Gut genug: frugale Neuerungen sind ein neuer Liebling der Innovationsrhetorik

Not macht erfinderisch

d'Lëtzebuerger Land vom 09.09.2016

Lange sind sie unbeachtet unter dem Radar der westlichen Konzerne geflogen, irgendwo im Hinterland von China oder Indien. Dann verkauften sie billige, aber passable Produkte in Schwellenländern wie Brasilien oder Russland. Und dann eroberten sie als emerging giants plötzlich mit Hightech den Weltmarkt. Kühlschränke von Haier, Smartphones von Xiaomi, Mikrowellenherde von Galanz, Flugzeuge von Embraer oder auch Zement von Cemex: So hatten sich die etablierten Industrieländer die Globalisierung nicht vorgestellt. Forschung und Entwicklung wollten sie eigentlich behalten – der Rest der Welt sollte Rohstoffe liefern, allenfalls verlängerte Werkbank und Absatzmarkt sein. Macht Kapitalismus noch Spaß, wenn man mit anderen Hautfarben und unaussprechlichen Namen konkurrieren muss?

Um den Erfolg der Aufsteiger zu erklären, aber auch zur Diskussion von Abwehrstrategien verbreitet sich ein Schlagwort, das Renault-Chef Carlos Ghosn geprägt haben soll: „frugale Innovation“. Zum „CMI Managementbuch des Jahres 2016“ wurde Frugal Innovation: How to Do More With Less von Navi Radjou und Jaideep Prabhu gekürt. Wer das „Frugal Innovation Forum“ in Bangladesh und das „InnoFrugal“-Treffen in Finnland verpasst hat, kann dazu im Dezember eine internationale Konferenz im indischen Kerala besuchen. Oder das Journal of Frugal Innovation des Springer-Verlags lesen. In Management-Seminaren lässt sich „genügsame Innovation“ nach Belieben kombinieren mit Ökonomie des Teilens, 3D-Druck und Maker-Bewegung, Prosumern, Kreislaufwirtschaft und überhaupt allem, was gerade hip & nachhaltig ist.

Schlichte Produkte waren zunächst nur ein Thema für Entwicklungshelfer. Der Ökonom Ernst F. Schumacher protestierte 1973 in Small Is Beautiful: A Study of Economics As If People Mattered dagegen, teure Großanlagen in arme Länder zu liefern, die sich dafür verschulden müssen – und oft nichts damit anfangen können. In Gegenden mit Unterbeschäftigung werde vielmehr Kleintechnik „zwischen Harke und Traktor“ gebraucht, einfach und billig, arbeitsintensiv und vor Ort zu reparieren. Da sich Vertreter der Dritten Welt mit „Zwischentechnologie“ nicht anfreunden wollten, einigte man sich in langen UNO-Verhandlungen auf „angepasste Technologie“.

An der TU Wien gibt es immer noch eine „Gruppe Angepasste Technologie“. Ansonsten ist dieser Ausdruck mittlerweile weitgehend verschwunden aus Graswurzel-Traktaten und Programmen der Weltgesundheitsorganisation. Wer statt Parfumflaschen oder Heckspoilern lieber etwas Sinnvolles gestalten will, hat nun „frugal“ im Namen. Frugal Digital zum Beispiel ist eine Forschergruppe des Copenhagen Institute of Interaction Design. Das Center for Frugal Innovation in Africa ist eine Einrichtung der Universitäten Leiden, Delft und Rotterdam. Im Silicon Valley arbeitet der Frugal Innovation Hub der Santa Clara University an mehr als 120 Projekten „humanitärer Technologie“.

Harvard-Professor Clayton Christensen brachte 1997 den Begriff „disruptive Innovationen“ ins Spiel: unschlagbar billig, aber „gut genug“ für breite Käuferschichten, gerne zuerst an bisherige Nicht-Kunden verkauft und von naserümpfenden Premium-Herstellern bis zum Untergang ignoriert. Ikea statt Kronleuchter, Skype statt Telefon, Billigflieger statt Lux- oder Swissair, MP3 statt CD-Spieler. Christensen empfahl bedrohten Unternehmen einen „großen Sprung“ zu bislang vom Markt ausgeschlossenen Menschen.

