In einem noch die da gewesenen Umfang finanziert die Œuvre Nationale Grande-Duchesse Charlotte Projekte für Flüchtlinge und Asylsuchende

Zwölf Millionen für das Mateneen

d'Lëtzebuerger Land vom 07.10.2016

Europa kämpft mit sich selbst, wie es mit der Präsenz der zahlreichen „neuen Bürger“ umgehen soll. Nachdem die deutsche Kanzlerin Merkel und anschließend Österreichs Kanzler Faymann die Tür mittels Außerkraftsetzen der Dublin-II-Verordnung geöffnet hatten, entstanden monatelange Verhandlungen, um die restlichen 26 EU-Partner mit ins Boot zu nehmen – doch ohne Erfolg. Mittlerweile haben die Mitgliedstaaten die Route über den Balkan dicht gemacht und es bleibt nur noch die Mittelmeerroute mit den hinlänglich bekannten tödlichen Konsequenzen.

Luxemburg hat 2015 mehr Asylsuchende als in den Jahren zuvor aufgenommen. Doch blieben die Zahlen hinter jenen des Jahres 1999 zurück. Damals handelte es sich hauptsächlich um Personen vom Balkan; heute ist die zahlenmäßig größte Gruppe mit 27,3 Prozent die der Syrer1. Angesichts der Flüchtlingswelle des Jahres 2015 hat die Œuvre Nationale Grande-Duchesse Charlotte (Œuvre) das Programm Mateneen mit zehn Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um diesen Menschen den Beginn ihrer Jahre in Luxemburg zu erleichtern, die aufkommende Willkommenskultur der Bürger und den Elan der Zivilgesellschaft zu unterstützen.

Für die Auswahl der Projekte und Empfehlungen an die Projektträger der mehr als 100 Vorschläge war von der Œuvre eine Jury mit jeweils drei Vertretern öffentlicher Institutionen, Experten und Vertretern der Œuvre selbst ernannt worden. Als Mitglied dieser Jury möchte ich einige meiner persönlichen Beobachtungen der Arbeit der letzten Wochen hier zusammenfassen.

Die stattliche und schließlich noch auf 12,6 Millionen Euro erhöhte Summe erlaubte es uns, viele Projektvorschläge anzunehmen. Dabei konnten wir auf ausdrücklichen Wunsch der Œuvre auch unbekannten, kürzlich gegründeten privaten Vereinigungen (ASBL) mit ihren Projektvorschlägen, darunter solchen, die nicht Mainstream sind, eine Chance geben2. Gerade darin liegt der wesentliche Mehrwert des Programms Mateneen. Erstmals wird es eine Reihe von Angeboten geben, die bisher für Flüchtlinge nicht zur Verfügung standen.

Eine sich konstituierende Ethnopsychiatrie, das Centre éthnopsychiatrique de soins pour migrants (Cesmi), bietet psychotherapeutische Behandlung (Familien-, Gruppen- und Einzeltherapien) in Zusammenarbeit mit den psychiatrischen Abteilungen der luxemburgischen Kliniken und Experten aus Paris und Montréal an. Auch langfristige Behandlungen können ohne das weiter unten geschilderte Bon-System in Anspruch genommen werden. Zusätzlich gibt es einen Übersetzungsdienst der Ligue luxembourgeoise d’hygiène mentale, der ebenso wie die Therapien des Cesmi – dank der Finanzierung durch die Œuvre – unabhängig von Genehmigungsprozeduren zur Verfügung steht. Schaut man nach Deutschland, sieht man, wie sehr  Asylsuchende dort immer noch auf ein reduziertes Gesundheitsangebot angewiesen sind: nur Notfälle werden behandelt (cf. Der Freitag, 21.06.2016).

Dieses neue psychiatrische Angebot sagt noch nichts über einen vollen, gleichwertigen3 Zugang zu den Gesundheitsleistungen in Luxemburg aus.  Hier gilt es, zuerst zwischen dem anerkannten Flüchtling und dem Asylsuchenden zu unterscheiden. Der Flüchtling ist zunächst meist RMG-Bezieher, als solcher pflichtversichert und unterliegt den Bedingungen der Mehrheit der CNS-Versicherten. Damit hat er ein Recht auf die automatische Übernahme der Eigenbeteiligung bei medizinischen Leistungen, falls diese 2,5 Prozent seines Jahreseinkommens überschreitet4. Somit kann er alle Leistungen ohne vorherige Absprache mit einem Amt in Anspruch nehmen. Die für alle Versicherten zutreffenden Kassentarife werden angewandt; mit den allgemein bekannten Einschränkungen für Zahnprothesen, Brillen und so weiter.

