Die etwas skurrile Frage, ob der Großherzog über das Wahlrecht verfügt, entmystifiziert eine ganze Staatsform

Der Bürgerkönig

d'Lëtzebuerger Land du 13.06.2014

Wenn in einer Woche der Nationalfeiertag gefeiert werden wird, soll die traditionelle Einheit von Thron, Altar und Schwert gelockert werden: Für Patrioten, die nicht an Gott glauben, findet erstmals am Vormittag eine Feier im Stadttheater statt, für gläubige nach der Militärparade ein Te Deum in der Kathe­drale. Wie lange wird es also dauern, bis der Ruf nach einer ebenso kundengerechten Parallelveranstaltung für Patrioten laut wird, die nicht an die Monarchie glauben? Denn die Monarchie ist inzwischen so umstritten wie seit fast einem Jahrhundert nicht mehr.

In seiner Weihnachtsansprache 2004 hatte Großherzog Henri für den Europäischen Verfassungsvertrag geworben und angekündigt: „An deem Geescht soen ech iech, léif Matbierger, datt Ech um Referendum deelhuele wäert.“ Nach der Volksbefragung 2005 war das sonst oft auf politische Neutralität bedachte Staatsoberhaupt dann plötzlich nur noch der Großherzog jener Hälfte seiner lieben Mitbürger, die für den Vertrag gestimmt hatte.

Entgegen seiner Ankündigung durfte der Großherzog aber auch nicht an der Abstimmung teilnehmen. Weshalb eigentlich? Diese Frage stellt sich der Verfassungsrechtler Luc Heuschling und macht sich über 300 Buchseiten auf die Suche nach einer Antwort, die bisher für die einen selbstverständlich und für die anderen unerheblich ist. Doch gerade wenn es um die höchste Instanz im Staat geht, fehlen plötzlich verfassungsrechtliche und gesetzliche Regeln, ersetzten undurchsichtige Traditionen und Abmachungen hinter verschlossenen Türen demokratische Prinzipien. So fördert Heuschling mit dem sehr abstrakt scheinenden Instrument des Verfassungsrechts allerlei politischen Sprengstoff zu Tage.

Der Professor an der Universität Luxemburg hatte zuerst Aufsehen erregt, als er auf das Fürstenrecht als eine obskure, in anderen Ländern längst abgeschaffte Parallelverfassung der Dynastie aufmerksam gemacht hatte (d’Land, 29.6.12). Nun greift er den fast anekdotisch scheinenden Vorgang, dass der Großherzog an einem Referendum teilnehmen wollte, wie einen unscheinbaren, losen Faden auf und geht ihm nach, bis sich der ganze Schleier hebt, der den zentralen Widerspruch einer mystifizierten Staatsform vor indiskreten Blicken schützt.

Der Verfassungsrechtler durchsuchte die Wählerlisten im Stadtarchiv und fand heraus, dass Mitglieder der großherzoglichen Familie bald das aktive Wahlrecht ausüben, bald es unterlassen. Aber es gibt weder für die eine, noch für die andere Haltung eine klare rechtliche Grundlage. Oft verstößt die Dynastie beziehungsweise die für sie haftende Regierung gegen die Verfassung und das Gesetz.

Dass jede eindeutige Rechtsgrundlage fehlt, erklärt sich zuerst historisch: Als im Laufe des 19. Jahrhunderts die Verfassung entstand, kam niemand auch nur auf die Idee zu fragen, ob ein Monarch über das Wahlrecht verfügen soll. Denn Wahlen und das Parlament waren etwas, das die Untertanen dem König-Großherzog abgetrotzt hatten, vor allem in der Revolution von 1848. Die Verfassung war ein Vertrag zwischen dem Monarchen und dem Volk, in dem der König-Großherzog einen Teil der Staatsgewalt an das Parlament abtreten musste.

So entstand ein dualistisches Prinzip, nach dem sich einerseits der Großherzog und andererseits die Volksvertreter die Staatsgewalt teilten und gemeinsam an der Gesetzgebung beteiligt waren. Unter diesem Prinzip, das ebenso wenig wie die Gewaltentrennung explizit in der Verfassung erwähnt wurde, aber sie bestimmte, kam es niemand in den Sinn, dass der Großherzog an der Wahl der Volksvertreter teilnehmen sollte. Schließlich gehörte er gar nicht zum Volk – und wahrscheinlich hasste er Wahlen als eine besonders unverfrorene Art der Majestätsbeleidigung.

