Aus diplomatischen Rücksichten und im Interesse des Finanzplatzes unterstützte die Regierung stillschweigend eine Politik, die dazu führte, dass ein erster Euro-Staat unter den Schulden und der Austerität zusammenbrach

313 Milliarden sind nicht zu viel

d'Lëtzebuerger Land vom 03.07.2015

Europa ist nicht mehr Chefsache. Statt auf die Rückkehr von Premier Xavier Bettel (DP) zu warten, war es Finanzminister Pierre Gramegna (DP), der am Mittwoch vor dem Parlament eine Erklärung über die finanzielle Lage in Griechenland und ihre europäischen Auswirkungen abgab, so die Formulierung der Tagesordnung. Bis Oktober 2013 war es jahrzehntelang der Regierungschef selbst, der sich zu den wichtigen europäischen Themen äußerte, auch um die große Bedeutung der europäischen Integration für Luxemburg zu unterstreichen. Dass der Finanzminister, weniger ein Politiker als ein technokratischer Quereinsteiger, im Namen der Regierung zur Krise der gemeinsamen Währung und der ­Union sprach, sah schon ein wenig danach aus, als ob die Regierung die Zukunft der Europäischen Union vorwegnähme: als Freihandelszone mit gebietsweise festem Wechselkurs.

Ganz anders Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der sich am Montag in Brüssel vor die europäische und die griechische Flagge gestellt hatte und sein ganzes Lebenswerk bedroht fühlte: „C'est cette Europe-là, celle de la réconciliation, celle du compromis, celle qui veut comprendre les autres, qui est devenue la grande affaire de ma vie.“ Denn bei der drohenden Zahlungsunfähigkeit Griechenlands handele sich um „a highly important moment for the Greek people and for the people of Europe“. Dieser hochwichtige Augenblick trat tags darauf ein.

Seit es der neuen griechischen Regierung gelungen ist, aus der Unbezahlbarkeit der griechischen Schuld eine internationale Frage zu machen, braucht auch die Luxemburger Regierung einen politischen Standpunkt, am besten im Einklang mit den Nachbarstaaten. Als Premier Xavier Bettel nach der Kabinettsitzung vom 6. Februar 2015 auf die Vereidigung der Syriza/Anexartiti-Ellines-Koali­tion in Athen angesprochen wurde, suchte er noch: „Wenn man den Griechen nun den Hahn total zudreht, dann ist Griechenland in ein paar Monaten fertig, Dann können sie nicht zurückzahlen. Dann sind sie in Konkurs. Was geschieht dann? Steigen sie aus dem Euro, steigen sie nicht aus dem Euro?“

Etwas flexibler Zwar meinte er einerseits: „Es wäre nicht gut in Europa, wenn wir einen alleine im Regen stehen lassen würden. Das wäre nicht gut für uns alle.“ Andererseits seien aber auch „Regeln da, und da gibt es Flexibilitätsmöglichkeiten, die man ausnutzen können soll. Aber die Regeln, wie gesagt, von heute auf morgen zu ändern, wäre kein gutes Signal.“ Unter einer begrenzten Flexibilisierung der Regeln verstand der Premier: „Über die Fristen, das ist meine persönliche Meinung, muss man diskutieren können.“ Der Regierungschef war zu kleineren Zugeständnissen bereit, aber mehr nicht. Auch wenn er sich vorwagte: „Ich muss Ihnen sagen, dass ich es persönlich nie gut finde, wenn ein Land in Konkurs ist.“

Mit der Beschränkung auf die bestehenden „Flexibilisierungsmöglichkeiten“ lehnte die Regierung Diskussionen über eine Umschuldung ab. Nachdem die Eurogruppe am 20. Februar Griechenland lediglich eine Verlängerung der Kreditlinie um vier Monate zugestanden hatte, stellte Xavier Bettel vor dem Gipfeltreffen Mitte März gegenüber dem Luxemburger Wort klar, dass ein Erlass oder eine Reduzierung der Schuld für ihn nicht in Frage komme. Denn „auch hier in Luxemburg gibt es Steuerzahler! Warum sollen mit deren Steuergeldern andere Länder finanziert werden, die Verpflichtungen eingehen, und die nachher sagen: Wir pfeifen drauf? Wir können gerne über die Streckung von Fälligkeitsraten diskutieren, aber nicht über die Löschung einer Schuld, die auf Kosten des europäischen Steuerzahlers geht. Ich mache da nicht mit!“

