Schulbücher in islamisch geprägten Ländern enthalten, aus westlicher Sicht, heikle Weltbilder. Sie vermittelten oft judenfeindliche, frauenfeindliche Ansichten und seien „zutiefst ideologisch“. Das schlussfolgert Constantin Schreiber in seinem Buch Kinder des Koran. Der deutsche Journalist, der für seine interkulturelle Sendung Marhaba 2016 den Grimme-Preis erhielt, sorgte vor zwei Jahren mit seinem umstrittenen, teils fehlerhaften Moscheenbericht Inside Islam für Furore. Die Berliner Tageszeitung taz bescheinigte dem ehemaligen Tagesschau-Sprecher böse eine Wandlung vom „Gesicht der Willkommenskultur“ zum „Gesicht der Misstrauenskultur“.
Schneider hätte gar nicht so weit reisen müssen, um aus demokratischer Sicht problematische Auffassungen zu Geschlechterrollen in Schulbüchern zu finden. Ein Blick in den Unterrichtsstoff seines Heimatsland hätte vermutlich genügt. Eine Studie der Max-Träger-Stiftung im Auftrag der Lehrergewerkschaft GEW über Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans und Inter in Schulbüchern stellte 2012 fest, dass bezüglich der Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit die Lage „ambivalent“ sei. Es gebe gute Beispiele, „aber immer noch viele Ansatzpunkte für die Überarbeitung, um Stereotypisierungen zu vermeiden und kritisch in Frage zu stellen, und um soziale Ungleichheit im Geschlechterverhältnis zu thematisieren“. Der Global Education Report der Unesco von 2016 kommt zum Ergebnis, dass Frauen und Mädchen in Schulbüchern und Lehrplänen in vielen Ländern der Welt trotz positiver Änderungen unterrepräsentiert seien, auch in „einigen Ländern mit hohen Einkommen wie Australien“. Sie würden als „sorgende Hausfrauen“ und „passive Konformisten“ dargestellt, während Jungs und Männer „aufregenden, noblen“ Tätigkeiten nachgingen. Unter dem Hashtag Rosa-Hellblau-Falle sammeln Mütter, Väter und Lehrkräfte auf Twitter und Tumblr sexistische Nachrichten aus dem Schulalltag und der Werbewelt, die Rollenklischees bedienen und zementieren.
Genderbezogene Analysen fehlen
In Luxemburg haben Analysen von Schulbüchern und ihren Inhalten keine Tradition. Zum einen ist die Anzahl der Unterrichtsmaterialien, die hierzulande hergestellt werden, überschaubar. Es ist noch nicht lange, dass eine eigene Didaktikabteilung im Service de la recherche et de la coordination pédagogiques et technologiques (Script) des Erziehungsministeriums die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien und Initiativen dieser Art koordiniert und begleitet. Lehrbücher für die Hauptfächer Deutsch, Französisch und Mathematik in der Luxemburger Grundschule gibt es zwar schon lange, aber daneben holen sich viele Lehrer Anregungen und Übungsvorlagen aus dem Ausland. Da Lehrmittelfreiheit gilt, darf das Lehrpersonal neben den offiziellen Schulbüchern des Ministeriums weiteres Unterrichtsmaterial hinzuziehen. Und das tut es auch.
Gab es in der Vergangenheit Kritik an hiesigen Veröffentlichungen, ging es meist um Schwierigkeit und Komplexität der Aufgaben, die zugrundeliegende Didaktik mit einseitigem Fokus aufs Schreiben und komplizierter Grammatik. Die Darstellung von Geschlechterrollen und anderen Klischees wurden nicht hinterfragt. Dabei hätte schon den AutorInnen des Französischbuch-Klassikers Français, darunter Inspektoren, Gewerkschaftsvertreterinnen und Wissenschaftler, auffallen können, dass ihr Buch kaum mit traditionellen Rollenbildern bricht. Frauen und Mädchen kommen darin nur wenige vor; da trifft der verträumte schulmüde Adrien auf eine wunderschöne Fee. In Übungen zum Passé simple gehen Männer ins Fußballstadium, der Minister ist ein Mann, als Berufe werden der Zahnarzt, der Koch, der Mechaniker, der Richter, der Fleischer, der Präsident und der Journalist vorgestellt. Aber auch die Sekretärin, die Informatikerin, die Krankenschwester. Und, hey, eine junge Pilotin zu Beginn ihrer Laufbahn (zwei Ringe an der Uniform).