Anders ist es bei Asylsuchenden, die über das Office luxembourgeois de l’accueil et de l’intégration (Olai) freiwillig versichert sind. Für sie gibt es keine automatische Übernahme der Eigenbeteiligung durch die CNS. In der großherzoglichen Verordnung über die Sozialhilfe für Asylsuchende ist realistisch von „medizinischer Grundversorgung “ die Rede.  Der Kandidat erhält – ebenfalls laut dieser Verordnung – eine monatliche Zuwendung von 25 Euro, sein „Einkommen“, beziehungsweise sein Taschengeld. Weil damit die Eigenbeteiligung für medizinische Dienste kaum selbst übernommen werden kann, verteilt das Olai auf Anfrage einen Bon von circa 150 Euro, mit dem der Patient seine Arztrechnung bezahlen kann, von der CNS die Rückerstattung erhält und damit die Eigenbeteiligung decken kann; theoretisch ist er damit für ein paar Visiten beim Arzt liquide.

Wer das Bon-System nicht verstanden hat – und das passiert häufig –, riskiert, dieses Geld für andere Dinge auszugeben und bestraft sich damit selbst. Die Prozeduren der Sozialversicherung gehören zu den kompliziertesten in einem Staat, und selbst die wenigsten Luxemburger verstehen sie. Akuter Bedarf, wie nach Unfällen, wird ohne vorherige Genehmigung, sprich ohne Bon, finanziert. De facto finanziert das Olai viele Therapien großzügig. Es gibt jedoch diverse Bereiche wie Zahnmedizin, programmierte Operationen wie zum Beispiel psychiatrische Behandlungen und Langzeittherapien, für die der Patient wegen der Eigenbeteiligung eine vorherige Genehmigung, respektive einen Bon des Olai braucht.  Damit behält das Olai – durchaus verständlich, denn es zahlt! – den Überblick und die Kontrolle. Anfragen für solche Behandlungen können gestellt werden, doch die Antwort lässt oft lange auf sich warten. Von gleichwertigem Zugang kann kaum die Rede sein.

Daneben haben sich Hilfsangebote von Betroffenen, wenn auch nicht direkt Betroffenen, von kleinen Gruppen verschiedenster Provenienz entwickelt: Einige Ägypter, die vor vielen Jahren hier als qualifizierte Ausländer ankamen, wollen als Dank an Luxemburg für ihre damalige Aufnahme den unlängst angekommenen Flüchtlingen aus dem Nahen Osten beistehen. Da wir mit unserer ethnozentrischen Brille Mühe hatten, anders geartete „Sozialarbeit“, die sich selbst ja gar nicht so nennen würde, als solche zu entdecken, hielten wir ein Andocken an hiesige Methoden zur Sicherheit für nötig.

Ein anderes Beispiel ist eine arabischsprachige Nachrichtensendung auf Radio Ara, die von jungen, bereits anerkannten Flüchtlingen seit ein paar Wochen angeboten wird. Zahlreiche Initiativen bieten Coaching an. Darunter auch solche, die nicht aus dem ASBL-Sektor kommen, sondern eine kommerziellen Erfahrung besitzen und vor diesem Hintergrund ein qualitativ anderes Angebot machen.

Mehrere Initiativen bieten Gartenbau und Bio-Gemüse- und Obstkultur im städtischen Raum an. Eines der Projekte bezieht sich auf das Transition-Konzept; dabei geht es um eine sorgfältige, vorsichtige Nutzung des öffentlichen Raumes mit bereits vorhandenem und nicht umweltschädlichem Material: Wer den Film Demain gesehen hat, kann sich darunter etwas vorstellen.

Alternativ zu den existierenden konventionierten Projekten wird es nun auch ein Atelier für kreatives Schreiben, die Produktion von Filmen, sowie eine Mode-Boutique geben, die Frauen für ihr Einstellungsgespräch entsprechend dem Motto „Kleider machen Leute“ einkleiden will. Ein ganzheitlich aufgebautes Projekt soll Jugendliche von Gewalt fernhalten; Taekwondo und andere körperliche Aktivitäten werden verbunden mit einer Unterstützung für religiöse Toleranz und dem Entdecken Luxemburgs. Dieses Projekt wird besonders in den angebotsärmeren Schulferien laufen. Die Expertise dafür kommt unentgeltlich aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz.

