Mit reichlich Verspätung soll die Uni ab Frühjahr 2015 umziehen. Damit in Esch Studentenflair aufkommt, muss noch viel geschehen

Escher Gespenster

d'Lëtzebuerger Land vom 20.06.2014

Sie kicken Fußball, springen von den bronzenen Skulpturen, kugeln sich auf dem verlegten Gras. Hässlich oder nicht, die portugiesischen Kids haben den Brillplaz in Esch an diesem sonnigen Abend ein stückweit für sich erobert. Zwei Besucher des Cafés Op der Brillplaz können dem künstlichen Parkambiente nicht viel abgewinnen. Besonders die Beton-Würfel an den Seiten der Grünfläche stören ihre Augen. „Die verschandeln den Platz und versperren die Sicht“, sagt die eine. Immerhin, dass die Kinder den Platz zum Spielen nutzen, finden beide prima.

Doch den Würfeln gehört die Zukunft, ihnen ist eine Rolle in der Entwicklung der Stadt zugedacht. In dem einen soll ein Imbiss Sushis zubereiten, im anderen Würfel wird ein weiteres Café eröffnet. Das soll, so ist der Plan, besonders Studenten anlocken, die mit der Universität in den Süden ziehen. Wenn sie denn nach Esch kommen.

Im Rahmen der Vorstellung der ersten Ergebnisse des Escher Sozialberichts Ende Mai sorgte nämlich eine kleine Grafik für Aufregung. Die Forscher um den Soziologen Helmut Willems von der Uni Luxemburg hatten bei der Auswertung von Bevölkerungsdaten festgestellt, dass seit 2005 mit 4 014 mehr Menschen aus Esch fortgezogen sind als hinzugewandert (2 773). Wer kam, waren neben Erwerbstätigen mehr Rentner, Arbeitslose und Studenten. Doch Studierende und Akademiker stellen mit rund einem Fünftel auch einen großen Anteil der Abwanderer. Gleichzeitig ist die Not auf dem Wohnungsmarkt alarmierend groß. Mit 688 Euro ist eine Kaltmiete in Esch rund 200 Euro preiswerter als in der Hauptstadt, aber beim Quadratmeterpreis nehmen sich die beiden Städte nicht mehr viel. Ein Bericht des Belvaler Forschungsinstituts Ceps-Instead warnt vor sozialen Polarisierungen, die mit der Wohnraum- und Bevölkerungsentwicklung verbunden seien (d’Land vom 16.05.).

„Die Zahlen geben ein verzerrtes Bild“, betont die Escher Bürgermeisterin Vera Spautz (LSAP). Die letzte Volkszählung ist fast 15 Jahre her, die Daten müsse man „mühselig zusammensuchen“. Bei der rasanten Bevölkerungsentwicklung gebe es viele Unbekannte. Sicher sei, dass sich Esch verjünge: Weil dort jede Menge kinderreiche Familien wohnen, viele davon mit portugiesischen oder kapverdischen Wurzeln, aber eben auch Heranwachsende und Singles. Besonders für Familien fehlt es an bezahlbarem Wohnraum; der erwartete Akademiker-Boom erschwert ihre Aussichten wohl noch.

Esch future ville universitaire steht auf den Bänken in der Haupteinkaufsmeile. Sie wirkt um diese Abendzeit wie ausgestorben. Doch eben dieser Zukunft blicken manche mit wachsender Sorge entgegen. „Jetzt soll die Uni also nächstes Jahr kommen. Hoffen wir, dass es dieses Mal stimmt“, sagt ein Passant achselzuckend, von den immer neuen Ankündigungen zum Uni-Umzug sichtlich genervt. Seine Begleiterin stimmt ihm zu: „Die Stadt redet viel über die Uni, aber wir haben noch nicht viele Studenten gesehen.“ Das Uni-Projekt als eine Art Schlossgespenst, über das alle tuscheln, das aber niemand gesehen hat?

„Es gibt vielleicht falsche Erwartungen“, warnt Eric Tschirhart von der Uni Luxemburg. „Der Umzug nach Esch-Belval wird nicht an einem Tag, sondern in Etappen erfolgen. Es kommen auch nicht nur Studenten, sondern auch Professoren, Techniker und ihre Familien.“ Der Vizerektor koordiniert den Uni-Umzug, ein komplexes und kompliziertes Mammutprojekt, das nicht nur rund 7 000 Menschen direkt betrifft und Milliarden kostet, sondern Folgen für die gesamte Südregion haben wird.

Trotzdem sitzt Tschirhart gut gelaunt am Konferenztisch in seinem Büro, zusammen mit Anne Christophe, der Leiterin des Studentenwerks, und der Pressesprecherin Britta Schlüter. Neben ihm liegen die Pläne für eines von zwei Studentenheimen, das die Universität auf dem Belvaler Campus bauen lässt. Komfortable Einzelzimmer werden durch Gemeinschaftsküchen und -bäder ergänzt. Zudem sind Versammlungsräume für Vereine und andere Aktivitäten, sowie ein Café geplant, in dem sich die jungen Leute nach dem Lernen oder zur Pause treffen können. Rund 230 Studenten sollen dort wohnen. Im September sollen die ersten einziehen.