Solche Blindflecke sind passé. Vergangenes Jahr erschien das neue Buch für den Französischunterricht Salut, c’est parti! im Grundschulzyklus zwei. Es setzt, nach Worten von Script-Vizedirektor Christian Lamy verstärkt auf Interaktion und soll die kommunikativen Kompetenzen der Kinder stärken. „Es soll Kinder spielerisch an Französisch heranführen und sie nicht sogleich mit Schreib- und Grammatikübungen überfordern.“ Dafür bietet das Buch, das eine französische Vorlage des Schulbuchverlags Cle international aufgreift und diese für Luxemburg angepasst und weiterentwickelt hat, alltagsnahe Sprech- und Sprachübungen, Übungen zum Hörverstehen, Lieder und Gedichte. Die ProtagonistInnen gehen auf den Markt einkaufen, sie kochen und gehen in den Zirkus.
Das Buch, an dem eine Arbeitsgruppe aus Sprachforschern und LehrerInnen mitgewirkt hat und zudem eine Online-Webseite efrancais.lu Erläuterungen gibt, ist auch in anderer Hinsicht wegweisend. Jungen und Mädchen sind gleichberechtigt. Sie kommen ähnlich oft vor, sie besetzen Haupt- und Nebenrollen und ihr Handeln ist nicht von vornherein auf bestimmte Einsatzbereiche reduziert. In der Übungseinheit „Bonjour le Monde“, die unterschiedliche Herkunft und Sprachen aufgreift, sind Kinder im Rollstuhl und Kinder mit geistigen Behinderungen selbstverständlicher Teil der Klasse. Ein Novum und folgerichtig, schließlich ist Inklusion gesetzlich vorgeschrieben und an immer mehr Schulen Alltag. „Typische“ Aufteilungen nach Geschlecht, die Vorgängerbücher noch enthielten, sind überholt: Mädchen spielen Fußball, sie können Karate und sie rechnen gern.
Inklusiv und innovativ
Auch andere Schulbücher, die das Erziehungsministerium entwickelt hat, hinterfragen zunehmend Klischees: Im Sprachfuchs für den Zyklus drei fürs Fach Deutsch wünscht sich die Frau eines Holzfällers von einer Fee lieber ein schönes Kleid als das Ende von Armut und Plackerei, ein paar Seiten weiter thematisiert die Geschichte „Mädchentore zählen doppelt“ Stereotypen und Geschlechterdiskriminierung im Sport. Und im Sprachbuch 4 zeigt eine Piratin ihren Kameraden, was ein echter Haudegen ist.
Im Luxemburger Zahlenbuch für den vierten Zyklus, das ein Team Luxemburger Lehrer entlang einer Schweizer Vorlage mit dem Klettverlag entwickelt hat, lösen Mädchen und Jungen gleichermaßen kniffelige Aufgaben. Keine abstrakten, sondern aus dem Leben gegriffene. Im Vordergrund steht die gemeinsame Lösungssuche. In den Beispielen tauchen technikversierte Kamerafrauen und planetenbegeisterte Mädchen ebenso auf wie backende oder einkaufende Jungs.