Auch in der Revolutionsstimmung von 1918, als das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, interessierte sich niemand für das Wahlrecht der Großherzogin. Die Monarchie hatte sich so diskreditiert, dass vor allem ihre Abschaffung debattiert wurde.

Um so überraschender ist, was Luc Heuschling bei der Untersuchung der Wählerlisten nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckte: Ohne dass die Verfassung oder das Wahlgesetz auf diesem Punkt geändert worden wären, tauchten ab 1945 Prinzgemahl Félix, die Erbgroßherzoge Jean und Henri, volljährige Geschwister, Kinder des Großherzogs sowie deren Ehegatten auf den Wählerlisten auf. Obwohl die Listen laut Wahlgesetz in alphabetischer Reihenfolge geordnet sein müssen, werden die Mitglieder der Dynastie entweder am Kopf der Listen, noch vor dem Buchstaben „A“, oder unter „S“ für „Son altesse royale“ aufgeführt.

Laut Gesetz ist zwar die Stadtverwaltung für die Aufstellung der Wählerlisten verantwortlich. Aber man kann davon ausgehen, dass nicht irgend ein Gemeindebeamte die Initiative zu diesem Eintrag ergriffen hatte, sondern die Anweisung vom Staatsministerium und dem großherzoglichen Palais kam. Doch ein entsprechender Schriftverkehr wurde nie öffentlich gemacht. Dafür veröffentlicht die Presse seit Jahrzehnten stolz Fotos, wie die verschiedenen Prinzen zur Wahl schreiten. Zu den vorgezogenen Kammerwahlen im Oktober 2013 verschickte der Pressedienst des Hofes eine Einladung an die Redaktionen: „11h00: Cercle Municipal-Ratskeller (Place d’Armes, Rue du Curé-Luxembourg) – À l’occasion des élections législatives, Leurs Altesses Royales le Grand-Duc Jean, le Grand-Duc Héritier, la Grande-Duchesse Héritière, le Prince Félix, le Prince Louis et la Princesse Tessy, la Princesse Alexandra et le Prince Sébastien iront déposer leur bulletin de vote au bureau de vote ‚Ratskeller’ du Cercle Municipal à Luxembourg-Ville.“

Da die Gesetzgebung 1945 nicht geändert hatte, muss man davon ausgehen, dass entweder die neue Anwesenheit oder die alte Abwesenheit der Dynastie auf den Wählerlisten ungesetzlich war oder sogar gegen die Verfassung verstieß. Mangels einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage sind die Wählerlisten nicht immer kohärent: Der männliche Ehepartner von Großherzogin Charlotte durfte wählen, die weiblichen Ehepartner der Großherzoge Jean und Henri nicht. Nach ihrer Abdankung blieb Großherzogin Charlotte von den Wahlen ausgeschlossen, Großherzog Jean tauchte nach seiner Abdankung wieder in den Wählerlisten auf. Erbgroßherzog Jean wurde 1956 von der Wählerliste gestrichen, die Erbgroßherzöge Henri und Guillaume durften wählen...

Da dieser Gesinnungswechsel 1945 im Geheimen erfolgte, bleibt auch seine Ursache unbekannt. Luc Heuschling vermutet einen juristischen Grund darin, dass mit der Revision von 1919 Artikel 32 der Verfassung von „Der König-Großherzog übt die souveräne Staatsgewalt...“ abgeändert wurde in: „Die souveräne Gewalt beruht in der Nation.“ Dadurch stehe die Dynastie nicht mehr außerhalb der Nation, sondern sei Teil von ihr geworden. Die politische Erklärung könnte lauten, dass die aus dem Exil heimgekehrte Dynastie sich in politisch unsicheren Zeiten so volkstümlich geben wollte, dass sie sogar an der Wahl der Volksvertreter teilnehmen wollte.

In allen Wählerlisten fehlt aber der Großherzog selbst. Weshalb tauchten Großherzogin Charlotte, die Großherzoge Jean und Henri nie auf den Wählerlisten auf? Weder in der Verfassung, noch im Wahlgesetz steht, dass der Großherzog vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Die inoffizielle Erklärung ist, dass der Großherzog bei seinem Amtsantritt jeweils die Stadtverwaltung in einem Brief bittet, von der Wählerliste gestrichen zu werden. Ein solches Schrei­ben wurde bisher nie öffentlich gemacht.

