Die Blicke der Museumswärter huschen von einer Saalecke zur anderen. Wachsam folgen sie den Bewegungen der Arme, Beine und Hintern, die nur wenige Zentimeter leerer Raum von ihren Schützlingen trennen. Sreten Stojanovićs 1930-er Bronzeskulptur von Balletttänzerin Nataša Bošković ebenso wie Kostar Hakmans Gemälde U Ateljeu (Im Atelier), zu denen Besucher in der Regel würdigen Abstand halten, sind heute in der Schusslinie. Mit sanften Berührungen drücken die Aufpasser die zur Bewegung aufgeforderten Körperteile von den Gemälden weg. Im Saal findet ein Workshop statt, bei dem die Besucher sich den Raum erobern sollen. Es ist der erste Teil einer Performance, die wiederum der erste Teil des interdisziplinären Projektes Choreochroma ist. Die Besucher sollen mitmachen, selbst ausprobieren, bevor die jungen Tänzerinnen das eigentliche Resultat der vergangenen Woche präsentieren. Die luxemburgischen Projektpartner Giovanni Zazzera und Rhiannon Morgan vom Luxembourg Collective of Dance (Lucoda) leiten den Workshop. Die Woche zuvor haben sie mit jungen Tänzerinnen aus Novi Sad und dem Museum Pavle-Beljanski-Gedächtnissammlung eine gemeinsame Sprache entwickelt, die heute Zuschauern präsentiert wird. Sechs Tänzerinnen räkeln sich zu Klaviertönen auf dem Boden, kommen zusammen und gehen auseinander, in fließenden Bewegungen. In Körper und Mimik spiegeln sie die Gefühle der Protagonisten in den Gemälden hinter ihnen an der Wand – Verzweiflung, Angst, Ruhe.
Die Teilnehmerinnen sind zwischen 16 und 19 Jahre alt, tanzen seit ihrer Kindheit, in der Ballettschule und im einzigen Verein für zeitgenössischen Tanz in Novi Sad. Im Workshop haben sie entdeckt, wie sich visuelle Kunst in Tanz übersetzen lässt, gemeinsam mit den Choreographen von Lucoda und der visuellen Künstlerin Chantal Maquet, ebenfalls aus Luxemburg. Das Projekt Choreochroma ist aus der Kooperation zwischen den beiden diesjährigen Kulturhauptstädten Esch/Alzette und Novi Sad geboren. Für Giovanni Zazzera und Rhiannon Morgan von Lucoda sind Performance und Workshop Teil einer Recherche, die im Juli in einer weiteren Performance in Luxemburg mündet. Für die jugendlichen Tänzerinnen ist es eine Gelegenheit, etwas Neues auszuprobieren. Für die Pavle-Beljanski-Gedächtnissammlung ist es vor allem Werbung. „Wir wollen junge Leute ins Museum bringen, ihnen zeigen, dass es ein Ort ist, der ihnen gehört. Sie sollen sich hier wie zu Hause fühlen“, sagt Jasmina Jakšić Subić. Sie ist Projektleiterin von Seiten des Museums, hat eine raue Stimme, ist Mitte 50, wie alle Mitarbeiter des Museums. Die Pavle-Beljanski-Gedächtnissammlung ist eines der zwei öffentlichen Museen für visuelle Kunst in Novi Sad, deren beider Dauerausstellung Werken serbischer und jugoslawischer Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts gewidmet ist. Die Sammlung wurde 1961 gestiftet von Diplomat und Kunstliebhaber Pavle Beljanski und wirkt, als hinge sie seitdem unverändert and den Wänden. Klassisch angelegt, zeigen mehrere Säle Gemälde und Skulpturen. Jasminas Lieblingssaal ist ein kleiner fensterloser Raum mit original-Möbeln und Gemälden aus Pavle Beljanskis Wohnhaus. Hier setzt sie sich gern auf den Teppichboden und betrachtet die Stücke. Die Beine ausgestreckt überkreuzt, auf die Hand hinter dem Rücken gestützt, versetzt sie sich in die Lebenswelt von Pavle Beljanski um die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Jasmina versteht zwar, dass viele ihre Vorliebe für die serbische Kunst der Zwischenkriegszeit nicht teilen, doch sie ist überzeugt, dass das nur am fehlenden Zugang liegen kann.