Das Begleitbuch, das Tipps und Übungen zur Unterrichtsgestaltung bietet, wendet sich ausdrücklich auch an Lehrerinnen, eine Seltenheit unter den pädagogischen Handreichungen, die sonst nur männliche Lehrkräfte zu kennen scheinen. Und das obwohl in den Grundschulen mehrheitlich Frauen unterrichten. Kleines B-Moll: Die Porträts, die den Lernenden berühmte Persönlichkeiten nahebringen, zeigen allesamt Männer. Vom Zoologen Jean Baptiste über den Schweizer Maler und Architekten Max Bill bis hin zum griechischen Astronom Hipparch von Nikala oder den Entwicklungspsychologen Jean Piaget: Gesellschaftlich relevante Beiträge scheinen nur Männer zu liefern. Von Mary Anning über Marie Curie, Lisa Meitner oder Chien-Shiung Wu hat entweder niemand gehört oder ihre Beiträge fanden aus anderen Gründen keine Beachtung. Das ist in der Mathematik besonders bedauerlich, als internationale Bildungsstudien wie Pisa ebenso wie die nationalen Épreuves standardisées alle Jahre erneut einen „Gender Gap“ feststellen: Mädchen schneiden in der Mathematik hinzulande signifikant schlechter ab als Jungen. Eine der Ursachen, darauf weisen Forschungen hin, liegt im Unterrichtsstil, wenn Mädchen beispielsweise nicht ermutigt und gefördert werden, sich ebenfalls einzubringen. Immerhin bemühen sich die AutorInnen des Zahlenbuchs, Mädchen und Jungen ansonsten gleichberechtigt aufzuführen.
Das ist bei den Publikationen anderer Luxemburger Verlage, wie beispielsweise die Übungsreihe Le petit Martin aus dem Saint-Paul-Verlag nicht immer der Fall. Da führt der pausbäckige Martin durch Rechen- und Französischaufgaben, Fußballteams bestehen aus Jungen, Mädchen decken den Tisch, haben rosa Schulranzen und tragen dekorierende Blümchen im Haar. Die abgebildeten Berufe sind eine Reminiszenz an die 1950-er, 60-er und 70-er-Jahre: Der Wissenschaftler ist ein Mann im weißen Kittel, der Bäcker ist männlich, der Arzt und der Gangster ebenso.
Üben am Klischee
Im Übungsheft Französisch geht Mutti einkaufen und bereitet den Salat zu, den der Vater zufrieden isst. Papa ist stolzer Besitzer eines Autos und räumt den Keller auf. Dazwischen werden Aktivitäten dargestellt, an denen Jungen und Mädchen gleichberechtigt teilhaben, dafür orientieren sich die Einsatzfelder der Erwachsenen umso mehr an Stereotypen: Mutti kümmert sich um die kranke Tochter, der Vater geht zum Fußballturnier. Die Fee ist mit zierlicher Nase zufrieden, der Sportlehrer gibt Annweisungen.
„Die Lehrer können selbst auswählen, mit welchen Büchern und Aufgabenheften sie arbeiten wollen. Solange sie dem Plan d’études folgen“, erklärt Script-Vizedirektor Christian Lamy. Manche entwickeln sogar ihr eigenes pädagogisches Material. Ob die Inhalte zeitgemäß sind und frei von Klischees oder Vorurteilen, überprüft das Erziehungsministerium nicht. Das zu schauen, obliegt wenn, dann den Eltern.
Manche werden fündig: Eine Grundschullehrerin in Merl/Belair hatte zum Vatertag eine besondere Idee. Die Kinder sollten verschiedene Aktivitäten zuordnen: „Wat mécht de Papa (blo)? Wat mécht d’Mama (rosa)? Auf den Bildern zur Auswahl standen Tätigkeiten wie Bügeln, Staubsaugen, Hämmern oder Heckenschneiden. Abgesehen davon, dass aufgrund von Scheidung und Trennung die traditionelle Kernfamilie mit Vater, Mutter, Kind die Lebenswirklichkeit vieler Kinder gar nicht widerspiegeln, gibt es andere Familienformen und hat sich dank Elternurlaub und Väterzeit die Arbeitsteilung in Beruf und Familie längst verändert.
Den Vogel in Sachen Geschlechterklischees schoss eine Veröffentlichung aus der Grundschulübungsreihe der Lehrergewerkschaft SNE ab. Ein Vater, und später die Frauenorganisation Cid Fraen a Gender beschwerten sich über ein darin enthaltenes Bild mit dem Zusatz „J’adore mon institutrice“: Ein Junge, der offensichtlich seine Lehrerin anhimmelt, sitzt in der Schulbank. Sie steht mit tiefem Dekolleté, hohen Absatzschuhen und Minirock an der Tafel. Auf die Beschwerde hin änderte der Verlag das Bild – indem es den Rock verlängerte und das Dekolleté schrumpfen ließ. Die problematische (sexualisierende) Rollenzuschreibung blieb indes zunächst unverändert.