Die angehenden Sozialassistenten fordern ein bezahltes (viertes) Anerkennungsjahr. Die Regierung hält dagegen und will es abschaffen

Chance verpasst

d'Lëtzebuerger Land vom 06.04.2012

„Wir denken, dass eine der zentralen Missionen der Sozialassistenten ist, elementare Rechte von benachteiligten Personen zu verteidigen. Es erscheint uns daher entscheidend, auch die unsrigen zu verteidigen und uns zu äußern, bis wir erhalten haben, was unser gutes Recht ist.“

Es sind kämpferische Zeilen, die die Sozialassistenten, die derzeit ihr viertes Jahr für die staatliche Anerkennung absolvieren, im Januar an den Premierminister Jean-Claude Juncker (CSV) richteten. Ihr Problem: Obwohl sie in den Räumen der Universität Studienkurse besuchen, um das Staatsdiplom zu erlangen, erhalten sie doch keine finanzielle Unterstützung. Und dies, obschon ihre Weiterbildung, Praktika und Kurse zusammen gefasst, rund 1 500 Stunden dauert und keine Zeit bleibt, nebenher noch Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Antwort aus dem Staatsministerium fällt kurz aus: Man sei dafür nicht zuständig, da müssten sich die Betroffenen an den Hochschulminister wenden.

Als wäre das nicht längst geschehen. Die rund 30 Studierenden, die ihr Anerkennungsjahr im Herbst vergangenen Jahres begonnen haben, haben schon einen regelrechten Marathon an Behördengängen und brieflichen Anfragen hinter sich. Da war zunächst der – erfolglose – Gang zur Studienberatung Cedies. Sie haben kein Anrecht auf Studienbeihilfen, da die Kurse und Praktika, die die Sozialassistenten besuchten, keine Hochschulstudien, ergo sie keine Studenten seien, so Cedies-Leiterin Dominique Faber. Hilfesuchend wandten sich die Nicht-Studenten daraufhin an die Kindergeldkasse. Die wollte auch nicht zahlen: „Kindergeld gibt es nur für Schüler, die den Sekundarunterricht besuchen“, erklärt die Juristin der Kasse bestimmt. „Gesetz ist Gesetz.“ Das offenbar nicht immer so streng ausgelegt wird: In einem Antwortschreiben auf einen Brief an den damaligen Ombudsmann Marc Fischbach erinnert sich dieser an gleich gelagerte Fälle aus dem Vorjahr – die glücklich gelöst werden konnten: „Suite à une intervention de ma part auprès du Ministre compétent, ce cernier avait finalement décidé d’attri[-]buer aux intéressés les allocations familiales pour autant qu’ils aient moins de 27 ans..“. Das Problem werde gelöst, habe das zuständige Ministerium versichert.

Das Versprechen kommt nicht zu früh. Denn neu ist die Odyssee der angehenden Sozialassistenten nicht. Sie wiederholt sich alle Jahr wieder. Mal früher, mal etwas später wurde dann eine Lösung gefunden. Nur eben dieses Jahr noch nicht: „Wir haben die Hoffnung auf eine Regelung aufgeben“, seufzt Olga Dias, eine Betroffene.

Hintergrund des Schlamassels ist das ungeregelte Berufsbild: Obwohl der Beruf in Luxemburg seit den 70er-Jahren besteht, Sozialassistenten und Sozialassistentinnen zu Hunderten in schulpsychologischen Diensten, im Bewährungshilfedienst der Gerichte, bei der Arbeitsverwaltung, in kommunalen Sozialbüros arbeiten, und viele soziale Einrichtungen die staatliche Anerkennung als Einstellungsbedingung voraussetzen, geht das Theater um die finanzielle Entschädigung der Teilnehmer des vierten Jahres alljährlich aufs Neue los. Die Leidtragenden sind die Praktikanten, die sich ohne eigenes Einkommen durch das Anerkennungsjahr hangeln müssen. Die meisten wohnen bei ihren Eltern. „Ich bin froh, dass meine Eltern das zahlen können, weil ich mir den Beruf sonst gar nicht leisten könnte“, sagt Christine Minden, die zuhause wohnt.

Das Hochschulministerium hat für dieses Jahr Abhilfe versprochen: Das vierte Jahr soll künftig ganz wegfallen. So zumindest ist aus den Reihen des Unterrichtsministeriums zu hören, das sich früher um die Praktikanten kümmerte. Das Hochschulministerium meldete sich bis Redaktionsschluss nicht zurück.

