Gints Zilbalodis über seinen Animationsfilm Flow, der kürzlich den Golden Globe gewann und Anwärter auf einen Oscar ist

Keine Angst vorm Wasser

d'Lëtzebuerger Land vom 24.01.2025

D’Land: Herr Zilbalodis, Ihr Film Flow erzählt die ziemlich apokalyptische Geschichte einer Katze, die im Angesicht einer großen Flut auf ein treibendes Boot springt und sich mit anderen Tieren arrangieren muss. Sind Sie religiös – oder warum haben Sie sich für das Motiv einer Sintflut entschieden?

Gints Zilbalodis: Tatsächlich stand die Figur der Katze am Anfang: Die Angst der Katze vor dem Wasser. Ich wusste: Das kann ich ohne Dialoge erzählen. Jeder versteht diese Ausgangslage. Und dann kommt die Flut. Und mit der Flut kommen die anderen Tiere ins Bild, die auf höchst individuelle Weise auf die Bedrohung durch das Wasser reagieren. Und obwohl es auch Tiere gibt, die der Katze nicht wohlgesonnen sind, gibt es in diesem Sinne keine Antagonisten in meinem Film. Die biblische Flut funktionierte wunderbar als Bühnenbild oder Kulisse für die Geschichte einer Katze, die ihre Furcht vor dem Wasser verliert.

Ist Flow ein Film für Kinder?

Ich war vor allem davon besessen, einen Film zu machen, den ich mir selbst gerne anschauen würde. Es gibt so viele Filme, die für Kinder gemacht sind, sich aber eigentlich gar nicht an sie wenden. Fast ist es so, als ob die Macher dieser Filme auf sie herabschauen würden, sie irgendwie bevormunden und ihnen alles vorkauen. Und die armen Eltern werden von ihren Kindern mitgeschleppt und müssen diese Filme dann im Kino ertragen, obwohl es in ihnen nichts gibt, was sie an Erkenntnis für sich selbst mitnehmen könnten.

Haben Sie Kinder?

Nein. Aber auch ohne selbst Vater zu sein, erinnere ich mich doch noch sehr gut an meine Kindheit. An die Bücher, die mich gefesselt haben und an die Filme, die ich geliebt habe. Abenteuergeschichten mit Tieren haben mich immer fasziniert. Meine Eltern haben mir viele Filme gezeigt, auch welche, die vielleicht nicht für Kinder gedacht waren. Vielleicht habe ich damals nicht alles verstanden, aber diese Filme haben mich bewegt und mit Sicherheit inspiriert.

Was für Filme waren das?

Filme von Hitchcock und von Akira Kurosawa und Michael Scorsese, alle möglichen Filme. Insbesondere die Filme von Kurosawa haben es mir angetan. Die sieben Samurai, Ikiru und Zwischen Himmel und Hölle. Sie alle eint, dass sie fantastisch erzählt sind. Es sind Geschichten, die durch die filmische Art und Weise, wie sie erzählt werden, in ihren Bann ziehen. Mich als Europäer beeindruckten vor allem die asiatischen Filme der 1950-er und 1960-er Jahre, die oft sehr langsam erzählt sind, dass man während des Schauens parallel über das Geschehen nachdenken kann. Wie in einer Meditation.

Die Filme, die Sie nennen, sind allesamt keine Animationsfilme. Wann wurde Ihnen klar, dass man alles auch mit einer Animation erzählen kann?

Es waren weniger Zeichentrickfilme, die mich diesbezüglich beeindruckt haben, es sind eher die Produktionsmöglichkeiten, die uns heute die digitale Simulation bietet, die mich begeistern. Als Filmregisseur bin ich an langen Einstellungen interessiert, an langen Kamerafahrten durch Städte oder durch die Natur. Beides gibt es in Flow, da sind einige Szenen bis zu fünf Minuten lang. Das könnte man gar nicht zeichnen oder in Wirklichkeit filmen. Das geht aber, wenn man sich mit der virtuellen Kamera in 3D-Welten bewegt. In der Animation habe ich die Freiheit, nicht nur eine packende Geschichte zu erzählen, sondern ich kann auch die Möglichkeiten einer Kamerafahrt voll ausschöpfen, weil sie sich ohne Einschränkungen bewegen kann, etwa, wenn sie der Katze beim Tauchen unter Wasser folgt.  Ich kann das Licht setzen wie ich will, ich bin an keinen echten Sonnenuntergang gebunden, ich kann den Fokus auf die Narration setzen, weil ich mir keine Gedanken über die Verfügbarkeit von Schauspielern oder natürlichem Licht machen muss.

Sie haben sich mit einer Welt, die in einer apokalyptischen Flut untergeht und langsam verschwindet, ein visuell sehr komplexes und schwieriges Bühnenbild ausgesucht. Kevin Costner ist 1995 krachend mit Waterworld gescheitert. Er ist an der Unberechenbarkeit des Wassers gescheitert.

Da machen Sie ein Fass auf! Eine Welt aus Wasser glaubwürdig darzustellen, gehört vermutlich zu den schwierigsten Aufgaben im Film. Für Flow mussten wir alle möglichen neuen Tools entwickeln. Man muss einerseits die Physikalität des Wassers und die Codierung der KI-gesteuerten Software verstehen, damit die Kamerafahrten „echt“ aussehen, auch wenn sie durch fantastische Landschaften und gerenderte Bilder führen. Die Glaubwürdigkeit der Kamerafahrten war deshalb so wichtig, weil es im Film keinen Dialog gibt. Ich war gezwungen alle anderen Mittel des Kinos zu nutzen, um die Figuren zum Leben zu erwecken – mit den experimentellen Mitteln der Musik, des Tons, der Beleuchtung, dem Schnitt und der Kamera.

