Wie Wohnungsbau und Raumplanung zusammenhängen

Wo bauen, wo wohnen?

d'Lëtzebuerger Land vom 14.02.2020

Markus Hesse ist Geograf und Raumplaner, und an der Universität Luxemburg Professor für Stadtforschung. Gemeinsam mit den Wissenschaftlern seines Forschungsbereichs beobachtet er seit elf Jahren alle Politiken, die mit Flächenverbrauch zu tun haben – in dem kleinen Land, in dem die Flächen knapp sind.

Die Wohnungsbaupolitik ist natürlich eine davon. Und eine besonders kritische, da Luxemburg seit 2010 jedes Jahr um rund 10 000 Einwohner zulegt und an die 12 000 neue Arbeitsplätze entstehen. „Wo bauen, wo wohnen?“ ist dann eine überaus strategische Frage. Das Problem sei aber, sagt Hesse, dass es einerseits keine Strategie zur Beantwortung dieser Frage gibt, andererseits die öffentliche Hand kaum über Bauland verfügt. „Das müsste sie aber, wenn Staat und Gemeinden eine Steuerungskompetenz im Wohnungsbau übernehmen sollen.“

Was die Strategie angeht, war die Lage vor knapp zwei Jahrzenten besser. 2003 brachte die damalige CSV-DP-Regierung nach fast vier Jahren Arbeit ein neues Leitprogramm zur Landesplanung heraus. Solche Programme gibt es seit den Siebzigerjahren. Das von 2003 aber enthielt zum ersten Mal eine umfassende Idee, wie Luxemburg bis 2020 zu gestalten sei, und das gilt eigentlich heute noch: 15 Gemeinden sollten bevorzugt entwickelt werden. Die Hauptstadt natürlich, aber auch Esch/Alzette und Ettelbrück-Diekirch mit der Nordstad als so genannte Oberzentren. Ihnen nachgeordnet sollten zwölf regional verteilte „Centres de développement et d’attraction“ (CDA) sein. Damit das klappte, sollten in den 15 Gemeinden Baugebiete „gesteuert“ werden und im Rahmen einer „dezentralen Konzentration“ Unternehmen, aber auch Verwaltungen dazu gebracht werden, ihren Sitz außerhalb von Luxemburg-Stadt zu nehmen.

Bemerkenswerterweise beließ die damalige Regierung es nicht bei dem Leitprogramm, sondern gab bei einem internationalen Expertenteam ein Integratives Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept in Auftrag. Das IVL-Konzept machte einige Furore: Als es Anfang 2004 fertig war, legte es nicht nur dar, wie es wäre, wenn die einen Gemeinden sich besonders entwickeln, die anderen dagegen weniger, und welche Folgen das für Wohnungsbau, Gewerbeansiedlung, Verkehr und Landschaftsverbrauch hätte. Das IVL konfrontierte Luxemburg auch mit einem „Pendlerszenario“, in dem bis zum Jahr 2020 neu geschaffene Arbeitsplätze eher von Grenzpendlern als von Ansässigen eingenommen worden wären, und einem „Einwohnerszenario“ für den umgekehrten Fall. Eine der Konsequenzen des Einwohnerszenarios war natürlich ein höherer Bedarf an Wohnraum.

„So etwas wie das IVL braucht Luxemburg heute wieder“, findet Markus Hesse. Zwar wird seit drei Jahren an einem neuen Landesplanungs-Leitprogramm gearbeitet. François Bausch (Grüne), Landesplanungsminister der vorigen Regierung, hatte dazu sogar einen Bürgerdialog mit dem Titel „Lëtzebuerg zesumme plangen“ organisiert. Sein Nachfolger Claude Turmes (Grüne) will das Leitprogramm bis Ende 2021 fertig haben. „Leitprogramme sind aber nicht konkret genug für die Politik“, sagt Hesse, „das IVL dagegen war es.“ In der Tat: Das IVL-Konzept hielt zum Beispiel fest, neue Arbeitsplätze in erster Linie in der Südregion anzusiedeln, in viel kleinerem Maße hingegen im Großraum um Luxemburg-Stadt, wo es schon viele gibt und wo, laut IVL jedenfalls, viel mehr Wohnraum entstehen müsste.

Doch schon damals waren die wichtigen Flächen nicht in öffentlicher Hand. Was wohl ein Grund dafür war, dass das auf 150 Hochglanzseiten niedergeschriebene IVL überwiegend ein Papiertiger blieb. Die Webseite ivl.public.lu gibt es längst nicht mehr. Kaum war das IVL publiziert, verstieß die Stadt Luxemburg gegen den dringenden Ratschlag, sich bei der Ansiedlung neuer Arbeitsplätze zurückzuhalten, und schloss mit dem Immobilienunternehmer Flavio Becca den Grundstücks-Deal über den Ban de Gasperich zum Aufbau des Büro- und Einkaufsviertels Cloche d’Or ab. Derweil verfügten die Nachbargemeinden im Südwesten der Hauptstadt über Gewerbeflächenpotenziale, bei denen François Bausch 2007 als der damalige Erste Schöffe von Luxemburg-Stadt „ein Wachstum wie in Dubai“ kommen sah. Das war weder „IVL-konform“, noch passte es zu der seit 2003 allgemeinverbindlichen Vorgabe, „dezentrale Konzentration“ zu betreiben. Die Idee, der Hauptstadt etwas wegzunehmen, gefiel Bausch aber ebenso wenig wie dem damaligen DP-Bürgermeister Paul Helminger: „Es stört mich, wenn man uns bremsen will“, sagte Bausch (d’Land, 13.12.2007). Da unterdessen der Wohnungsbau vor allem in Landgemeinden boomte, wo Bauland vergleichweise preiswert ist, überraschte es nicht weiter, als der damalige CSV-Landesplanungsminister Jean-Marie Halsdorf 2008 anstelle eines „IVL-Update“ die ziemlich verzweifelte Bestandaufnahme ablieferte, „das Wachstum“ habe alle Erwartungen übertroffen: Pendlerszenario und Einwohnerszenario aus dem IVL seien beide gleichzeitig drauf und dran, Wirklichkeit zu werden, und statt dass bestimmte Gemeinden sich besonders entwickelten, herrsche Wildwuchs.

