Niemand will die Wehrplicht wieder einführen. Aber das Personalproblem der Armee wird nicht kleiner

„Das machen wir nicht“

Bei der Vereidigung neuer Soldat/innen auf dem Herrenberg im Januar2024
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 24.01.2025

Wenn die LSAP-Fraktion im Parlament eine Aktuelle Stunde über die „Introduction éventuelle du service militaire obligatoire“ beantragt, liegt nahe, dass sie dagegen sein wird. Alles andere wäre ein Bruch mit ihrer Geschichte: Schon ab 1946 stellten LSAP-Abgeordnete die Wehrpflicht infrage, die am 30. November 1944 durch einen Regierungserlass eingeführt worden war. Der Pflichtdienst war bei linken Wählern unpopulär. Manche Linke in der LSAP waren gegen die Armee überhaupt, wie die Kommunistische Partei. Die Sozialisten insgesamt waren für eine Freiwilligenarmee. So wie 1881 die Freiwilligenkompanie eingerichtet worden war. 1940 zählte sie 457 Mann.

So ist es nicht überraschend, dass die Abgeordnete Liz Braz, als sie am Mittwoch die Aktuelle Stunde eröffnet, nicht „eventuell“ für die Wiedereinführung der 1967 abgeschafften Wehrpflicht plädiert, sondern davon nichts wissen will. Sie zählt auf, wo das tiefe Unbehagen hierzulande mit der Wehrpflicht seinen Anfang nahm: Bei der Zwangsrekutierung in die Wehrmacht durch die Nazi-Besatzer. Die zu dem Generalstreik von 1942 führte, nach dessen Niederschlagung 21 Resistenzler hingerichtet wurden.

Kein schöner Kontext für DP-Verteidigungsministerin Yuriko Backes auf der Regierungsbank, die sich von Liz Braz daran erinnern lassen muss, vergangenen Juni in einem Wort-Interview erklärt zu haben, „eventuell“ komme Luxemburg „nicht daran vorbei, über einen obligatorischen Militärdienst zu diskutieren“. Anschließend, trumpft Braz auf, habe Backes die Diskussion „mauscheln“ lassen. Bis Generalstabschef Steve Thull sich im November im RTL-Radio entlocken ließ, ein Militärdienst wäre ein Beitrag zur „Resilienz“ der Gesellschaft, sei allerdings eine politische Frage. Ehe niemand mehr durchsah, was die Regierung will, und eine Petition gegen eine Wehrpflicht war schon geschrieben, rettete die Verteidigungsministerin sich und die Regierung in eine Ankündigung auf eine „freiwillige militärische oder zivile Reserve“.

Eigentlich müsste die Aktuelle Stunde nicht sein. Wie zu erwarten, will niemand auch nur „eventuell“ die Wehrpflicht wieder einführen. Umstritten war sie immer. Ihre Dauer wurde von zunächst zwölf Monaten auf neun und schließlich sechs Monate gesenkt. Wäre es nach der Nato gegangen, hätten es zwei Jahre sein sollen. Als die Armee 1953/54 mit dem Groupement tactique régimentaire (GTR) ihre Maximalgröße von 5 119 Mann erreichte, kam das in der öffentlichen Meinung schlecht an: Würde das GTR in einem Krieg zerstört, verlöre Luxemburg viele junge Männer. Teuer war das GTR obendrein: Seine Einrichtung 1952 kostete in dem Jahr einen effort de défense von beinahe 3,5 BIP-Prozent. So hoch war er später nie mehr.

Doch in der Hauptsache möchte die LSAP-Fraktion den günstigen Moment nutzen: Von „Resilienz“ ist seit zwei Monaten viel die Rede. Zuletzt vom Innenminister, der eine Einheit für Zivil- und Katastrophenschutz einrichten lassen will. Also bringt die LSAP ihre Idee eines einjährigen „service civil volontaire“ vor, der schon in ihrem Programm zu den letzten Kammerwahlen stand und Spitzenkandidatin Paulette Lenert am Herzen lag. „Ein Gemeinschaftsdienst für alle“ wäre das, wirbt Liz Braz. Mit einer Ausbildung für den „Katastrophenfall“. Niemand müsste, aber alle könnten, Junge wie Pensionierte. So ließen sich „auch Verbindungen zwischen Generationen und gesellschaftlichen Schichten stärken“. Alle finden die Idee gut. In einer Kommission soll darüber weiter diskutiert werden. Die LSAP kann sich freuen, in unsicheren Zeiten den Weg für einen friedvollen Vorschlag geebnet zu haben, über den es vielleicht noch lange heißen wird, dass er von ihr kam.