Wohnen ist und bleibt ein vorrangiges Problem für Flüchtlinge, wie für Bürger mit geringem Einkommen: Dabei muss zwischen Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen unterschieden werden. Für Personen, die das RMG beziehen, Flüchtlinge und andere Menschen, finanziert die Œuvre ein Projekt, das sich als Brücke zwischen den Generatio-nen versteht: gratis Wohnen gegen Hilfe im Alltag für einen älteren Bürger.

Wie sieht es, allgemeiner gesprochen, mit dem Wohnen der Asylsuchenden aus? Die meisten sind in Heimen untergebracht. Will ein Bürger einen Asylsuchenden bei sich aufnehmen, tut er das auf eigene Kosten. Der Staat trägt auch nicht zur Deckung der höheren Energiekosten bei. Der Antragsteller erhält lediglich (neben seiner monatlichen Zuwendung von 25 Euro) noch 225 Euro anstelle der „Bereitstellung der Mahlzeiten“5.

Sobald der Asylsuchende seine Anerkennung erhält, kann er das RMG beziehen. Dann wird die Aufnahme in einen privaten Haushalt noch schwieriger: Das RMG bekommt nur, wer in einer „Haushaltsgemeinschaft“ lebt, deren Einkünfte unter den RMG-Sätzen liegen. Kriterien dafür sind die Zusammensetzung des Haushalts und dessen gesamtes Einkommen. Mit der Aufnahme in einen besser gestellten Haushalt verfallen die Rechte eines Bürgers ohne Einkommen auf RMG. Lediglich eine gesetzlich nicht definierte Ausnahme gibt es: die „Aufnahme aus Mitleid“. Sie kann vom nationalen Solidaritätsfonds auf Anfrage genehmigt werden, aber Kriterien gibt es keine. Derzeit wohnen 100 Asylsuchende bei hiesigen Familien; meist handelt es sich um Verwandte oder gute Freunde6. Die Rückerstattung von zusätzlichen Kosten des Beherbergenden wäre ein Akt der Anerkennung ziviler Solidarität und ein Anreiz für weitere Integration – doch will man diese wirklich?

Ein noch nicht gelöstes Problem stellt sich jungen Menschen, die vor dem Alter von 25 Jahren ihr Flüchtlingsstatut erhalten und studieren möchten: RMG und Studium schließen sich aus. Studierende Flüchtlinge beziehen ein Stipendium vom Cedies wie jeder andere hier angemeldete Student, das in bescheidener Form die Lebenshaltungskosten decken kann. Jedoch bleibt das Problem „Wohnen“. Verständlicherweise hegen alle Flüchtlinge den Wunsch, aus der kontrollierten7 in eine normale Umgebung umziehen zu können. Aber wo wohnen sie, wenn sie gar kein Einkommen haben? Zu diesem Thema gibt es bisher keinen Vorschlag seitens der Regierung. Die Universität hat teilweise Lösungen gefunden, doch auch diese sind noch nicht finanziert. Alle unter der Hand verhandelten Lösungen bleiben letztendlich individuelle Maßnahmen; ein Recht auf irgendeine Leistung hat niemand.

Im Gegensatz zu dem vom nationalen Spracheninstitut angebotenen Französisch-Intensivkurs für Flüchtlinge mit sechs Stunden pro Woche finanzierte die Œuvre während der Sommerferien 2016 einen Französisch-Kurs mit 35 Stunden Unterricht pro Woche für künftige Studenten, das heißt für Schüler mit Abitur, angehende Studenten, die in ihrem Herkunftsland einen Bachelor-Abschluss erworben hatten, und für derzeitige Gasthörer der Universität Luxemburg. Dieser Sprachkurs zeigt den Mangel an bezahlbaren Intensivkursen sowie das Ausmaß an Willen und Fähigkeiten der Studenten: 25 von 50 Kandidaten hatten die Chance teilzunehmen, und alle 25 schlossen den Kurs ab.

Des weiteren finanziert die Œuvre drei zusätzliche „Brücken-Klassen“ eines lang erprobten Französisch-Intensivkurses (35 Stunden pro Woche). Dieses pädagogische Modell führt junge Menschen zu den begehrten offiziellen Sprachniveau-Abschlüssen (zum Beispiel zum Niveau B2 für den Zugang zur Universität), und zwar mit hohen Erfolgsraten. Mehrmals schon hat das Bildungsministerium dieses Projekt besucht und Interesse gezeigt, bestimmte Elemente in seine eigenen Classes d’accueil zu übernehmen.