„Eigentlich ist all das keine Hexerei“, sagt Markus Hesse. Die demografische Entwicklung sei bekannt, der Output der Wirtschaft auch. Man kenne die Konkurrenz um die knappen Flächen und wisse, wie lange Planungen von Wohnungen und Verkehrswegen dauern. Politik aber sei generell schwer auf Langfristvorhaben festzulegen. „In Luxemburg kommt erschwerend hinzu, dass man weiter wachsen will und diese Prämisse nicht hinterfragt.“ Das zeige der anhaltende Büroimmobilien-Boom: „Die landesweite Leerstandsrate liegt zurzeit bei nur drei Prozent, auf dem Kirchberg sogar bei 0,9 Prozent.“

Und der Wohnungsbau? Die logische Antwort könne nur lauten, in den Centres de développement et d’attraction, wie sie im Landesplanungs-Leitprogramm stehen, bevorzugt zu bauen, so der Professor. Doch an die CDA-Gemeinden glaubt keiner mehr richtig, weil nie eine ernsthafte Politik entworfen wurde, sie tatsächlich prioritär zu entwickeln. Der erste Pacte logement gibt seit 2009 und noch bis Ende dieses Jahres „IVL-Gemeinden“, falls sie wachsen, pro zusätzlichem Einwohner mehr Geld als Nicht-IVL-Gemeinden. Doch zu IVL-Gemeinden wurden nicht nur CDA erklärt, sondern fast alle Gemeinden, die nicht ausgesprochen ländlich sind. Landgemeinden profitieren ebenfalls: Wegen der preiswerten Grundstücke wird dort so viel Wohnraum für neue Einwohner fertig, dass auch Dörfer über den Wohnungsbaupakt an genug Geld gelangen. Als die CSV vor vier Jahren auf der Suche nach einem Politikthema das Wachstum entdeckte und Angst vor dem „1,1-Millionen-Einwohnerstaat im Jahr 2060“ schürte, versprach François Bausch, nunmehr Landesplanungsminister, den Weg in den 800 000-Einwohnerstaat bis 2030 zu managen. Ansätze, bestimmte Gemeinden bevorzugt zu entwickeln, sind jedoch rudimentär: Die Gemeindefinanzreform von 2016 stellt CDA tatsächlich etwas besser. Über den Pacte logement 2.0 soll ab 2021 Geld nur fließen, wenn öffentlicher Wohnraum geschaffen wurde. Eine Strategie, bestimmte Gemeinden zu stärken, steckt aber nicht dahinter. Die CDA würden ihrer Rolle nicht gerecht, bilanzierte Bausch 2018 wie Halsdorf das 2008 tat. Und so muss der Wohnungsbauminister nun in allen 102 Gemeinden für den Pacte logement 2.0 werben und hat mit den großen begonnen, weil das nicht falsch sein kann.

Machen fehlende Strategien und Entwicklungspolitiken es schon schwer, Wohnungs-Neubau zu kanalisieren, wo er besonders sinnvoll wäre – in Gemeinden mit guter öffentlicher Verkehrsanbindung, beziehungsweise dort, wo es an kritischer Masse an Bevölkerung fehlt –, droht das letztlich an den Besitzverhältnissen zu scheitern. 2 900 Hektar Bauland sind zurzeit in den kommunalen Flächennutzungsplänen (PAG) ausgewiesen. Würden sie bebaut, hätten in Luxemburg insgesamt 740 000 Einwohner Platz, so offizielle Schätzungen. Doch von den 2 900 Hektar sind ausgerechnet die 941 schnell bebaubaren nicht mal zu einem Zehntel in öffentlicher Hand.

Im Plan sectoriel Logement, einem der vier staatlichen Dokumente zu Raumplanung, die rechtsverbindlich werden sollen, aber noch als Entwurf „in der Prozedur“ sind, stehen 20 „Zones prioritaires d’habitation“ mit insgesamt rund 560 Hektar Fläche. „Sie zu bebauen, wird aber dauern“, sagt Markus Hesse. Zu dem 22 Hektar großen Neubaugebiet Nei Schmelz in Düdelingen etwa fielen vor zehn Jahren die Jury-Entscheide im Architektenwettbewerb. „Heute liegen die Teilbebauungspläne vor. Ehe tatsächlich gebaut wird, vergeht noch Zeit.“ Ohne Strategie, wo gebaut werden soll, und ohne Konzept, wie die öffentliche Hand an Bauland kommen soll, wird Luxemburg weiter der Entwicklung hinterher rennen“, prophezeit Professor Hesse. Zumal, wenn weiterhin Wachstum angesagt bleibt.

Peter Feist
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