Sie sprechen von totalem Kino? Von Kino mit den expliziten Mitteln des Kinos?

Ja, das ist es. Ich bin wirklich am meisten inspiriert von Filmemachern, die die Kamera wirklich benutzen. Wie Ray Liotta und Lorraine Bracco den Supper Club in Goodfellas in einem langen Take durch die Küche betreten … Und ich wollte in Flow in jeder Szene dieses immersive Gefühl erzeugen, dass man sich in einer glaubwürdigen, anderen Welt befindet. Man beobachtet sie nicht aus der Ferne. Im Gegenteil. Wir sind der Katze sehr nahe, weil die Kamera ihr auf Augenhöhe folgt. Wir haben im Film viel mit Weitwinkelobjektiven gearbeitet, die es dem Publikum erlauben, sich im Filmbild umsehen zu können und immer wieder Neues oder zuvor Verborgenes zu entdecken.

Viele der CGI-generierten Szenen in Flow haben eine zutiefst malerische Qualität. Sie erzählen eben nicht mit den Mitteln des Hyperrealismus.

Ich wollte kein hyperreales Bild – der Standard der meisten CGI-Animationen. Als ob man beweisen wollte, dass man im Animationsfilm heute Bilder realer als real zeigen kann. Ich wollte die Illusion einer Realität – mit Bildern, die auch eine abstrakte Ebene aufweisen. Vor allem wollte ich keine hyperrealistischen Tiere zeigen. Ich wollte mich nicht dem Uncanny Valley nähern – damit bezeichnet man die Sollbruchstelle, in der das menschliche Auge oder Hirn sich vom gezeigten Bild abwendet, weil es eben nur fast echt ist, weil es kalt und steril ist und keine Fantasie im Kopf mehr befeuert. Wenn man das Filmbild aber abstrahiert und stilisiert, kann man ausdrucksstärker sein und diese Lücken im realistischen Detail mit der eigenen Vorstellungskraft füllen. 

Mögen Sie dies vielleicht am Beispiel der schwarzen Katze verdeutlichen?

Die Katze ist vor allem eine Silhouette, sie ist schematisch, sie ist ganz eindeutig gezeichnet. Aber für dich als Zuschauer wird die Katze zu deiner Katze, die Lücke im Realismus wird mit eigenen Erinnerungen angefüllt. Ich spreche von einer psychologischen Illusion. Da wir Flow selbst produziert haben, waren wir niemandem Rechenschaft schuldig. Wir konnten kühner und persönlicher erzählen. Das wäre einem Regisseur, der sich in einem Hollywood-Studiosystem bewähren und seinen Produzenten regelmäßig präzise berichten muss, in dieser Weise niemals möglich gewesen. In einem solchen System hat man als Regisseur permanent mit Leuten zu tun, die nicht die Ästhetik im Blick haben, die keine künstlerische Vision zum Leben erwecken wollen. Diese Produzenten wollen im Zweifel lieber die zweite, dritte oder siebte Fortsetzung eines erfolgreichen Films finanzieren, als etwas wirklich Neues auszuprobieren. Wir haben Flow hauptsächlich in Lettland gedreht, wo es keine große Filmindustrie gibt. Das war unser Glück.

Offenbar haben Sie die Industrie nicht benötigt. Ist die KI bereits so anwendbar, dass sie gewissermaßen über Ihre eigenen Produktionsmittel verfügen?

Auf jeden Fall. Es gibt heute so viele Tools und Dinge bereits im iPhone, die es einem theoretisch erlauben, mit der in jedem Haushalt verfügbaren Technologie kinotaugliche Filme zu drehen. Die KI ermöglicht es aber vor allem, verschiedene Ästhetiken auszuprobieren, zu verwerfen oder ihnen einen ganz persönlichen Spin zu geben. Es handelt sich um Werkzeuge, die mit einem in den kreativen Dialog treten können. Ich blicke daher sehr zuversichtlich auf die Zukunft der unabhängigen Animation.

Ihr Film hat ein offenes Ende – vorausgesetzt, man verlässt den Kinosaal nicht bereits während des Abspanns. Man muss buchstäblich bis ganz zum Schluss bleiben.

Aber auch das ist totales Kino. Ich weiß natürlich, dass es Zuschauer gibt, die das Kino zu früh verlassen – bevor der Film wirklich zu Ende ist. Aber zugleich will ich niemanden erziehen. Aber jene werden belohnt, die bis zum Ende ausharren. Und das ist ein meines Erachtens viel zu selten genutztes Ausdrucksmittel des Kinos. Die Schlussszene nach dem Abspann ist deshalb ein so kraftvolles Ausdrucksmittel, weil es mit einfachsten Mitteln erlaubt, mehrere Interpretationen zu bedienen. Ein offenes Ende setzt so viel mehr im Zuschauer in Gang als ein Happy End. Und achten Sie, sollten Sie Flow noch einmal anschauen, auf die Hunde, von denen ja mehrere im Film auftauchen. Sie sind in einer Art Endlosschleife gefangen, in der sie auf ewig einem Kaninchen hinterherjagen, statt zu begreifen, was um sie herum geschieht.

Max Dax
© 2025 d’Lëtzebuerger Land