Die Mehrzahl der von der Jury angenommenen Projekte würde ohne die an allen Stellen genannte freiwillige Mitarbeit nicht funktionieren. Hin und wieder blieb der Eindruck, dass es sich eher um Self-employment als um Hilfe für Flüchtlinge handelte. Die Flüchtlinge, respektive die Asylsuchenden, sind meist Betroffene, die an einer Maßnahmen teilnehmen können, hatten jedoch selten die Chance, selbst als Akteure oder Promoteure eines Projekts aufzutreten8. Wurde genügend daran gedacht, ihnen das Angebot Mateneen zu unterbreiten? Auch sind sie oft als Freiwillige tätig, selbstverständlich unentgeltlich!

Immer wieder hätte man sich auch ein paar materiell positive Effekte für die bescheiden ausgestatteten Asylsuchenden gewünscht, und seien es nur Einkaufsgutscheine. Eine zeitweilige Arbeitsgenehmigung, die im Asylgesetz vom 18. Dezember 2015 vorgesehen ist, wäre ebenfalls wünschenswert gewesen. Eine solche als Arbeitgeber zu erhalten, ist nicht einfach, doch wäre es vielleicht sinnvoll gewesen, das auch als ASBL zu versuchen? Hätte die Umsetzung dann nicht geklappt, wäre es ein quod erat demonstrandum gewesen.

Ohne Zweifel gibt es löbliche Ausnahmen, wie etwa die schon erwähnte arabischsprachige Nachrichtensendung oder das Projekt Connections. Ursache der stark professionellen Ausrichtung mag die eher französische „prise en charge“ sein, wie das im frankophonen Sozialarbeiter-Jargon genannt wird. Das angelsächsische „self-help“ der Betroffenen ist hier weniger vertreten.

Wären die Flüchtlinge nicht hier, gäbe es kein Mat-eneen. Wie schon einige Volkswirte aufzeigten, ist die Flüchtlingswelle kein Nullsummenspiel, schon gar nicht ein Verlustgeschäft. Zunächst einmal produziert eine solche „Welle“ eine Vielzahl neuer Jobs in bestimmten Branchen der Gesellschaft. Das erleben sogar die bisher geografisch und ökonomisch marginalen griechischen Inseln: Die Ankunft der Asylsuchenden sowie die der Helfer führte zwar zu Verlusten im Tourismus, aber auch zu neuen Jobs und Betriebsgründungen, beziehungsweise zu Weiterentwicklungen von Firmen und NGOs. Mit Mat-eneen hat die Œuvre deutlich neue, alternative Ansätze unterstützt und als Beschäftigungsmotor für den Luxemburger Arbeitsmarkt fungiert.

Eine Hürde für alternative Projekte sind Durchführungsbestimmungen, die den neuen Konzepten oft nicht gerecht werden: So hat das in Lothringen erprobte oben genannte Projekt des Zusammenlebens von zwei Generationen (ältere Hausbesitzer und jüngere Personen, die von der Sozialhilfe leben) hierzulande Mühe, sich innerhalb des rechtlichen Rahmens zu bewegen. Zwar kann man kaum erwarten, dass Gesetzestexte im Eilschritt angepasst werden, doch könnten Ausführungsbestimmungen mehr oder weniger rigoros angewandt, sprich die Verwaltungspraxis angepasst werden – so wie das in Kleinstaaten häufig Usus ist.

Mateneen bietet eine große Anzahl beispielhafter Projekte, eine substanzielle Hilfe für die Ankommenden, eine Bereicherung des Zusammenlebens mit den neuen Bürgern und eine Bereicherung unserer eigenen Welt. Die Œuvre hat hiermit in vorbildlicher Weise politische Verantwortung – im ursprünglichen Sinne des Wortes polis – übernommen. Flüchtlinge und Projektträger wissen dieses großzügige Programm zu schätzen. Ein so breites alternatives Angebot hat es für unser gesellschaftliches Zusammenleben, für Asylsuchende und Flüchtlinge, bisher noch nicht gegeben.

1 Jahresbericht 2015 des Außenministeriums, S. 90
Claudia Hartmann
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