Ein mit zehn Kerzen geschmückter Geburtstagskuchen ist nicht das einzige Geschenk für Les Films Fauves. Das zehnjährige Bestehen der Produktionsfirma ging nebst einer fetten Sause letztes Wochenende im Rahmen des Luxembourg City Film Festivals auch Hand in Hand mit der Vorstellung ihrer aktuellen Koproduktionen. Zwei Filme, die schon im Mai letzten Jahres bei den Filmfestspielen in Cannes vorgestellt wurden – Rodrigo Morenos The Delinquents und der Dokumentarfilm Youth (Spring) von Wang Bing. Les Films Fauves, gegründet von Govinda Van Maele, Gilles Chanial und Jean-Louis Schuller, hat nicht nur Mühe und Geld in die wahrscheinlich besten Koproduktionen in der Geschichte der luxemburgischen Koproduktionen gesteckt, sondernbeschenkt die Cinephilen auch mit einem fundamentalen Erkenntnisgewinn. Und zwar mit jenem, dass der Großteil des Kinos eine einzige große Zeitverschwendung ist.
The Delinquents, der Kürzere der beiden Titel, stellt sich unmissverständlich die Frage der Zeitverschwendung. Morán ist Angestellter in einer Bank von Buenos Aires, in der die Zeit stehen geblieben scheint. Doch die Zeit bleibt bekanntlich nicht stehen und sogar der pflichtbewusste und geordnete Morán wird sich dessen eines Tages bewusst. Was folgt ist der spektakulär unspektakulärste Bankraub der Filmgeschichte. Ohne, dass es irgendjemand mitbekommt, lässt er über 600 000 Dollar in einem Rucksack mitgehen. Das Doppelte von dem, was er in den 25 Jahren, die ihm in der Bank bis zur Rente fehlen, verdienen würde. Die eine Hälfte wäre für ihn, die andere für den Kollegen Román. Er bittet diesen, auf den Rucksack aufzupassen, während er dafür drei Jahre im Gefängnis absitzt. Drei Jahre Knast gegen 25 Jahre Arbeit - die Opportunitätskosten sind für den Bankangestellten schnell durchgerechnet und Morán und Román verbindet ab dem Punkt nicht nur das Anagramm ihres Namens.
La Flor, Trenque Lauquen und jetzt The Delinquents - das argentinische Kino produziert seit einigen Jahren Filme von einer Truppe von FilmemacherInnen, die wahrscheinlich die spannendsten und einzigartigsten des derzeitigen Weltkinos sind. Und mit Rodrigo Morenos neuem Film bekommt das Großherzogtum endlich einen dieser Filme präsentiert. Der große Drei-Stunden-Film ist einer von kleinen Postulaten, die federleicht verspielt in das Narrativ eingewebt sind. Ein Film, der ständig zwischen den Genres hin und her springt und ganz plötzlich und fast unkenntlich vor den Augen der Betrachter mutiert. ¿Dónde está la libertad? Wo ist die Freiheit? heißt ein Song einer Bluesrock-Platte, die in Morenos Film von einer Figur zur nächsten wandert. Der Film geht der Frage nach der Freiheit nach, ohne in esoterische Sphären zu rutschen, schwebt aber durchgehend unbekümmert wenige Zentimeter über der Erde und lächelt dem Kosmos entgegen. Storytelling als Form und Erzählungen in Erzählungen geben dem Film einen fast haptisch literarischen Anstrich. The Delinquents ist eine beruhigende Existenzkrise, die gleichzeitig entzückt und ganz nebenher jegliche dramaturgischen Regeln lahm legt. Zu behaupten, der Film wäre zu lang, wäre unsinnig. Denn Morán versucht sehr stark, aus dem Trott auszusteigen. The Delinquents ist ein wahrlich inspirierendes Stück Kino.
Die Zeitfrage wird in Wang Bings vorletztem Film Youth (Spring) anders und wahrlich trister verhandelt. Der Chronist des postrevolutionären Chinas, der vor mehr als 20 Jahren mit dem monumentalen neunstündigen Tie Xi Qu: West of the Tracks in die Filmwelt einstieg, verbrachte fünf Jahre – von 2014 bis 2019 - westlich von Schanghai mit Jugendlichen in Sweatshops der Textilindustrie. Der erste von insgesamt drei Teilen – die zusammen dann doch wieder neun Stunden lang sein sollen! – ist in seinem Porträt der jungen Menschen, ihrer Familien und deren Chefs unerbittlich. Unter sehr bedenklichen Arbeitsbedingungen und trotz sehr schlechter Bezahlung treibt es diese Jugendliche zu Abertausenden in die Zhili-Region, um dort über Monate Geld anzuhäufen.
In Wang Bings Film wird das objektive Zeitgefühl wie Kaugummi auseinandergezogen und man fühlt förmlich, wie die Arbeitsstunden und Tage nicht zu Ende gehen wollen. Wiederholung – ob jene der Bewegungen an den Nähmaschinen oder der Tagesabläufe der jungen Arbeiterschaft – ist das wesentliche handwerkliche Mittel in seiner Montage- und Inszenierungsarbeit für Youth (Spring). Ganz überraschend – und dann wieder gar nicht überraschend, wenn man es im Kontext von Bings Œuvre sieht – ist die Art, wie er seinen Figuren nahekommt. Ihre Namen, Alter und Herkunftsort werden systematisch eingeblendet und es wirkt, als ob er einen Humanismus wieder einführen möchte, wo dieser lange abwesend war. Und das ist das eigentliche Politikum hinter den 210-Minuten langen, anstrengenden, ermüdenden Beobachtungen von Wang Bing. Vor allem im Kontext der Diskussionen um die Folgen der globalisierten Welt, in der Asien den Wohlstand des Westens produziert. Hinter allem und in jeder Situation stehen Menschen.
Dass es Youth (Spring) von Wang Bing und The Delinquents von Rodrigo Moreno nicht in die beiden Wettbewerbskategorien des LuxFilmFests geschafft haben, ist ein fataler kuratorischer Fauxpas. Zwei wirklich große Filme, die einfach mal so auch von der künstlerisch spannendsten Produktionsfirma Luxemburgs Les Films Fauves mitproduziert wurden. Auf die nächsten zehn Jahre.