Dass Milliarden Arme ein Milliardenmarkt sein können, erläuterte 2004 auch der Wirtschaftsprofessor Coimbatore K. Prahalad in seinem Bestseller The Future at the Bottom of the Pyramid (deutsch Der Reichtum der Dritten Welt). Wegen des enormen Einkommensunterschieds sei allerdings „unser Verständnis eines guten Preis-Leistungs-Verhältnisses radikal zu überdenken“; statt zu versuchen, abgespeckte Erste-Welt-Versionen zu exportieren, müssten ganz neue Produkte und Dienstleistungen entwickelt werden. Als ein Beispiel nannte Prahalad die Aravind-Augenkliniken in Indien, die Grünen Star für nur 50 US-Dollar operieren. Die indischen Narayana-Kliniken würden auch in den USA Herzoperationen ab 2 000 Dollar anbieten, wenn man sie ließe – immerhin haben sie aber bereits eine Filiale auf den Kaiman-Inseln.

Der Kleinwagen Tata Nano hat zwar bislang mehr Automanager beeindruckt als Käufer. Indien ist aber ein fruchtbarer Boden für „Bottom-Innovationen“. Ein Beispiel für „jugaad“, wie genial-einfache Lösungen auf Hindi heißen, ist Chotu-Kool: Der Minikühlschrank ist neun Kilo leicht, hat nur 20 Teile, braucht keinen Stromanschluss und ist für 70 Euro zu haben. Der Wasserreiniger Tata Swach funk­tioniert mit Reisschalen-Asche und Silber-Nanopartikeln. Selco versorgt ganze Landstriche mit Solarlampen. Mit Sonnenenergie arbeiten auch die Grammateller, die trotz Finger-Scanner nicht einmal halb so viel kosten wie herkömmliche Geldautomaten.

Nach einer Weile dämmerte westlichen Managern, dass es bei frugaler Innovation nicht nur darum geht, kaufschwachen Slum-Bewohnern Gutes zu tun. Wer sich in den aufstrebenden Marktökonomien trotz mangelhafter Infrastruktur, fehlender Rechtssicherheit, Giftschlangen, Hitze und Staub erfolgreich behauptet – der wird früher oder später auch die gealterten Industrieländer aufmischen. Vor ein paar Jahren stellte etwa Caterpillar bestürzt fest, dass sich in China der eigene Marktanteil auf wenige Spitzenprodukte beschränkte – um den sehr viel größeren, rasch wachsenden Massenmarkt balgten sich asiatische Gut-genug-Hersteller. Die sich dann prompt daran machten, auch den Rest des Baumaschinen-Geschäfts anzugreifen, und das weltweit.

Was haben die agilen Exoten, was wir nicht haben? Dieser Frage ging die Studie AsiaNBC nach, die dänische Konzerne mit asiatischen Herausforderern verglich. Sie fand, dass westliche Firmen gerne eine „Push-Strategie“ verfolgen: zwei, drei Jahre lang ein Produkt perfektionieren und dann schauen, ob es vielleicht jemand kaufen möchte. „Ich glaube nicht, dass die Kunden wissen, was sie wollen“, gab ein Designer von Bang&Olufsen zu Protokoll. Die Asiaten würden sich dagegen durch „extrem flexible und reaktionsfähige Kundenorientierung“ auszeichnen: Als sich Bauern bei Haier beschwerten, dass Waschmaschinen beim Reinigen von Kartoffeln verstopfen, wurde ihnen nicht nahegelegt, gefälligst die Bedienungsanleitung zu beachten – Haier entwickelte umgehend ein Modell, das Kleider und Kartoffeln verkraftet. Rostfrei und gegen Ratten geschützt, also auch im Freien aufzustellen.

