Die Escher Sozialschöffin beklagt mangelnde Solidarität zwischen den Südgemeinden. Nicht wenige werden, wie Esch, von den Sozialisten regiert

Zusammen stärker

d'Lëtzebuerger Land vom 20.04.2012

Es waren ernüchternde Fakten, die die Escher Sozialschöffin Vera Spautz (LSAP) im Februar im Gemeinderat vorlas. 5 825 Übernachtungen im Jahr 2011, das sind fünf Prozent mehr als im Vorjahr, im Escher Nachtasyl Abrisud, das derzeit noch provisorisch in Containern untergebracht ist. Von 211 Personen, die das Übernachtungsangebot im Winter genutzt haben, waren 81 Prozent männlich und 19 Prozent weiblich.

Die Winteraktion ist noch nicht beendet. Vier Betten zusätzlich hatten Sozialarbeiter für die kalten Monate hinzugestellt und „die stehen heute noch da“, so Spautz im Land-Gespräch. Sorgen macht ihr überdies die steigende Anzahl von Frauen, die im Abrisud Unterschlupf suchen. „Den Trend gab es schon im vergangenen Jahr und er dauert nachweislich an“, so Spautz.

Dass das Nachtasyl über detaillierte Zahlen verfügt, verdankt es einem Programm der Europäischen Kommission. Es erfasst auch die Hintergründe für eine Übernachtung. An der Spitze der genannten Ursachen: die Immigration, gefolgt von Problemen daheim, beispielsweise Fami-lienstreitereien. „Vor allem Jugendliche geben Streit zuhause als Grund an, fortzugehen“, weiß Spautz. Weitere Ursachen sind Arbeitslosigkeit und steigende Mietpreise. In der einstigen Arbeiterstadt liegt die Arbeitslosigkeit mit 18 Prozent deutlich über dem Landesdurchschnitt. Die Aussichten der Jugend, eine Arbeit zu finden, sind dort ebenfalls deutlich schlechter. „Mit der Krise hat sich die Situation nicht verbessert“, analysiert Vera Spautz trocken.

Während Staatsbeamte über weitere Gehaltserhöhungen verhandeln, sieht die Realität für Familien mit geringem Einkommen oder mit Sozialhilfe (RMG) ungleich düsterer aus. Hinzu kommen steigende Mietpreise, die für diese Klientel zunehmend unbezahlbar sind. „Mit RMG etwas zu finden, ist schwierig. Viele Vermieter wollen das nicht“, so Spautz. Die Miete für ein Apartment in Esch liegt laut Sozialschöffin inzwischen bei rund 1 000 Euro monatlich.

Von Mieten, die immer mehr Haushalte zu schaffen machen, können auch die Nachbargemeinden ein Lied singen. Zum Beispiel Kayl. „Es ist eine Katastrophe“, sagt Florence Steil vom dortigen Office social. Nicht nur, dass die Mieten weiter anziehen, zum Teil sind Unterkünfte, in denen Familien leben, in einem derart miesen Zustand, „dass einem die Haare zu Berge stehen“, empört sich Steil. Da bleibt der Gemeinde, sofern sie davon erfährt, nur noch, den Vermieter zu verwarnen – mit der Folge, dass die Betroffenen auf der Straße stehen. „Es ist schwierig, für diese Menschen kurzfristig etwas zu finden. Wir suchen zunächst Café-Zimmer, aber wir haben hier in Kayl keine Notunterkunft. Wenn es nicht anders geht, schicken wir sie nach Esch“, sagt Steil freimütig.

Eine Feststellung, die in Esch die Alarmsirenen schrillen lassen dürfte. Von 211 Personen, die das Abrisud nutzen, stammen 28 ursprünglich aus der Stadt Luxemburg – das sind in etwa so viele wie aus Esch selbst (25). Die anderen kommen aus den umliegenden Gemeinden: Differdingen, Kayl, Sassenheim, Rümelingen, aber auch Schifflingen und Monnerich sind dabei. „So viel zum Solidaritätsgedanken der Südgemeinden, egal von welcher Partei sie geführt werden“, so der genervte Kommentar der Escher Schöffin im Februar.

Die mangelnde Solidarität von Gemeindevätern und -müttern bei so-zialen Notfällen ist ein Dauerbrenner, wie nicht zuletzt die verzweifelte Suche des Familienministeriums nach Unterkünften für Asylbewerber gezeigt hat. Wenn Bürgermeister anfangen, psychisch Kranke gegen Asylbewerber oder andere Bevölkerungsgruppen aufzurechnen, wie das der Ettelbrücker Bürgermeister Jean-Paul Schaaf vor einigen Wochen gegenüber RTL Radio tat, so offenbart das einen recht überheblichen und negativen Blick auf Menschen, die Hilfe brauchen, seien es Asylbewerber, Obdachlose oder Einkommensschwache.

Nach der (späten) Drohung von Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV), sollten sich die Gemeinden nicht von selbst bewegen, landesweite Quoten einzuführen, um die Unterbringung der Asylbewerber sicherzustellen, scheint die jahrzehntelange ablehnende Haltung zumindest teils aufzubröckeln. Düdelingen will eine Struktur aufbauen, die 50 Flüchtlingen Platz bieten soll, die Betreuung wird das Rote Kreuz sicherstellen, das Familienministerium die Kosten dafür tragen. Erste Sondierungsgespräche zwischen Regierung und Gemeinde laufen; der Gemeinderat, sagt Bodry, sei informiert und habe „keine grundsätzlichen Einwände“.