Wobei die Uni mit dem Umzug bereits begonnen hat. Das Forschungszentrum für Bio-Medizin war 2013 als erstes auf die einstige Industriebrache umgezogen. Studenten können in der alten Escher Post unterkommen, die rund 30 angehenden Wissenschaftlern aus aller Welt Unterkunft bietet.

Die Ängste mancher Escher, ihre Stadt könnte von der Uni doch nicht in dem Maße profitieren, die angestammte Bevölkerung im Kampf um knappen Wohnraum den Kürzeren ziehen und neue finanzkräftigere Zuwanderer die Preisspirale ankurbeln, sieht auch Tschirhart. Deshalb wurde der Mietpreis der Uni-eigenen Studentenwohnungen seit 2005 gedeckelt und liegt derzeit bei rund 380 Euro für ein Zimmer mit Internetanschluss und gemeinsamer Küchen- und Badbenutzung. „Das war eine bewusste Entscheidung, weil wir die Preise am Markt nicht in die Höhe treiben wollen und Wohnraum gerade für junge Leute erschwinglich sein muss“, sagt Anne Christophe vom Studentenwerk.

„Studenten bringen Geld mit, aber ihr Budget ist nicht übermäßig groß. Das müssen die Escher Geschäftsleute wissen“, gibt Tschirhart zu bedenken. Der Student von heute ist urban, glaubt sich mondän, jettet dank Billigflieger und mit Reiserucksack nach Berlin, London, Paris und anderswo, hat Ansprüche und viele Vergleichsmöglichkeiten. Aber nicht unbedingt mehr Geld.

Das macht die Herausforderung für Esch nicht kleiner. Seit Jahren arbeiten Politiker, Architekten, Stadt- und Verkehrsplaner, Geschäftsleute Hand in Hand, um den Uni-Standort vorzubereiten. Straßen wurden ausgebaut, Plätze verschönert, neuer Wohnraum erschlossen, denn die 7 000 Studierenden, die insgesamt bis 2017 erwartet werden, brauchen ein Dach überm Kopf. Neben Esch-Belval und der Post sollen das Hotel Mercure mit 40 Plätzen und drei Häuser in der Kanalstraße und der Mühlenstraße bald bezugsfertig sein. Insgesamt hat die Stadt bislang rund 190 Studentenwohnplätze geschaffen. Auf den Nonnewisen, wo die Stadt gemeinsam mit dem Fonds du Logement gebaut hat, sind neben jungen Familien auch Studierende eingezogen – und es sollen noch mehr werden. Bis 2017 sollen 670 weitere Studenten-Wohneinheiten entstehen.

„Wir möchten einen gesunden sozialen Mix und keine Studenten-Ghettos“, betont Bürgermeisterin Spautz. Dahinter steht die Befürchtung, Studierende könnten in Belval „hängenbleiben“ und für andere Aktivitäten lieber in die Hauptstadt fahren, wo Partymeilen und Museen locken. Deshalb sucht die Stadt Partnerschaften mit der Uni, wie es sie im Sport gibt: Die Uni-Mannschaft trainiert bei der Jeunesse Esch, über eine Frauenmannschaft wird nachgedacht. „Wir müssen mehr Angebote schaffen, damit die jungen Leute ins Stadtzentrum kommen und hier verweilen“, ist Spautz übergezeugt.

Denn Esch hat Nachholbedarf: An Bars und an Kneipen mangelt es nicht. Ob allerdings Zubito-Automaten und Plastikstuhlambiente jungen Hipstern gefallen, die heute Café Latte trinken und morgen Lilette schlürfen, darf bezweifelt werden. In Berlin wurde der portugiesische Cortado zum Kultgetränk der urbanen Bohème. Diskotheken gibt es in Esch keine, die Kulturfabrik liegt für viele zu weit vom Schuss, die Speisekarte des angegliederten Restaurants richtet sich eher an Leute mit dickerem Portemonnaie. Das Pitcher im Stadtzentrum ist als Stammlokal bei Jung und Alt beliebt, aber eine angesagte Bar reicht nicht, um den Durst hunderter Studentenkehlen zu löschen. Schon jetzt findet sich abends kein freier Stuhl mehr, bei zu viel Lärm vor der Tür ärgern sich die Anwohner. Wohnquartier und Freizeitspaß liegen, abgesehen von der Rockhal, die mit ihren Konzert- und Clubangeboten bis tief in die Großregion hineinstrahlt, in der Minettemetropole oft eng beieinander. Das einstige Szene-Café Diva ist geschlossen, die Stadt hat das Haus gekauft. „Wir bauen um, außerdem sollen dort Wohnungen für Jugendliche entstehen“, sagt Georges Kass vom Escher Jugenddienst. Diese richten sich nicht an Studierende allein, sondern überhaupt an junge Wohnungssuchende. „Die Nachfrage ist riesig.“