Keine Umschuldung Ein Viertel der Griechen ist arbeitslos, ein Drittel lebt unter der Armutsgrenze, die Wirtschaft ist um ein Viertel geschrumpft und schrumpft unter dem Druck immer neue Austeritätsmaßnahmen weiter. Beharrlich so zu tun, als ob Griechenland in der Lage wäre, unter diesen Umständen eine Staatsschuld von einer Drittel Billion, 312,65 Milliarden Euro, zurückzuzahlen, ist ökonomischer Unsinn. Um so mehr als die Geschichte lehrt, dass große Staatsschulden, anders als Privatkredite, nie zurückgezahlt, sondern von der Infla­tion gelöscht oder annulliert werden. Um von dieser Evidenz abzulenken, musste ein Schuldiger gesucht werden. Er bot sich in der Person der unerfahrenen und ratlosen griechischen Regierung an, die erst seit wenigen Monaten im Amt ist.

„Bei der Echternacher Springprozession geht man zwei Schritte vor und einen zurück,“ wusste Premier Xavier Bettel. „Mit Griechenland scheint mir, dass wir einen Schritt nach vorne tun und dann zwei zurück. Es geht um Vertrauen. Ich muss sicher sein, dass mein Verhandlungspartner den Verpflichtungen, die er eingeht, auch nachkommt. Dieses Vertrauen gegenüber der griechischen Regierung wird immer brüchiger. Wir rennen geradewegs gegen die Wand, wenn das so weitergeht!“

Unerwartet Trotz dieser weisen Voraussicht hatte die Regierung das Risiko der griechischen Schuldenkrise unterschätzt. In der 16. Aktualisierung ihres Stabilitätsprogramms hatte sie der Frage am 30. April einen einzigen, unverbindlichen Satz gewidmet: „En même temps, les incertitudes liés à la situation grecque, ainsi que des risques géopolitiques liées la situation en Ukraine pèsent sur les développements économiques en zone euro et dans l’UE des 28 en général“ (S. 9).

Auch der neue Conseil national des finances publiques begnügte sich noch vor drei Wochen bei der Bewertung der Staatsfinanzen mit der unverbindlichen Betrachtung: „De même, l’incertitude qui plane autour de la Grèce, et notamment les interrogations concernant son maintien dans la zone euro, continuent à poser des risques non-négligeables à la stabilité de la zone euro.“ (S. 27),

Noch vor 14 Tagen machte sich das Statec in seiner Konjunkturnote keine übertriebenen Sorgen: „La situation tendue entre le nouveau gouvernement de la République hellénique et les créanciers internatio­naux induit un manque de visibilité en termes de perspectives économiques qui n’est pas de nature à stimuler l’activité à court terme.“ Und zum Ausscheiden Griechenlands: „La Commission européenne le considère notamment comme un risque extraordinaire, i.e. dont la probabilité de réalisation est très faible“ (S. 10).

Während in anderen Staaten, wie Frankreich oder Großbritannien, die Regierung zu Krisensitzungen zusammenkam, um Vorkehrungen für die Zahlungsunfähigkeit eines Euro-Staats zu treffen, war davon hierzulande nichts zu merken – trotz des Übergewichtes des Finanzplatzes in der Volkswirtschaft. Premier Xavier Bettel besuchte diese Woche als Kommunikationsminister IT-Firmen in den USA, auch Vize Etienne Schneider (LSAP) hatte offenbar andere Sorgen, und Pierre Gramegna machte sich nach der Sitzung der Finanzminister am Samstag gegenüber RTL Mut, dass „die Situation aber vorbereitet ist. Seit Monaten arbeiten die Institu­tionen und alle Mitgliedstaaten an allen Szenarien“.