Aber natürlich ist da noch die Armee, um die es eigentlich gehen soll. Liz Braz ist nicht so de gauche wie jene paar Sozialisten, die in den 1950-er und 1960-er Jahren nicht nur gegen die Wehrpflicht, sondern auch gegen die Armee waren. Oder wie der Abgeordnete Marc Baum von der Linken, der findet: „Statt Milliarden gegen den Klimawandel auszugeben, investieren wir wie verrückt ins Militär. Drei Prozent, fünf Prozent, the sky is the limit...“ Dabei gebe es doch „keine konkrete Gefahr“. Liz Braz dagegen versteht, dass Luxemburg seine Militärausgaben „anpassen muss“. Und findet, die EU habe es „total verpasst“, eine europäische Rüstungsindustrie aufzubauen. Ohne Wehrpflicht kann Braz auch der Armee viel abgewinnen, die „immer moderner“ werde: „Ihr würdet euch wundern, mit was für Berufen man alles in die Armee kommen kann!“, ruft sie in den Plenarsaal.

Die beiden Mehrheitsfraktionen tun dem Piraten-Abgeordneten Marc Goergen nicht den Gefallen, dessen Motion mitzustimmen, die die Regierung auffordert, „den obligatoreschen Militärdéngscht net anzeféieren“. Wahrscheinlich nur die übliche Geste, der Opposition zu zeigen, wo ihr Platz ist. Denn für die CSV-Fraktion hat der Abgeordnete Alex Donnersbach immerhin erklärt, „wir sind nicht dafür, die Wehrpflicht wieder einzuführen“. Und Guy Arendt hat gesagt, „die DP ist klar dagegen“, sie sei „für Freiwilligkeit“. Gegen Goergens Antrag vorgebracht hat niemand etwas; das wäre auch seltsam gewesen. Der Piraten-Abgeordnete versucht, den Konsens so gut es geht zu genießen: „Ich bin schon mal zufrieden, dass sich heute dafür ausgesprochen wird, dass unsere Kinder und Enkel nicht in die Armee müssen.“

Was abzusehen war. Marc Baum hat Recht: Die Wehrpflicht ist in Luxemburg ein „non-topic“. Auch DP-Verteidigungsministerin Yuriko Backes erklärt: „Die Wehrpflicht ist für mich keine Lösung. Ihre Wiedereinführung steht nicht im Koalitionsprogramm, das machen wir nicht.“ Sie schüttelt den Kopf, als Marc Goergen und die Grünen-Abgeordnete Sam Tanson andeuten, dass sie ab vorigen Sommer von der „Diskussion“ sprach, an der Luxemburg „nicht vorbeikommen“ werde, sei vielleicht tatsächlich ein „Testballon“ gewesen: „Diese Diskussion“, sagt Backes, „haben wir in ganz Europa. Manche Länder haben die Wehrpflicht, andere nicht. Wieder andere haben sie erneut eingeführt. Wir sind hier einer Gefahr ausgesetzt. Die Bedrohung durch Russland ist ganz reell.“

Weil die Aktuelle Stunde am Ende ziemlich genau eine Stunde dauern wird, ist vielleicht nicht genug Zeit, die „Bedrohungen“ zu vertiefen. Zum Beispiel darauf einzugehen, was den neuen Bewohner des Weißen Hauses von Wladimir Putin unterscheidet. Wenn man bedenkt, dass seine Ankündigung bei der Amtseinführung am Montag, den Panamakanal „zurückzuholen“, den panamaischen Präsidenten veranlasst hat, sich an den UN-Sicherheitsrat zu wenden. Oder Donald Trumps Aussagen zu Grönland Anfang des Monats. So klar ist nicht, dass die US-Außenpolitik der nächsten vier Jahre tatsächlich isolationistisch sein wird und nicht expansionistisch, wie im 19. Jahrhundert. Was Yuriko Backes, die Diplomatin, vermutlich weiß. Um zu erklären, wozu die Armee da ist und weshalb Luxemburg „spätestens 2030“ seine Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttonationaleinkommens steigern soll, spielt sie das Programm von den „Werten“ ab: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit. Und Multilateralismus, „der ja im Moment von verschiedenen Seiten infrage gestellt wird“. Welche Seiten das sind, erörtert sie lieber nicht. Wissen will das auch niemand. Der Linken-Abgeordnete Marc Baum stellt sich vor, Luxemburg sollte „mit anderen EU-Ländern Konzepte ausarbeiten, die nicht militärisch sind“. Die „diplomatische Passivität, mit der Luxemburg alles über sich ergehen lässt“, sei „fatalistisch“ und störe ihn enorm. Die Verteidigungsministerin bescheinigt Baum, die Realitäten zu verkennen.

Was die Realitäten sind, ist allerdings unklarer geworden. „Bon, Dir hudd allerguer den Trump héieren: fënnef Prozent. Dat wier net zilféierend“, sagt Backes. Aber „nicht zielführend“ ist nur ein Begriff. Zum Beispiel zählte am 29. November Rush Doshi, Georgetown-Professor und Direktor der Initiative on China Strategy beim Council on Foreign Relations, der Plattform des außenpolitischen Establishments der USA, auf deren Webseite auf, was die Vereinigten Staaten mit ihrer „industrial base“ unternehmen müssten, „to rapidly deter China and, if necessary, defeat it in a potential conflict“. Beim gegenwärtigen Stand würden die USA ihre gesamte Munition „within a week of sustained fighting“ aufbrauchen, und „struggle to rebuild surface vessels after they were sunk“. Die amerikanische Kriegsschiff-Industriekapazität sei zusammengenommen kleiner als die einer einzigen der größeren Werften Chinas. Ob das die EU und die europäischen Nato-Staaten etwas angeht und was, ist die brisanteste geopolitische Frage der nächsten Jahre. Sie würde sich auch stellen, wenn Kamala Harris am 5. November die Präsidentschaftswahlen gewonnen hätte.

