Leer, Noémie: Edgar M. Weiss, Zimmer 58

Vita brevis

d'Lëtzebuerger Land vom 26.03.2009

Wer sich nicht sicher ist, ob er ein Buch wirklich kaufen soll, wirft gewöhnlich einen Blick auf die erste Seite. Das Incipit erlaubt meist schon eine ziemlich akkurate Vorstellung davon, ob es sich lohnt, Zeit und Geld in die Lektüre zu investieren. 

Es gibt Leser, die Edgar M. Weiss, Zimmer 58, den neuen Roman von Noémie Leer, sofort wieder zuklappen und zurück ins Regal stellen werden, nachdem sie die erste Seite überflogen haben. Daran sollte man sie nicht hindern. Möglicherweise gibt es aber auch solche, die großzügig über die kleinen Widersinnigkeiten und holprigen Satzkonstruktionen hinwegsehen und den „Sylvesterabend“ als verzeihlichen Lapsus abtun können. Als potentielle Leser seien sie gewarnt: Wer sich ernsthaft überlegt, dieses Buch zu lesen, dem sei dringend empfohlen, es vorher auf Seite 111 aufzuschlagen und sich das Nachwort der Autorin zu Gemüte zu führen. Hier wird nämlich die Erwartungshaltung definiert, die der geneigte Leser dem Roman entgegenbringen soll: 

Man möge das Buch „als Stilexperiment ansehen, als Versuch, Gedankenläufen eine Form aufzuzwingen und deshalb nicht all zu ernst nehmen“ [sic]. In dieser seltsamen Forderung offenbart sich ein kolossales Missverständnis der Autorin über die Natur literarischer Produktion. Auch der geduldigste Leser wird sich, nachdem er einen Nachmittag für eine gewiss nicht unanstrengende Lektüre aufgewendet hat, nicht gern in der Rolle der Laborratte für einen Versuch sehen, bei dem es in Wahrheit um gar nichts ging. Halbherzige Engagements haben mit Literatur nichts zu tun; Texte, von denen selbst der Autor meint, sie seien womöglich nicht ernst zu nehmen, gehören in den Papiercontainer oder bestenfalls in eine verschließbare Schublade –, aber nicht in eine Buchhandlung.

Dabei tut es nichts zur Sache, ob es dem Text in „verschiedenen Abschnitten an Morbidität, Geschmacklosigkeit oder Blasphemie nicht fehlt“ oder ob er „teilweise plakativ rüberkommt“, wie die Autorin weiter schreibt. Den Krebstod eines unsympathischen, triebgesteuerten Börsenmaklers zu beschreiben, ist nichts Verwerfliches. Phantasien von Sex mit vollbusigen Krankenschwestern oder der eigenen Mutter und ein derbes Vokabular lassen sich ohne weiteres als mögliche Bestandteile einer guten Erzählung werten. Auch ihr besonderes Augenmerk für die leiblichen Bedürfnisse ihrer Hauptfigur kann man Noémie Leer – wenigstens aus literarischer Sicht – nicht vorwerfen. Charlotte Roche hat unlängst bewiesen, dass man mit detailfreudigen Schilderungen verschiedenster elementarer Körperfunktionen ein erstaunlich großes Publikum beglücken kann. Ebenso kann man nicht ausschließen, dass sich der eine oder andere von den vulgären Phantasien des Edgar M. Weiss belustigt fühlt. 

Noémie Leer irrt, wenn sie meint, die größte Gefahr bei der Lektüre bestünde darin, dass sich der Leser durch den Inhalt ihres Romans angegangen fühlen könnte. Das Problem ihres „Stilexperiments“ besteht nicht (oder zumindest nicht vornehmlich) in den „Gedanken“, die sie diesem zugrunde legt, sondern in der „Form“, in der diese „Gedanken“ dargeboten werden. Der Telegrammstil, der den Roman über weite Teile beherrscht, mag zu Beginn vielleicht noch ganz unterhaltsam sein; der seitenweise durchgehaltene Verzicht auf konjugierte Verben wirkt jedoch auf Dauer nur noch extrem unnötig und ermüdend. Sätze wie: „Warum weiteres Dahinvegetieren in diesem sterilen Weiß dieser Krankenanstalt? Wieso ich nicht friedliches Sterben zu Hause?“ oder: „Heim? Wo das? Da, wo keine Bianca mehr, sondern nur ich allein.“ fördern den Brechreiz des Lesers vermutlich mehr als die sinnigen Beschreibungen des Kaffeegeschmacks, den die Hauptfigur im Krankenhaus vorgesetzt bekommt (z. B. „Kaffee mit Geschmacksrichtung Eulenpisse“). Die vergleichswei­se guten Ideen der Autorin, wie etwa die sprachlichen Ausfälle des Patienten durch Rechtschreibschwächen wiederzugeben, können vor diesem Hintergrund kaum noch zur Geltung kommen. 

Schuld an der mühsamen Lektüre des Romans ist jedoch nicht nur die Autorin. Auch ein nur mäßig aufmerksamer Lektor hätte Genitivbildungen à la „Bianca’s“ und „Hitler’s“ ausmerzen können. Von Komma- und Genusfehlern abgesehen, hätte er Ausdrücke wie „in die Wäsche gucken“ korrigiert und „guarantee“ statt „garanty“, „ecstasy“ statt „exstasy“ eingefügt. Er hätte der Autorin davon abraten können, die Verknappung der Sprache so sehr zu forcieren, dass der Erzählduktus zu einem anstrengenden Staccato mutiert. Gab es einen Lektor? Nahm auch er die Sache nicht „all zu ernst“?Für Bücher, hinter denen weder der Autor noch der Verlag mit voller Überzeugung stehen, ist das Leben jedenfalls zu kurz. Man spart Zeit, Geld und Nerven, wenn man sie meidet.

Noémie Leer: Edgar M. Weiss, Zimmer 58; Éditions Schortgen, Esch-sur-Alzette 2008. 

Elisabeth Schmit
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