Allerdings: Die klammen Kassen der angehenden Sozialarbeiter füllen sich dadurch nicht. Und in ihrem Sinne ist die Abschaffung auch nicht. „Wir wollen das vierte Jahr beibehalten, denn wir lernen viel dabei“, so Olga Dias. Sie hat ihre Ausbildung in Belgien abgeschlossen und sich ins vierte Jahr eingeschrieben, „weil das Staatsdiplom von vielen verlangt wird“. In Kursen vertiefen die Teilnehmer ihre Kenntnisse über Luxemburger Sozialrecht und die sozialen Hilfsangebote im Land. „Das Praktikum verschafft mir die nötige Erfahrung“, so Dias’ Kollegin Chris-tine Minden.

Um für den Erhalt – und die Bezahlung – ihres Anerkennungsjahres zu streiten, haben die angehenden Sozialassistenten einen regelrechten Medienrummel entfacht: Nach dem Télécran und verschiedenen Tageszeitungen hat auch das RTL-Fernsehen die Geschichte aufgegriffen.

Dabei gerät jedoch aus dem Blick, dass es um mehr geht, als um einen aus arbeitsrechtlicher Sicht sehr fragwürdigen Umgang mit jungen Berufsanfängern. Im Sozialsektor besteht seit Jahren ein Dissens darüber, inwiefern das vierte Jahr überhaupt gebraucht wird. Ursprünglich als eine Art Qualitätslabel für aus dem Ausland kommende Sozialarbeiter gedacht, das ihnen beschei-nigte, Luxemburger Gegebenheiten zu kennen, steht die Notwendigkeit des staatlichen Anerkennung inzwischen in Frage. Denn mit der Universität Luxemburg wurde mit dem Bachelor en sciences sociales et éducatives (BSSE) ein Ausbildungsgang geschaffen, der künftige Sozialarbeiter für und in Luxemburg ausbilden soll. „Unsere Studien richten sich an alle, die in der Sozialarbeit tätig werden wollen“, so Claude Haas, Studienleiter des BSSE.

Wie passt das damit zusammen, dass derzeit ein Gesetzesvorentwurf im Gesundheitsministerium vorliegt, der das Berufsbild und die Ausbildung des Sozialassistenten regeln soll – und das ohne größere Rückkoppelung mit der Uni? Auf Land-Nachfrage heißt es seitens der Gesundheitsdirektion: Die Berufsorganisationen hätten den Text gewünscht, außerdem sei man durch den Bologna-Prozess angehalten, verschiedene Gesundheitsberufsprofile zu aktualisieren. Künftig setzt der Sozialassistent einen Bachelor-Studiengang statt Bac+3 voraus. Von der so-zialarbeiterischen Ausbildung an der Uni grenzt sich das Gesundheitsministerium gleichwohl ab. Sie sei nicht mit dem Profil des Sozialassistenten deckungsgleich: „Der Bachelor entspricht nur zum Teil dem Assistant social. Sie bilden eigentlich zwei Berufe aus: den Éducateur gradué und den Assistant social“, so Elisabeth Heisbourg, Chefin der Abteilung Heilmedizin im Gesundheitsministerium. Claude Hass von der Uni Luxemburg widerspricht: „Wir vermischen nichts. Wir integrieren Sozialarbeit und Sozialerziehung“. Wer an der Uni Luxemburg studiere, könne einerseits als Assistant social „auf jeden Fall eine Enqûete sociale durchführen“ und als solcher arbeiten.

Was wie ein Streit um das Berufsprofil und die richtige Definition von Sozialarbeit klingt, ist es auch. Wer die Definition des Berufes des Sozialassistenten im Gesetzentwurf liest und die Realitäten auf dem Terrain kennt, wird sich über das angestaubte und eingeschränkte Verständnis wundern. Zum Beispiel verlangt das Gesundheitsministerium in seinem Entwurf vom Sozialassistenten Kenntnisse im Luxemburger Sozialrecht – nicht aber im reformierten Schulrecht, im Arbeitsrecht oder im neuen Jugendhilferecht.