Die Luxemburger Armee hat ein bodenständigeres Problem: die Personalnot. Dort hatten Andeutungen zur Wehrpflicht ihren Ausgang. Yuriko Backes macht nicht den Eindruck, genau zu wissen, wie das Problem gelöst werden soll. Alex Donnersbach von der CSV erklärt, es klappe „gerade so“, die freiwilligen Soldat/innen zu ersetzen, die die Armee verlassen. Sam Tanson von den Grünen will gehört haben, dass die Rekrutierungszahlen rückläufig sind, und fragt die Verteidigungsministerin danach. Die hat keine Zahlen zur Hand und verspricht, sie nachzuliefern. Aber Tanson hat vermutlich Recht: Am 11. Januar nach der Vereidigung von 39 neuen Soldaten und einer Militärmusikerin hatte General Steve Thull im RTL-Fernsehen eingeräumt, „wir sind wirklich am untersten Limit“. Dreimal im Jahr rekrutiert die Armee neue Freiwillige. Wären es jedes Mal drei Mal 45, „wären wir gut“, sagte der General. 2024 wurden insgesamt 115 vereidigt. Im September 2024 hatten sich 20 Interessent/innen weniger für die Armee gemeldet als sonst.

Wie die Personalsituation im September 2024 war, geht aus Nummer 2/2024 von Spal Info, der Zeitschrift der Armeegwerkschaft Spal, hervor: Die Armee zählte 294 Zivilangestellte, 384 Berufmilitärs, 59 Militärmusiker/innen und 502 Soldat/innen, von ihnen 206 mit dem Statut Udo (unité de disponibilité operationnelle zum Einsatz in Missionen außerhalb des Landes). Über alles habe die Armee 170 Militärs und 120 Soldat/innen zu wenig, resümierte die Gewerkschaft (S. 49). Dabei werden für das gemeinsame Aufklärungsbataillon mit Belgien, das 2030 einsatzbereit sein soll, 230 Berufsmilitärs und 240 Udo-Soldat/innen gebraucht. Dieses Ziel zu erreichen, nannte die Armeegewerkschaft bei ihrer letzten Jahresversammlung am 7. Oktober „unrealistisch“.

„Die Rekrutierung ist in allen Nato-Ländern nicht einfach“, sagt Yuriko Backes am Mittwoch den Abgeordneten gegen Ende der Aktuellen Stunde. Man müsse schon „ganz motiviert sein“, um in die Armee zu gehen. Die Öffentlichkeitsarbeit sei verbessert worden: „Wir weisen darauf hin, dass der Beruf vielfältig ist, dass er wirklich mehr ist als ein Militär, deen duerch de Bulli trëppelt.“ Es fehlt aber nicht nur an Kaderpersonal, dass durch den Schlamm spaziert, sondern auch an Soldaten, die durch den Schlamm kriechen. Und wenn Luxemburg es nicht schafft, das Personal für das binationale Bataillon zusammenzubekommen, was soll dann werden, wenn die Nato-Mitgliedsländer im Sommer neue „targets“ erhalten, wie die Verteidigungsministerin sich ausdrückt? Einzelheiten kann sie noch keine nennen, meint aber die Ziele „werden ambitioniert sein“.

Politisch kristallisiert sich mehr und mehr die Einrichtung einer Reserve als Lösungsweg heraus. Im Frühjahr vorigen Jahres wollte die Verteidigungsministerin davon noch nichts wissen. „Das steht nicht im Koalitionsvertrag“, sagte sie dem Land (12.4.2024). Das hat sich geändert, auch innerhalb ihrer Partei: Luxemburg sei „eines der wenigen Länder ohne eine Reserve“, stellt Guy Arendt fest. „Wir müssen Überlegungen zu einer Reserve führen“. Sam Tanson sagt, auch die Grünen sähen das „ganz favorabel“. Yuriko Backes kann mitteilen, die Regierung werde dazu eine „interministerielle Arbeitsgruppe“ unter der Leitung des Hochkommissariats für natio-
nalen Schutz (HCPN) einberufen. Damit „alle Akteure“ zusammenkommen und „eine kohärente Strategie“ entsteht. Und nicht doch eines Tages wieder von der Wehrpflicht geredet wird. Unter ihr waren zwischen 1944 und bis zur Abschaffung 1967 insgesamt 34 748 Männer einberufen worden. Guy Arendt von der DP reicht eine Motion ein, die die Regierung auffordert, „à poursuivre les travaux visant à renforcer l’Armée et la résilience national, sans recours au service militaire obligatoire“. Alle stimmen zu, bis auf die beiden Abgeordneten der Linken. Warum, erklären sie nicht. Vermutlich ginge ihnen eine Verstärkung der Armee zu weit.

Note de bas de page

Peter Feist
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