Inzwischen lassen westliche Konzerne zunehmend in armen Ländern forschen und entwickeln, um die Ergebnisse dann in die ganze Welt zu exportieren. Siemens tüftelt in China und Indien unter dem Label „Smart“, was für „simple, maintenable, affordable, reliable, timely to market“ steht. Herausgekommen sind dabei bislang zum Beispiel ein Röntgengerät, das ein Drittel billiger ist als das Vorgängermodell, und ein Herzmonitor, der statt Ultraschall mit einem einfachen Mikrofon funktioniert. Im GE-Technologiezentrum in Bangalore wird unter anderem an Flugzeugmotoren gearbeitet. Wenn schon das eigene Angebot kannibalisiert wird, dann macht man das am besten selbst.

GE-Healthcare entwickelte in Indien billige, tragbare EKG- und Ultraschall-Geräte, die nun auch in US-Krankenwagen eingesetzt werden. Etwas süffisant bemerkt Venkata Gandikota, der Gründer der finnischen „Nordic Frugal Innovation Society“, dass in den so genannten entwickelten Ländern die Kaufkraft stark nachlasse, weshalb auch dort immer mehr Menschen preiswerte Lösungen gut gebrauchen könnten. Unilever verkauft in Spanien und Griechenland Kleinpackungen, mit denen davor in Indonesien Erfahrungen gesammelt wurden.

Vijay Govindarajan, früher Berater bei GE und nun Professor an der Tuck School of Business in Dartmouth, prägte für „Trickle-up“-Neuerungen, die von armen auf reiche Märkte kommen, den Begriff „Reverse innovation“. Die größte Hürde für etablierte Konzerne, mit 100 Prozent der Leistung zu zehn Prozent der Kosten neue Kunden anzusprechen, sei nicht Technik, sondern Management und Organisation: Bisherige Erfolge müssten vergessen, die Entwicklungsarbeit ganz neu begonnen werden – am besten von dezentralen Ingenieursgruppen direkt in den aufstrebenden Ländern.

Dass in Entwicklungsländern neue Mittelschichten und Konzerne rasant wachsen, andererseits viele Europäer verelenden, schreckt die EU-Kommission auf. Von der britischen Innovationsstiftung Nesta und dem Karlsruher Fraunhofer-Institut für System- und Innova­tionsforschung lässt sie gerade untersuchen, ob sich Armut kreativ profitabel machen ließe. Der im Juli veröffentlichte Zwischenbericht sieht in Europa bislang „wenig echte Innovationen für Konsumenten mit geringem Einkommen“. Anregungen könne man vielleicht in der kargen Vergangenheit finden, etwa bei der britischen Kriegswirtschaft, Tüftlern auf der Schwäbischen Alb oder den kommunistischen Regimen Osteuropas. Ein Abschlussbericht wird für Frühjahr 2017 versprochen.

Für Rajnish Tiwari von der TU Hamburg sind „bezahlbare, robuste, benutzerfreundliche und auf Kernfunktionen fokussierte Produkte“ nicht nur für arme Konsumenten interessant, sondern auch für umweltbewusste Wohlhabende, die genug haben von geplanter Obsoleszenz und überflüssigem Schnickschnack. Das von Tiwari mitbegründete Center for Frugal Innovation untersucht gerade zusammen mit dem Leipziger Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie Neuerungen der Autozulieferindustrie. Dieses von der EU-Kommission und der deutschen Regierung geförderte, bis Mitte 2017 laufende Forschungsprojekt heißt ohne jede Ironie „Potenziale, Herausforderungen und gesellschaftliche Relevanz frugaler Innovationen im Kontext des globalen Innovationswettbewerbs“. Möglicherweise müssen die Europäer noch an den Punkten Einfachheit und Schnelligkeit arbeiten.

Das Honeybee-Network sammelt „Indovationen“: www.sristi.org
Martin Ebner
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