Wirion, Jacques: Sporen

Glaubens(p)artikel

d'Lëtzebuerger Land du 30.06.2005

Bedenkliches vorweg: Am Ende des biobibliografischen Nachtrags von Sporen gesteht der Land-Lesern als Autor praktischer Philosophie- und philosophischer Praxisfragen bekannte und geschätzte Jacques Wirion, die meisten der in "Op der Lay"-Band Nr. 144 gesammelten "Texte" (weshalb nicht auch hier "Aphorismen" schreiben?), hätten schon in galerie und nos cahiers gestanden. Die Mehrzahl ist in der Tat wert, ein eignes Taschenbuch zu füllen, nur, welche "Texte" hat sich der Autor mittlerweile gespart? Und, wären die vierzig römisch bezifferten Kapitelchen nicht noch zu verschlanken und zu verdichten gewesen?

Besonders Bedenkenswertes ebenfalls vorgeschaltet: Jacques Wirion, 1993 überhaupt erst öffentlich in die Literatur gestartet, hat sich seither als Aphoristiker, wie er in einem Nach- und Vorwort zu Sporen (warum eigentlich nicht "Spuren"?) brillant belegt, nur noch gesteigert. Ihm gelingen wirklich authentische Aphorismen, deshalb stünde Wirion, im Gegensatz zu den sauertöpfischen, weltschmerlichen, menschen- und nicht selten frauenfeindlichen, zu Mehrzeilern aufgedunsenen Stammtischparolen eines älteren Berufskollegen, der Titel eines Luxemburger Meisters im Aphorismus ungleich trefflicher zu Gesicht.

Jacques Wirion legt mit Schreiben und Publizieren so richtig los erst nach seiner Pensionierung als Deutschlehrer an Luxemburger Gymnasien; ganz so, als sei ihm, der stets zu einem schallenden Lachen oder verschmitzten Lächeln aufgelegt ist, Zeitungsschreiberei vorher nicht ernst genug gewesen.

Wirion gibt sich auch nicht wie zahlreiche Aphoristiker damit ab, einzelne Worte, ganze Sätze, bestimmte Sprachformeln und Sinnverkrustungen aufs Korn zu nehmen, sie mehrmals im Kopf oder in der Feder um und um zu wenden, um sie auf ihre Konsistenz zu testen oder überhaupt direkt in ihr Gegenteil zu verkehren, scheinbar mir nichts, dir nichts eine überraschende Pointe herauszuschlagen oder bloß rhetorische Funken zu versprühen. Nein, Jacques Wirion nimmt sein aphoristisches Denk- und Handwerk meistens ernst, die scheinbare Leichtigkeit seiner spirituellen Fundsachen sind die Frucht einer seriösen Überlegensarbeit an der Ferdinand de Saussure zu dankenden Verbindung von Bezeichnendem (signifiant) und Bezeichneten (signifié). So und nur so ist denn auch Wirions Sorge, der uns von den alten Griechen über Vauvenargues und Lichtenberg via Canetti überkommene Aphorismus sei vielleicht schon eine altertümliche, wenn nicht eine ganz und gar unmoderne Literaturgattung.

Es wäre leicht, sich von der Lust an zahllosen, originellen, trefflichen bis brillanten Befunden, die Jacques Wirion in Sporen eingeerntet hat, in endloses Zitieren abzudriften; Paradebeispiele seiner Denkkunst seien dem Beleg zweier ganz bestimmter Beobachtungen vorbehalten - die eine teilt Wirion mit der ganzen Bagage, die andere zeichnet ihn denn doch vor anderen Aphoristikern aus.

Gewiss, auch Roman, Essay und Gedicht reflektieren liebend gern und oft über sich selber. Der Aphorismus aber zeichnet sich u.a. vor allen anderen Literaturgattungen dadurch aus, dass er von sich aus seiner selbst nicht sicher zu sein scheint und dass auch seine Autoren nicht nur den Anschein erwecken, sich ständig vor sich und den Lesern dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie dieser der Sucht nicht fremden Neigung immer wieder und offensichtlich gerne, lustvoll und, ja, auch mit Gewinn verfallen. Nicht weniger als 25 Spruchweisheiten in Sporen sind, oft als Bilanz am Ende der 40 Kapitel, dem Aphorismus gewidmet, und es finden sich darunter Perlen der Gattung à la:

"Der Aphoristiker gibt, als er meint, und weniger, als er verlangt."

"Der Aphoristiker ist ein Liebhaber, kein Ehemann der Sprache."

"DerAphorismus: Eine Promenadenmischung aus Poesie und Philosophie."

"Nur scheinbar kommt der Aphorismus denen entgegen, die keine Zeit haben."

Jacques Wirion heißt sich im biografischen Anhang zwar einen emeritierten Deutschlehrer, er verschweigt dagegen etwas kokett seinen überaus starken Hang zur Philosophie, den er dann aber in seinen gescheiten und für sich lesenswerten Vor- und Nachworten auslebt. Mancher Leser von Sporen dürfte sich freilich fragen, ob sich in Wirion nicht doch ein verhinderter Theologe verpuppt habe, denn sage und schreibe 68 seiner Aphorismen befassen sich mit Glauben, Gott und Religion in all ihren Formen und Verformungen. Wirion ist zwar leicht als moderater Atheist zu erkennen, nur: Steckt nicht selbst im Begriff Atheismus noch eine göttliche, nicht abgöttische Spur? Ein Glück auch, dass in einer Zeit, da sich in diesem Lande die Kirche, der Klerus, die Religion verflüchtigen, sich in leeren Ritualen erschöpfen, da die Geistlichkeit und ihre katechetischen Helfershelfer allenfalls auf des Staates Gehaltslisten aufscheinen, dass sich wenigstens die Atheisten noch um den Glauben scheren und sorgen:

"Im Paradies muss niemand an Gott glauben."

"Um seine Glaubensrisse zu kitten, braucht der Missionar Bekehrte."

"Gott ist tot, es lebe der Glaube!"

"Die Qualität eines Glaubens steigt mit der Zahl der Gläubigen, diejenige eines Denkens mit der der Widerstände."

Um die Lobesbäume für Sporen denn doch nicht in den Himmel wachsen zu lassen, an den er ohnehin nicht glaubt, klinge die Rezension auf eine "Datz" für den Deutschlehrer Wirion und seinen abscheulichen Superlativ im Sinnspruch: "Manche Untat begehen wir mit dem bestesten Gewissen" aus.

Jacques Wirion: Sporen, Aphorismen, Verlag Op der Lay, 9,50 Euro

Michel Raus
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