Wenn der Großherzog um die Streichung von der Wählerliste bittet, heißt das implizit, dass er alle rechtlichen Bedingungen erfüllt, um an den Wahlen teilzunehmen. Die Stadtverwaltung muss aber laut Wahlgesetz alle Wahlberechtigten auf die Wählerliste setzten, und weder die Verfassung, noch das Wahlgesetz sehen vor, dass ein Wahlberechtigter sich vom gesetzlichen Wahlzwang entbinden lassen kann. Für Luc Heuschling verstößt es gegen die Verfassung und gegen das Wahlgesetz, wenn der Großherzog nicht an den Wahlen teilnimmt.

Allerdings bleibt es die wichtigste politische Funktion der Monarchie, in einer Systemkrise letzter Rekurs zur Rettung der bestehenden Verhältnisse zu sein. Deshalb soll der Großherzog, anders als der Präsident einer Republik, überparteilich erscheinen. Würde er auch nur einen Stimmzettel abgeben, verdächtigte ihn das ganze Land, Partei ergriffen zu haben, und fragte sich: Bevorzugte er die CSV, weil er nie einen Hehl aus seinen sehr konservativen katholischen Ansichten machte? Die Machtbasis des Adels war immer der Grundbesitz, deshalb liebt der Großherzog Wälder und Bäume – hatte er also zu deren Schutz grün gewählt?

Luc Heuschling ist überzeugt, dass die Verfassung dem Großherzog das aktive Wahlrecht gewährt. Das passive Wahlrecht – das Recht, bei einer Partei beispielsweise für ein Abgeordnetenmandat zu kandidieren – glaubt Luc Heuschling aber dem Großherzog und dem Erbgroßherzog vorenthalten zu müssen, weil sie laut Verfassung die Einheit des Staats symbolisieren und die Kammersession eröffnen und schließen müssen. Doch in Wirklichkeit verstrickte sich ein Monarch, der sich zum Abgeordneten wählen lassen wollte, ohne als Staatsoberhaupt gewählt zu sein, nur in neue Widersprüche.

So kämpft der Verfassungsrechtler mit dem Widerspruch, von dem er so zielstrebig den Schleier zu lüften versucht: Eine konstitutionelle Monarchie, wie sie sich die Luxemburger nennt, hält er schlichtweg für ein „Oxymoron“ (S. 18). Denn hinter dem Schleier der vom CSV-Staat gepflegten Mystifizierung zeigt sich, dass eine Monarchie strukturell undemokratisch ist und ihre restlose Demokratisierung zu ihrem restlosen Verschwinden führt. Wenn alle historischen Vorrechte der Monarchie demokratisiert sind, bleibt immer noch, dass das Amt des Staatsoberhaupts im Familienbesitz ist. Wird auch die Erbfolge demokratisiert, hat sich die Monarchie in Nichts aufgelöst und unversehens in eine Republik verwandelt.

Die 200-jährige Geschichte der Monarchie ist die Geschichte ihrer ständig umkämpften Demontage. Für den Verfassungsrechtler gibt es in den euro­päischen Monarchien zwei Entwicklungstendenzen: die Demokratisierung und die Humanisierung. Einerseits werden die Vorrechte des Monarchen zugunsten der parlamentarischen Institutionen beschnitten, bis er nur noch eine symbolische Rolle spielt. Andererseits werden ihm die bürgerlichen Rechte zugestanden, die ihn in die Gemeinschaft der Staatsbürger aufnehmen. Dadurch kommt der Monarch einem von Luc Heuschling etwas idealisierten Bild eines „Bürgerkönigs“ nahe, der zuerst Bürger und von Beruf Monarch ist.

Die Bezeichnung ist nicht unschuldig. Denn der Bürgerkönig als maßgeschneiderter Monarch für den Neoliberalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts erinnert an den Bürgerkönig im entfesselden Liberalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Louis-Philippe I.. Seine Herrschaft wurde zu einer Sternstunde der Bankiers, Industriellen und Händler gemäß der apokryphen Losung seines Ministers François Guizot: „Enrichissez-vous!“ Er starb im Exil.

Luc Heuschling, Le citoyen monarque. Réflexions sur le Grand-Duc, la famille grand-ducale et le droit de vote, Promoculture-Larcier, 2013, 300 S., 35 Euro
Romain Hilgert
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