Greta Gerwigs Barbie war im letzten Jahr in aller Munde, aber die Welt ist noch immer hellblau und nicht rosa. Die Wettbewerbsfilme auf der Berlinale spiegelten das Missverhältnis wider: Von 20 Filmen waren nur vier ausschließlich von Frauen gedreht. Zwei weitere waren mit Frauen in einem Regie-Team entstanden. Von einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis sind Hollywood wie auch die großen Arthouse-Kino-Festivals noch weit entfernt. Mit Mati Diop war hingegen erstmals eine Französin mit senegalesischen Wurzeln Preisträgerin des Goldenen Bären und mit Lupita Nyong’o erstmals eine afrikanische Frau Jurypräsidentin.
Da war der Wirbel um den iranischen Film My Favourite Cake, der unter Kritiker/innen lange als heißer Anwärter für den Goldenen Bären galt, ein Hoffnungsschimmer. Weil die Filmemacher/innen Maryam Moghaddam und Betash Sanaeeha nicht ausreisen durften, schickten sie einen Brief, in dem sie ihren Film „den mutigen Frauen aus dem Iran“ widmeten. Die Komödie beeindruckt durch Alltagsszenen, in denen die Frauen keinen Schleier tragen, und verhandelt das Tabuthema Liebe im Alter erfrischend auf der Leinwand. Die 70-jährige Mahin, eine Frau aus der Mittelschicht, räkelt sich darin anfangs mürrisch im Bett und beschließt irgendwann, auf die Pirsch nach einem Lover zu gehen. Dass sie sich ausgerechnet einen Taxifahrer angelt, ist natürlich kein Zufall. Spätestens seit Jafar Panahis Taxi Teheran, der auf der Berlinale 2015 den Goldenen Bären gewann, gilt das Taxi im Iran als subversiver Ort, von dem aus man die verborgenen Winkel Teherans filmen kann. „Wir sind traurig und müde, aber wir sind nicht allein. Filme verbinden uns, das ist die Magie des Kinos“, heißt es in dem Brief des regimekritischen Regie-Duos.
Als eindrucksvoller erwies sich der Kurzfilm City of Poets von Sara Rajaei. Der nur etwa 20-minütige Film, der im Rahmen der „Berlinale Shorts“ gezeigt wurde, ist eine nostalgische filmische Collage und eine Hommage auf den Iran in einer Zeit ohne Ajatollahs. In einer semi-utopischen Stadt tragen alle Straßen Namen von Dichter/innen und irgendwann von Kriegshelden. In Rajaeis von Frauen dominiertem Kurzfilm, der zu 80 Prozent aus dem Familienarchiv der in den Niederlanden lebenden Exil-Iranerin stammt, verschwinden die Lebensfreuden sukzessive aus dem Alltag.
Die Augen rieben sich einige angesichts der Bären-Vergabe. In Mati Diops Dahomey landet ein Frachtschiff auf dem Flughafen Benins. Gigantische Holzkisten werden ausgeladen. In ihnen befinden sich Schätze, die vor über hundert Jahren den entgegengesetzten Weg nahmen: 26 Skulpturen aus Holz und Metall aus dem Pariser Musée du Quai Branly. Es sind Skulpturen der einstigen Götter des vorkolonialem Königreichs Dahomey, das heute – nachdem die Kolonialherrn wie mit dem Teppichmesser Grenzen zogen – zu Benin gehört.
Als der Transport durch die Hauptstadt rollt, tanzen die Menschen auf den Straßen ...
Die experimentelle Doku überraschte durch poetische Passagen, etwa indem sie Skulpturen Leben einhaucht und sie aus dem Off sprechen lässt. Dahomey ist kein schlechter Film, die Preisvergabe überraschte viele Kritiker/innen dennoch, beeindruckt der Film doch viel mehr als den Zeitgeist treffendes politisch postkoloniales Plädoyer, denn als ästhetisch überzeugendes Werk, das sein Thema ausdifferenziert. „Zurückzugeben heißt, Gerechtigkeit zu üben“, sagte Diop, als sie den Preis entgegennahm. Und ergänzte ihre Dankesrede am Ende noch um ein gängiges postkoloniales Glaubensbekenntnis: „I stand with Palestine.“ Mit Dahomey gewann zum zweiten Mal in Folge ein Dokumentarfilm (nach Sur l’Adamant 2023) den wichtigsten Preis der Berlinale.
Im Verlauf des Festivals wurden Des Teufels Bad des österreichischen Regie-Duos Veronika Franz und Severin Fiala und Zu wem ich gehöre (Mé el Aïn) von der tunesischen Regisseurin Meryam Joobeur als bärenwürdige Anwärter gehandelt.
Wie der radikale Islam das Leben einfacher Bauern beeinträchtigt, ist das Thema in Zu wem ich gehöre. Joobeurs Spielfilmdebüt (in dem unter anderen Adam Bessa spielt, der in Cannes 2022 für den von Tarantula koproduzierten Film Harka den Darstellerpreis in der Kategorie „Un certain regard“ erhielt) handelt von einer Bauernfamilie, die zwei Söhne an den IS verliert. Einer wendet sich von der Terrororganisation ab, kehrt in sein Heimatdorf zurück und bringt das Unglück mit. Gedreht im beengenden 4:3-Format, ist der Film überladen mit melodramatischen Szenen und überdeutlicher Symbolik. Das beginnt damit, dass die Mutter, die langsam an dem Verlust ihrer Söhne zerbricht, sich tief in die Hand schneidet – eine Wunde, die nicht verheilen wird; beim Kaffeesatzlesen blickt sie in eine Tasse und sieht Blut ... Es ist ein Genremix aus Horror, Thriller und surrealen Elementen.
