Jean-Claude Juncker wird Kommissionspräsident

Wundertüte

d'Lëtzebuerger Land vom 04.07.2014

Kann man sich als Regierungschef von Luxemburg verausgaben? Ist der Mann, der viele Jahre erfolgreich mehr als eine halbe Million Menschen regiert, unzähligen EU-Ministerräten beigewohnt und der Eurogruppe vorgesessen hat, erschöpft? Wovon? Das Gegenteil sollte man erwarten. Juncker müsste sprühen vor Tagendrang. Er ist, in jedem Fall, ein Mann im besten Alter.

Noch nie war ein Kommissionspräsident auf der europäischen Bühne so frei wie Juncker. Er selbst, wird vielfach kolportiert, wollte lieber Ratspräsident werden. Die Staats- und Regierungschefs wollten lieber einen eigenen Kandidaten nominieren. Junckers Spitzenkandidatur war bei der Europäischen Volkspartei nicht unumstritten. Juncker ist dem Europäischen Parlament verpflichtet, aber nur insoweit, als dieses seinen Spitzenkandidaten durchsetzen wollte – wer immer es auch sein mochte. Das einzige, dem Juncker wirklich verpflichtet ist, ist die politische europäische Öffentlichkeit, das heißt die Öffentlichkeit, die europäische Politik aktiv verfolgt, sei es beruflich, sei es aus europäischem Bürgerinteresse. Hätte diese Öffentlichkeit nicht geschlossen hinter der Idee des Spitzenkandidaten gestanden, wäre Juncker nicht zum Kommissionspräsidenten nominiert worden. Sie hat es erst ermöglicht, dass sich das Parlament gegenüber dem Rat durchsetzen konnte. Dieser Öffentlichkeit gegenüber ist Juncker Rechenschaft schuldig.

Es scheint, dass sich der Europäische Rat vor Junckers Initiativen fürchtet. Zum ersten Mal legt er jedenfalls an diesem 16. Juni ein festes Rahmenprogramm für die Arbeit der Kommission vor. Das Imperium schlägt zurück. Oder versucht es jedenfalls. Im Lissabon-Vertrag heißt es lediglich, dass der Europäische Rat die nötigen Impulse für die Entwicklung der Union gibt, ihre generelle politische Richtung bestimmt und ihre Prioritäten festsetzt. Daraus abzuleiten, dass sich die EU-Kommission und ihr Präsident ausschließlich in dem vom Rat abgesteckten Feld bewegen müssen, ist gewagt. Denn es gilt ebenso: Der Rat wird nicht gesetzgeberisch tätig, die Kommission hat allein das Recht, Gesetze vorzulegen. Anschließend gestalten Parlament und Rat den legislativen Prozess gleichberechtigt.

So ein kleines Wort: gleichberechtigt. Darum ging es dem Parlament beim Konzept der Spitzenkandidatur. Diese Schlacht hat es gewonnen, aber es muss die Frage erlaubt sein, in welchem Krieg eigentlich? Juncker verfügt als Luxemburger über keinen starken nationalen Verband in der Kommissionsbürokratie. Er hat weder Frankreich noch Deutschland auf seiner Seite, noch hat er anderswo viel Enthusiasmus hervorgerufen. Im Wahlkampf hat er Gemeinplätze bemüht, aber kein politisches Programm vorgelegt. Allzu schwer macht es ihm der Rat mit dem seinen nicht. Er fordert einstimmig (!) mehr Jobs, gerne mittels einer aufgepeppten Digitalen Agenda, Schutz für alle EU-Bürger, sichere Energie und eine zielgerichtete Klimapolitik, Bewahrung der Freiheitsrechte, mehr legale Zuwanderung bei gleichzeitig robuster Haltung gegen illegale Einwanderung sowie eine gemeinsame Selbstbehauptung in der Welt.

Das kann jeder unterschreiben und dafür wird kaum ein Streit, geschweige denn ein Krieg zwischen Parlament und Rat notwendig sein. Es stellt sich die Frage, ob Juncker über die täglich Politik hinaus, und mag sie auch noch so strategisch daherkommen, noch ein paar Pfeile mehr im Köcher hat. Business as usual auf Zuruf des Rates, das hat José Manuel Barroso zehn Jahre lang geräuschlos gelöst. Juncker muss mehr bringen, wenn er seine Schuld an die europäische Öffentlichkeit zurückzahlen und mehr sein will als eine Fußnote in der europäischen Geschichte. Europas Bürger fordern zuallererst eine gemeinsame europäische Außenpolitik. Ob diese intergouvernemental oder supranational gefasst ist, ist ihnen meist gleichgültig. Die Kommission und das Parlament haben hier fast nichts zu sagen. Als zweites folgen die Migrationspolitik und die Sicherung der Grenzen. Hier bestimmen Parlament und Rat gemeinsam die Regeln, das Konzept der sicheren Drittstaaten kann aber nur der Rat abschaffen oder ändern. Als drittes kann man zum ersten Mal die europäische Sozialpolitik nennen. Es geht um ein europäisches Arbeitslosengeld und die Grundversorgung von Zuwanderern.

Was kann das Europäische Parlament einfordern? Der politischen Agenda des Rates kann es ohne Bauchschmerzen zustimmen. Erst bei der Festlegung auf konkrete Politik wird es kritisch. Hier kommt die Kommission ins Spiel. Ihren Namen trägt sie nicht umsonst. Als neutraler Ausschuss sollte sie die Politik in die Tat umsetzen, die zuvor im Rat, fast immer einstimmig, formuliert worden war. Das Parlament will dies ändern. Aus einem sachlich neutralen Ausschuss soll eine durch eine politische Mehrheit des Parlaments kontrollierte europäische Regierung werden. Das wird nur gelingen, falls die Kommission ihre Gesetzesvorlagen in Zukunft viel enger mit dem Parlament abstimmt, beziehungsweise gewillt ist, vom Parlament vorgelegte Resolu-tionen weitgehend als Gesetzesvorlage zu übernehmen.

Die Kommission kann dies tun. Juncker ist, wie er selbst im Rahmen der Parlamentswahlen in Luxemburg einst erklärte, ein freier Mann. Er muss lediglich eine Mehrheit der Kommissare von seiner Politik überzeugen. Als erster Kommissionspräsident hat er die Mittel in der Hand, eine von der Kommission formulierte Politik gegenüber dem Rat mit Hilfe der europäischen Öffentlichkeit und des Parlaments durchzusetzen. Und wenn nicht diese, dann doch, dass der Rat seine Politik stärker in der Öffentlichkeit verteidigen muss. Gelingt das, hätte Juncker viel erreicht.

Christoph Nick
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