Jugendlichen einen Zugang zur Kultur schaffen, ist eines der großen Ziele von Novi Sads Programm zur Europäischen Kulturhauptstadt. Novi Sad ist die erste Stadt außerhalb der Europäischen Union, die überhaupt diesen Titel trägt – eigentlich im vergangenen Jahr, doch wegen der Pandemie wurde das Titeljahr verschoben. Dieses Jahr steht Novi Sad also gemeinsam mit Esch und dem litauischen Kaunas im Scheinwerferlicht. Die zweitgrößte Stadt Serbiens, im Norden des Landes an der Donau gelegen, ist seit ihrer Gründung geprägt von Migration und Diversität. Zur ersten Flagship-Ausstellung Migrations in Arts holte die Galerija Matica Srpska – das zweite der beiden öffentlichen Museen für visuelle Kunst – Paja Jovanovićs Gemälde Die Migration der Serben in das Museum. Auf knapp sechs Meter langer Leinwand hat Jovanović 1896 die Besiedelung der Region Vojvodina dargestellt. 1690 begann diese Migrationswelle vom Süden Serbiens, damals Teil des Osmanischen Reiches, in den Norden, unter der Herrschaft der Habsburger, die in Serbien als Befreier von den Osmanen gelten. Diese Migrationswelle begründete die Region Vojvodina, deren Hauptstadt Novi Sad ist. Unter den Habsburgern entwickelte Novi Sad sich zur größten Siedlung von Serben. Die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie ließ den Großteil des heutigen Stadtkerns errichten, zweistöckige Häuser mit bunten Fassaden, die das Stadtbild bestimmen, die größte Kirche der Stadt, eine katholische, die noch heute der ungarischen Minderheit für Gottesdienste und Gebet dient. Mit den Habsburgern begann auch Novi Sads Aufstieg zur Kulturstadt. Der Verein für die Volksbildung Matica Srpska, eine der wichtigsten Bildungseinrichtungen, wurde von Budapest nach Novi Sad umgesiedelt. Auch das Nationaltheater befindet sich hier sowie eine renommierte Kunstakademie. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde Novi Sad von Österreich-Ungarn abgekoppelt und verschmolz in das Königreich Serbien, das dann Teil vom Königreich Jugoslawien wurde. Den Charakter als Schmelztiegel der Nationen hält Novi Sad bis heute. Zu den Serben und Ungarn mischten sich Anfang der 1990-er Jahre Menschen aus allen Teilen Jugoslawiens, die vor dem Krieg in der eigenen Region Zuflucht suchten. Vor allem viele Bosnier und Kroaten sind geblieben.
Das Motto der Kulturhauptstadt, 4 New Brigdes (Vier/Für neue Brücken), soll all diese Eigenarten von Novi Sad herausstellen. Die Themenstränge, die darunter vereint sind, befassen sich mit Migration, Diversität und der Anbindung an Europa, die die Stiftung zur Durchführung des Kulturprogramms vor allem in der Jugend sieht. Aleksandra Manojlović koordiniert den Programmzweig Future of Europe. „Das Programm ist auf junges Publikum ausgelegt. Kinder und Jugendliche sollen darin selbst Kultur schaffen, die Zukunft aktiv mitgestalten.“ Die Kulturhauptstadt soll jungen Leuten vor allem Gelegenheiten schaffen. „Der Hauptnutzen, den sie aus dem Kulturjahr ziehen, sind Kontakte. Sie lernen neue Künstler kennen, die sie vielleicht inspirieren, entdecken neue Themen, die Perspektiven eröffnen. Vielleicht bekommen sie eine Idee davon was sie in der Zukunft machen wollen, ob sie Schauspieler werden oder sich für die lokale Community ihrer Nachbarschaft engagieren. Sie können sich eine aktive Rolle kreieren.“
Welchen Nachhall die Kulturhauptstadt in Novi Sad haben kann, zeigt die vergangene Europäische Jugendhauptstadt. 2019 trug Novi Sad diesen Titel, ein Jahr voller Veranstaltungen für Jugendliche. Die Stiftung, die dafür von der Gemeinde gegründet wurde, arbeitet heute als NGO weiter, verzahnt mit der Gemeinde Novi Sad. Ein dauerhaftes Informationszentrum für Jugendliche wurde eröffnet. „Zum ersten Mal haben wir ein solches Zentrum, wo Jugendliche hingehen können, um sich über ihre Möglichkeiten zu informieren, über Austauschprogramme oder Freiwilligendienste“, sagt Aleksandra Manojlović. In dem Gebäude sind Jugendorganisationen angesiedelt, es gibt Räume für Weiterbildungen und Workshops. Auch hat die Europäische Jugendhauptstadt einen Richtungswechsel im politischen Planen begünstigt. Zwei der acht großen Programmlinien zur Kulturhauptstadt sind allein der Jugend gewidmet. Die Bedürfnisse von Jugendlichen werden mitgedacht. Auch ein jährliches Festival für die Jugend ging daraus hervor.