Mit Des Teufels Bad haben Veronika Franz und Severin Fiala eine klaustrophobische dörfliche Gemeinschaft im 18. Jahrhundert inszeniert; eine Schauergeschichte um weibliche Todessehnsucht. Basierend auf historischen Gerichtsprotokollen erzählt der Film bildgewaltig, wie Agnes nach der Hochzeit am harten Alltag verzweifelt und daran, dass ihr wortkarger Ehemann sie nicht berührt. Die Ängste, die sie in der neuen Umgebung verspürt, weiten sich zu einr Depression aus – einer Krankheit, die man im 18. Jahrhundert „des Teufels Bad“ nannte. Für die ausdrucksstarken Einstellungen, die das Innenleben der Hauptfigur widerspiegeln und den harten Arbeitsalltag einfangen, erhielt Kameramann Martin Gschlacht den Silbernen Bären für die beste künstlerische Leistung – die einzige nachvollziehbare Entscheidung der Jury.
Das von Luxemburg koproduzierte Drama Black Tea von Abderrahmane Sissako, ein empathischer Beitrag und zugleich ein antirassistisches Plädoyer, fiel durch seine starke Hauptfigur auf. Denn Aya (Nina Mélo) tritt von Anfang an als selbstbestimmte (obschon als exotische Schönheit inszenierte) Frau auf, die ab dem „Nein“ auf einer bizarren Massen-Hochzeit in der Anfangsszene ihren eigenen Weg geht. Wenngleich die Kritik durch die vielen überästhetisierten Aufnahmen in Innenräumen zu Recht eine gewisse Künstlichkeit bemängelte, so zeichnet der Film doch die Fragilität der Liebesbeziehung zwischen einem Chinesen und einer Afrikanerin nach, und dies sehr sinnlich anhand des Teezubereitens.
Die weitaus spannenderen Beiträge, zumal aus weiblicher Perspektive, liefen in diesem Jahr zweifellos in den Neben-Rubriken des Festivals, etwa im „Forum“ und im „Panorama“. So vermochte vor allem der georgische Film Mother and Daughter, or the Night is Never Complete zu überzeugen. Zusammen mit ihrer Tochter Salome Alexi folgt die Regisseurin Lana Gogoberidse den Spuren ihrer Mutter Nutsa. Sie war eine der ersten Regisseurinnen Georgiens und wurde in den 1930er Jahren als Systemkritikerin in ein Gulag verschleppt. Anhand ihrer langen verschollenen Werke Buba (1930) und Uzhmuri (1934) haben Tochter und Enkeltochter ihr filmisch eindrucksvolles Werk rekonstruiert und wie ein Puzzle zusammengesetzt. Ausgehend von einer vergilbten Fotografie der jungen Nutsa und ihrer Tochter Lana fragt (sich) die heute 94-jährige Filmemacherin, ob es im Leben um Begegnung oder um Trennung geht. Allen politischen Abgründen setzt sie französische Poesie (Eluard), Tanz und Kino entgegen und feiert das Leben.
Der einzige Film, der konsequent den male gaze durchbricht, ist Le paradis de Diane von Carmen Jaquier und Jan Gassmann (Sektion „Panorama“). Der Begriff des male gaze der Me-
dienwissenschaftlerin Laura Mulvey wurde seit ihrem Vortrag „Visuelle Lust und narratives Kino“ (1973) zur Chiffre für das Verhältnis von Kino und Patriarchat. Mulvey analysiert die systematische Objektifizierung von Frauenkörpern im Hollywood-Kino.
In Le paradis de Diane lässt die Hauptdarstellerin, gespielt von Dorothée De Koon, kurz nach der Entbindung ihr Baby zurück, um ziellos durch eine flirrende Küstenstadt zu streifen. Während die Tage vergehen, wird eine Rückkehr Dianes in ihr altes Leben immer unwahrscheinlicher. Carmen Jacquier bricht mit ihrem Film den Mythos um die Mutterschaft auf und zeichnet eine innere Odyssee nach. Der Ausbruch Dianes aus ihrem bürgerlichen Leben ist eine Ode an die Selbstbestimmung und zeigt den (aus-)gelebten Freiheitswillen der Hauptfigur. Der Film ist nicht zuletzt wegen des facettenreichen Spiels der Hauptdarstellerin absolut sehenswert.
In den „Berlinale Shorts“ entführte der Kurzfilm Tako Tsubo von Fanny Sorgo und Eva Pedroza sein Publikum in eine Traumwelt. Darin leidet ein Mann (Herr Ham) an Weltschmerz und muss sich von seinem Herz verabschieden. Zehn handgemalte Tableaus in Wasserfarben verschmelzen hier zu einem sechsminütigen Erlebnis, das trotz seiner kurzen Dauer das laute Getöse des diesjährigen Festivals überdauert.
Fünf Jahre lang hat das Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian die Berlinale durch die Pandemie geführt. Die große Erneuerung des Kinos ist in dieser Zeit ausgeblieben. Ab April wird mit der gebürtigen US-Amerikanerin Tricia Tuttle erstmals in der Geschichte der Berlinale allein eine Frau die Leitung des Filmfestivals übernehmen. Tuttle leitete das British Film Institute und das BFI Flare: London LGBTQIA+ Film Festival. Ob sie neben dieser Weltoffenheit den Mut aufbringt, die Berlinale auch strukturell zu reformieren, muss sich herausstellen.