Eine Notunterkunft hält der Sozialist für seine Gemeinde jedoch nicht für nötig. Mit der Escher Gemeinde habe er nie über die Problematik gesprochen, so Bodry, der betont: „Wir sind nicht wie Esch.“ Dass auch in Düdelingen bezahlbarer Wohnraum knapp ist, räumt er aber ein. Seine Gemeinde ist als Bauherrin dabei, 30 bezahlbare Wohnungen fertig zu stellen. Ein Bauprojekt mit weiteren 16 Sozialwohnungen soll folgen.

Für Minderjährige ohne Obdach, die in den Nachtasylen keinen Zutritt haben, könnte es bald Alternativen zur sonst üblichen Heimunterbringung geben. Differdingen plant eine Unterkunft, die sich gezielt an junge Menschen richtet, pädagogisch-psychologische Betreuung inklusive. Maximal acht Plätze, sagt Bürgermeister Claude Meisch (DP), sollen entstehen: „Wir sind bereit, als Gemeinde unsere Verantwortung zu übernehmen“.

Dass immer mehr junge Menschen hilfsbedürftig sind, hat auch die Escher Sozialschöffin beobachtet. Streit mit der Familie, keinen Schulabschluss, keine Lehrstelle sind Gründe, warum Jugendliche auf der Straße landen. Weil sie noch keinen Anspruch auf RMG haben, bleibt vielen nichts anders übrig, als bei einem Kumpel unterzuschlüpfen oder beim Office social anzufragen. Esch will ebenfalls Auffangstrukturen für die Jugend schaffen, zunächst jedoch soll das Abrisud vergrößert werden und in ein neues Gebäude ziehen. An der strukturellen Wohnungsnot wird das nichts ändern, aber für die Betroffenen ist das eine existenzielle Verbesserung.

Ganz allmählich scheint das Bewusstsein, mehr für die Schwachen zu unternehmen, auch in anderen Gemeinden zu erwachen. Per Gesetz ist jede Gemeinde verpflichtet, ihren Bürgern in der Not Hilfe anzubieten. Seit Inkrafttreten des Sozialhilfegesetzes am 1. Januar 2011 haben viele Gemeinden ein Sozialamt eingerichtet oder das Personal verstärkt. In Sassenheim etwa war die neu eingestellte Sozialarbeiterin Tamara Gozzi nach eigenen Aussagen zunächst damit beschäftigt, sich ein Bild von der Lage vor Ort zu verschaffen. Verlässliche Sozialstatistiken über die Hilfebedürftigen existierten bislang nicht. „Unsere Probleme sind vielleicht nicht so zahlreich und gravierend wie in Esch“, sagt Gozzi. Aber bei den am häufigsten angefragten Hilfeleistungen ihres Amtes rangiert die Hilfe bei der Wohnungssuche auf Platz zwei, direkt hinter der Teuerungszulage für Heizkosten. Als Antwort auf die Wohnungsnot hat die Gemeinde zwei Häuser gekauft, in denen sie bezahlbare Wohnungen anbieten will.

Dass Obdachlose ohne Zögern nach Esch geschickt werden, sei nicht so, stellt die Sozialarbeiterin zudem richtig: „Wir versuchen als erstes, den Leuten hier zu helfen. Wenn ich frage, ob ich jemanden in Esch unterbringen kann, erhalte ich oft Absagen.“ Weil laut Sozialhilfegesetz nur derjenige Hilfen vom örtlichen Sozialamt erhält, der in der jeweiligen Gemeinde gemeldet ist, muss für andere umständlich eine Unterbringung in einem der beiden Nachtasyle beantragt werden, so Gozzi, die dem Prinzip, „zwei oder drei große Stukturen im Land“ zu haben durchaus etwas abgewinnen kann. Schließlich, gibt sie zu bedenken, seien Esch und die Hauptstadt verkehrstechnisch gut angebunden.

Eine bessere Vernetzung zwischen den Sozialämtern wünscht sich Gozzi. Dann könnten Sozialämter, die einen Notlage nicht lösen können, gezielt Rat und Tat von anderen Diensten in Anspruch nehmen. Im Mai soll deshalb eine Entente der Sozialämter gegründet werden. Im Norden existiert etwas Ähnliches mit dem Sozialnetzwerk Resonord. Vielleicht ist das dann der Startschuss, um regionale Lösungen zu finden für Probleme, die die Gemeindegrenzen überschreiten. Und somit wäre die Verantwortung vielleicht auf mehreren Schultern gerechter verteilt.

Nicht nur die Nachtasyle, auch die so genannte Fixerstube zieht Klientel aus dem ganzen Land an. Inzwischen steht laut Gesundheitsministerium ein Zeitplan für den Bau einer weiteren Infrastruktur in Esch fest. Allerdings prüfen Experten noch, ob sich der Standort architektonisch überhaupt eignet. Ende 2012 würde das Gesundheitsministerium die neue Einrichtung im Süden gerne in Betrieb nehmen. Eine klare Aussage dazu aus Esch steht noch aus.

Ines Kurschat
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