenfalls zu ergänzen, hat erschreckt. Wie stark ist der Firnis europäischer Integration? Wie schnell könnte sie in ihren sichtbarsten Teilen rückgängig gemacht werden? Die EU steht nicht vor einer existenziellen Krise, aber doch vor einer schweren Bewährungsprobe. Und das in einem Jahr, in dem die letzten Restriktionen gegenüber Osteuropäern fallen und der Beitritt Mittel- und Osteuropas zur EU erst volle Realität wird. Mit Stolz blicken wir zurück auf die Erweiterung von 2004. Es wird höchste Zeit, die Ziele der nächsten zehn Jahre zu bestimmen.

Christoph Nick
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