Auch das ist eine oft gehörte Sorge: dass die Stadtverwaltung über das Uni-Projekt die anderen Einwohner vergisst. Immerhin fließen Millionen in den Bau der Jugendherberge, die Aufwertung des Brill-Platzes, dem Umbau des Rathausplatzes. Die Stahlstadt ist traditionell eine Arbeiterhochburg, auch wenn der Dienstleistungssektor in den vergangenen zehn Jahren mit dem Zuzug der Banken und neuer Geschäfte (Belval-Plaza) kräftig zugelegt hat. Esch hat aber auch doppelt so viele Arbeitslose und RMG-Empfänger wie der Landesdurchschnitt. Im Sozialamt türmen sich die Anträge, 2011 wandten sich rund 1 500 Haushalte ans Amt, die Steigerungsrate liegt laut Rathaus jedes Jahr bei rund 30 Prozent. Neben der Wohnraumverknappung drohen weitere Verteilungskonflikte. Hinzu kommen Spannungen zwischen Einwohnern unterschiedlicher Herkunft und Bedürfnisse. Eine Umfrage ergab, dass insbesondere ältere Bewohner sich in der Stadt nicht mehr sicher spüren, obwohl die Kriminalitätsrate in Esch nicht höher ist als sonst im Land. Aber Ansammlungen von Jugendlichen, die dazu womöglich Joints rauchen und herumlärmen, werden eben von manchen als störend oder gar bedrohlich empfunden.

„Von Infrastrukturen wie Schulen und Kindergärten profitieren nicht nur Uni-Angestellte, sondern alle Einwohner der Stadt“, hatte Vera Spautz in einem früheren Land-Interview unterstrichen. Die Sozialistin, die sich wie kaum eine andere für die Benachteiligten in Esch eingesetzt und, teils gegen den Willen der politischen Klasse, unpopuläre, aber für die Stadt notwendige Angebote wie den Drogenkonsumraum oder das Obdachlosenasyl vorangetrieben hat, warnt seit Jahren vor einer zunehmenden sozialen Spaltung der Stadt.

Esch hält mit diversen Projekten dagegen: Die Jean-Jaurès-Grundschule ist eine von zwei Luxemburger Ganztagsschulen und im ganzen Land für seine inklusive Pädagogik bekannt. Die Zahl der Kinderbetreuungsplätze wurde ausgebaut. Die Escher Bësch-Crèche war die erste ihrer Art, inzwischen gibt es Nachahmer in Larochette und Schifflingen. Kürzlich öffnete ein Waldorf-Kindergarten in der Nähe von Belval, in Oberkorn, seine Türen.

Innovation und Kreativität werden ebenfalls gefragt sein, um sich auf die neue Kundschaft einzustellen. Das heißt, kommerzielle Angebote diversifizieren, verstehen, wie der Student und die Professorin ticken – und andere Kunden nicht aus den Augen verlieren. Die Naturkostkette Naturata eröffnete im Sommer eine Filiale direkt neben dem Bahnhof Esch-Belval. Der Geschäftsverband nimmt neuerdings auch Ketten als Mitglieder auf und verspricht sich davon neue Impulse. Studenten könnten als Hilfskräfte anheuern. Warum nicht schwachen Schülern bei den Hausaufgaben helfen?

Ideen gibt es viele: Studentenermäßigungen beim Frisör oder im Theater. Der Transport von Esch zur Rockhal ist für Konzertbesucher gratis. „Wir liegen wunderbar, andere Spielstätten sind schlechter angebunden“, sagt Marketingleiter Thomas Roscheck. Um die unterschiedlichen Musikgeschmäcker zu bedienen, bietet die Rockhal kleinere und größere Events in allen Genres, wobei Metallbands eher in der Escher Kufa auftreten. Im kleineren Rockhal-Club spielen häufig Newcomerbands. Die Carte culture jeunes bietet Zwölf- bis 30-Jährigen Kultur zu reduzierten Preisen. Seit Kurzem gibt es ein Magazin, das Escher Tanz-, Musik-, Film- und Festivalangebote auflistet. Beim Projekt Jugendreporter testen Escher Jugendliche die Kulturangebote ihrer Stadt, Kritik und Tipps werden dann dem Schöffenrat unterbreitet. Potenzial hat Esch also viel, verlassene Fabriken in der näheren und weiteren Umgebung wecken zusätzlich den Entdeckergeist.

Die Handvoll Escher Schüler, die auf der Terrasse der Bar 66 gelangweilt Shisha-Pfeife paffen, haut das trotzdem nicht vom Plastikstuhl. Sie haben ihr strenges Urteil gefällt: „Hier ist nichts los“, maulen sie. „Wenn wir Spaß und Action haben wollen, fahren wir in die Hauptstadt.“ Aber bis zu ihrem Studium sind ja noch ein paar Jahre Zeit.

Ines Kurschat
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