Das Jugend-Singer-Songwriter-Festival soll eine Brücke schlagen und Musiker zwischen 16 und 26 mit erfolgreichen Musikern vernetzen. Dieses Jahr wurde das Festival als Teil der Kulturhauptstadt vermarktet. Vivien Kurtović hat dabei den dritten Platz belegt mit ihrem Song über eine verbotene Liebe. An dem Text dazu hat sie in den Tagen zuvor gemeinsam mit den Mentoren des Festivals gefeilt. Vivien ist 26, trägt dunklen Lippenstift und einen ausladenden schwarzen Hut. Sie spielt Violine, Klavier und Gitarre, schreibt Musik und singt. Wenn sie ein Video ihrer eigenen Songs auf Instagram hochlädt, erhält sie viel Zuspruch. Dennoch performt sie selten ihre eigenen Lieder auf der Bühne, singt mit ihrem Duo Vivien Coversongs. Denn das, so meint sie, ist es, was die Leute hören wollen. Sie würde gern ihre eigene Platte aufnehmen, doch sie wagt den Schritt zur Vollzeitkünstlerin nicht, studiert Jura, um ihren Lebensunterhalt in Zukunft bestreiten zu können. Das Singer-Songwriter-Festival soll ihr und den anderen Teilnehmern Mut machen, ihre eigenen Gedanken auf der Bühne zu präsentieren – so wie Rapper Marčelo es seit Jahren mit Erfolg tut. Er ist Juror und Mentor beim Jugend-Singer-Songwriter-Festival und gibt am Abend darauf ein Konzert in Novi Sad. Zwischen Soundcheck und Abendessen treffe ich ihn backstage für ein Gespräch. „Das Festival gibt jungen Autoren Gelegenheit, sich selbst auszudrücken und gehört zu werden“, sagt Marčelo. „Ich denke, das ist wichtig für das ganze Land, für Serbien.“ Er sitzt im Kapuzenpulli auf dem Sofa unter der grellen Halogen-Leiste hinter der Bühne, raucht sechs Zigaretten in einer knappen halben Stunde und versteht sich selbst eher als Schriftsteller als als Rapper. Das sehen seine Fans anders. Er ist bekannt für seine Punch Lines, füllt Säle mit seinem Rap über soziale Missstände.
Für das Konzert am Abend hat er Kapuzenpulli gegen Flanellhemd getauscht, auf der Bühne raucht er nur noch halb so viel. Der Saal ist voll, durch die Mengen von Konzertbesuchern drängen sich Kellner mit Tabletts voller Drinks. Den ersten Applaus des Abends erntet der Geiger, der mit hohen Tönen einsetzt, dann auf der Beatwelle weitergetragen wird. Der zweite geht an die Sängerin mit der tiefen Stimme. Erst dann tritt Marčelo selbst auf die Bühne, rappt die erste Passage und wartet auf den vierten Applaus. Der Sound im Dom Kulture hört sich an wie durch eine Trommel gezogen, die Besucher stören sich daran nicht. Marčelo macht weiter mit gefälligeren Liedern, fordert zum Mitklatschen auf, in den letzten Jahren ist seine Musik weniger markant und mehr Pop geworden. Doch schließlich gibt er dem Publikum Genugtuung – liefert den Grund, aus dem alle hier sind. Marčelo versenkt seine Sängerin in die Nebenrolle und schmettert die Rapzeilen raus, mit denen er zu Ruhm kam. Stella Artois hat inzwischen auch ihr Bestes getan, um die Menge anzuwärmen.
Marčelo rappt über soziale Ungleichheiten, über Politiker und mit Vorliebe über den Präsidenten Aleksandar Vučić. „Leute vergessen wirklich wichtige Sachen über Politiker“, sagt er, „wer sie waren, bevor sie einen neuen Anzug angelegt haben. Der aktuelle Präsident trägt jetzt eine Brille, die hatte er nicht in den 90-ern, als er meinte, Krieg ist cool. Jetzt trägt er Brille, das ist eine Art Clark-Kent-Superman-Syndrom. Aber ich vergesse nicht. Und ich will auch die losen Fäden in den Köpfen der anderen wieder verknüpfen.“ Erst im April wurde Vučićs rechtspopulistische Fortschrittpartei (SNS) für eine zweite Amtszeit in die Regierung gewählt. Mit Aussagen wie diesen in seinen Texten füllt Marčelo seit Jahren Säle. Doch vor allem will er seine Energie nutzen, um etwas davon weiterzugeben. Am Tag zuvor sollte er in der Rolle als Juror und Mentor beim Jugend-Singer-Songwriter-Festival junge Musiker inspirieren. „Diese Art von Festival ist gut“, sagt er. „Denn all diese anderen Musikwettwerbe im Fernsehen fördern nicht das eigene individuelle Werk, sondern nur, was schon existiert. Coverbands werden besser bezahlt als Bands mit eigener Musik.“ Einige Kunstschaffende in Novi Sad bestätigen mir Marčelos Eindruck. Da Künstler keinerlei regelmäßige Hilfen vom Staat erhalten, müssen sie selbstständig über die Runden kommen, spielen auf Hochzeiten und Familienfesten, verdienen Geld mit Coverversionen, die die Zuhörer mitsingen können. Umso wichtiger ist das Vernetzen innerhalb Serbiens und auch im Ausland. Ein Netzwerk, Inspiration und Mut – darum geht es bei diesem Festival für die Jugend ebenso wie beim Projekt Choreochroma.