Ob er mit allen Mitgliedstaaten ebenfalls Luxemburg meinte, ließ er offen. Aber es gibt auch keine Spuren davon, dass Premier Xavier Bettel oder Finanzminister Pierre Gramegna aktiv an den Diskussionen über die griechische Schuldenkrise im Europäischen Rat oder unter den Finanzministern teilgenommen hätten. In der Regel fallen Luxemburger Minister bei europäischen Sitzungen ohnehin selten durch Wortmeldungen auf. Was wohlwollende Kreise in diesem Fall damit zu erklären versuchen, dass die Regierung kurz vor dem diese Woche beginnenden Ratsvorsitz ihre Unparteilichkeit demonstrieren wollte.

Um so überraschender war deshalb, dass die Financial Times am Montag den Brief veröffentlichen konnte, den Premierminister Alexis Tsipras am 28. Juni seinem Amtskollegen Xavier Bettel gesandt hatte, um eine Verlängerung der griechischen Kreditlinie bis nach dem Referendum zu erbitten. Wie das Zentralorgan der Londoner City in den Besitz der Luxemburger Regierungskorrespondenz kam, darüber kann man nur spekulieren.

Finanzminister Pierre Gramegna sah jedenfalls am Mittwoch vor dem Parlament guten Gewissens nur einen Verantwortlichen dafür, dass Griechenland diese Woche unter seiner Schuldenlast und der Austerität zusammenbrach: die zur Beendigung dieser Austerität gewählte griechische Regierung, die die Schuldenlast nur geerbt hat. Von manchen anderen EU-Regierungen unterschied er sich lediglich durch die Versicherung, dass ein Nein beim Referendum am Sonntag noch kein Austritt Griechenlands aus der Eurozone bedeute. „Und selbst wenn Griechenland einmal den Euro verließe, gehörte es noch immer zur Europäischen Union, und ich hoffe, dass es sie nicht verlassen will.“

Falsche Regierung Die griechische Krise schien Pierre Gramegnas Überzeugung nach vor allem mit der Wahl der neuen griechischen Regierung begonnen zu haben. Er hielt sie für gefährliche Marxisten, denn er warf ihnen „Dialektik“ vor, in Brüssel eine These und in Athen die Antithese zu verteidigen. Ob die griechische Schuld zurückzahlbar, die Medizin nicht längst gefährlicher als die Krankheit geworden ist, interessierte auch CSV-Fraktionssprecher Claude Wiseler nicht. Als Vertreter der größten Oppositionspartei unterstützte er gewissenhaft die Politik der Regierung.

Dagegen erinnerte LSAP-Fraktionssprecher Alex Bodry vorsichtig daran, dass in der Krise 2010 Luxemburg „nicht bloß aus Altruismus handelte, sondern, ähnlich wie Deutschland und Frankreich, um seine Banken zu schützen“. Dass man dabei vergessen hatte, die Griechen zu schützen, hatte der heutige grüne Nachhaltigkeitsminister François Bausch schon im März 2012 erkannt, wie Serge Urbany von der Linken ihn zitierte. Auch die grüne Fraktionssprecherin Viviane Loschetter bedauerte, dass Europa nicht sozial und solidarisch genug gewesen sei.

So reichen LSAP und Grüne den Service psychologique zur liberalen Regierungspolitik nach, und LSAP-Arbeitsminister Nicolas Schmit verschickt über Twitter philhellenistische Zitate keynesianistischer Ökonomen. Doch Premier Xavier Bettel beruhigte am gestrigen Donnerstag, er habe Schmit und Loschetter zu ihren Ansichten befragt, „und wir sind uns alle einig in der Regierung“. Im Parlament und auf Twitter die These und in der Regierung die Anthithese zu vertreten, ist eben die Dialektik der Luxemburger Regierung.

Romain Hilgert
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