Mit der Schaffung des Office national de l’enfance aber verändern sich die Einsatzgebiete nicht der Sozialassistenten: Statt Fälle zu begutachten und ihre Betreuung an Éducateurs gradués auszulagern, bietet die Uni Luxemburg ein Studienfach an, das auf Bachelor-Niveau sowohl für den sozialarbeiterischen Einsatz direkt in der Familie, im Kindergarten, im Arbeitsamt oder anderswo befähigt, das zugleich aber auch Kompetenzen in der Konzeptualisierung von Sozialarbeit vermitteln soll, etwa für die Arbeit in einem Sozialbüro. Wobei ein Aufbaustudiengang erweiterte Kompetenzen im Sozialmanagement und Leitungsfunktionen ermöglichen soll. „Ziel ist es eine kohärente sozialarbeiterische und sozialpädagogische Ausbildung vom Bachelor bis zum Master“, so Haas. Den oft gehörten Vorwurf, die Uni-Ausbildung sei zu wissenschaftlich und nicht praxisnah genug, lässt er nicht gelten: „Wir bieten beides: wissenschaftliche Theorie und Paktika, die zur professionellen Reflexion und zur Praxis befähigen.“

Eine kohärente Qualifizierungsstrategie ist auch deshalb vonnöten, weil sich der Sozialsektor rasant wandelt: Nicht nur die Methoden haben sich geändert, weg von der Sozialkontrolle und eher paternalistischen Sichtweise hin zu partizipativeren Empowerment-Ansätzen, sondern auch die Einsatzfelder. Neben dem klassischen Bereich des Jugendschutzes treten verstärkt Bereiche wie die Kinder- und die Altenbetreuung (wo Hände ringend qualifiziertes Personal gesucht wird) oder die sozialpädagogische Arbeit mit Kindern in den (Grund-)Schulen.

Interessant ist in diesem Kontext, dass Luxemburg als einziges Land in Europa den Sozialassistenten noch dem Gesundheitsministerium zuordnet. Was aus der Genese des Berufes Sinn macht – die Ausbildung kommt aus Belgien, wo die Assistants sociaux früher vorrangig im kurativ-medizinischen Bereich eingesetzt wurden, ist nach Ansicht von Experten dabei sich zu wandeln. „Die So-zialarbeit ist heute ein eigenes Feld mit ganz unterschiedlichen Qualifikationen“, so Charel Schmit, Präsident der Association nationale des communautés éducatives et sociales (Ances). Der Verein setzt sich dafür ein, jetzt „eine grundlegende Reflexion über die Qualifizierung und Professionalisierung der sozialen Berufe in Luxemburg“ zu beginnen und ein Rahmengesetz für sämtliche Sozialberufe zu formulieren. Dann wäre vielleicht irgendwann auch einmal Schluss mit der sehr unübersichtlichen Gehälterpraxis.

Elisabeth Heisbourg hingegen will sich mit einer „philosophischen Diskussion“ nicht aufhalten. „Das kann man diskutieren“, sagt sie, „ich sehe das aber vor allem pragmatisch“. Pragmatisch aus der Sichtweise des Berufstands: Es war die Association na-tionale des assistantes d’hygiène sociale, assistantes sociales et infirmières graduées, die darauf drängte, den Berufsstand nach 30 Jahren neu zu regeln – nicht zuletzt in der Hoffnung, so das vierte Jahr erhalten zu können. Dahinter stehen nicht zuletzt Gehälterinteressen: Bisher konnte ein Sozialassistent am Ende seiner Berufskarriere bis in den Grad 14bis vorstoßen, mit der Gehälterreform soll es beim 13 Grad Schluss sein. Allerdings: Alles deutet darauf hin, dass das vierte Jahr wohl nun endgültig zu Grabe getragen wird, auch wenn Elisabeth Heisbourg gegenüber dem Land betont, die Dauer der Ausbildung sei noch nicht geklärt.

Ob und wie das neue alte Berufsprofil der Sozialassistenten Bestand haben wird, klärt sich womöglich bald: Nach den Osterferien werden Vertreter der Uni Luxemburg, des Hochschul- und des Gesundheitsministeriums über die Ausbildung diskutieren. Die große Chance aber, den inzwischen auf rund 4 000 Beschäftigte gewachsenen Sozialsektor mit seinen zahlreichen sozialarbeiterischen Berufen (von Aide auxiliaire de vie, über Éducateur bis zum Pédagogue curatif) und diversen Berufsorganisationen zu ordnen und für eine kohärente Qualifizierungs- und Professionalisierungsstrategie zu sorgen, scheint aus Gründen des politischen Pragmatismus und starker Partikularinteressen aber – vorläufig – verpasst.

Ines Kurschat
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