Ganz schnell fiel auch Kabul an die Taliban. Luxemburger Soldaten sind entsetzt, hier lebende Flüchtlinge verzweifelt. Und die Regierung scheint derzeit vor allem aus dem Außenminister zu bestehen

Was wird aus Afghanistan?

Eine afghanische Frau
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 20.08.2021

Taliban-Kämpfer, die am Sonntag auf Mopeds und in erbeuteten Humvees durch die Straßen Kabuls fuhren, nachdem sie die afghanische Hauptstadt praktisch ohne Gegenwehr eingenommen hatten. Verzweifelte Afghanen, die sich an ein amerikanisches Transportflugzeug klammerten, das auf dem Kabuler Flughafen zum Start zu rollen begann. Protestkundgebungen in mehreren größeren afghanischen Städten. Eine Pressekonferenz, auf der Taliban-Führer erklärten, die Feindseligkeiten hätten nun ein Ende und Ziel sei nun der Aufbau einer „inklusiven islamischen Gesellschaft“. Die EU, die sich auf keine gemeinsame Flüchtlingspolitik einigen kann.

Die Bilder und Meldungen nach dem Fall von Kabul, von dem auch US-Geheimdienste überrascht worden sein wollen, weil keiner davon ausging, dass er so schnell geschehen werde, sind welterschütternd. USA und Nato stehen, so kann es einem vorkommen, beinah wieder dort, wo im Herbst 2001 nach 9/11 der damalige US-Präsident George W. Bush den „Krieg gegen den Terror“ ausrief, der schließlich in einen zwanzigjährigen Krieg einer internationalen Koalition mit Uno-Mandat mündete, aber nicht zu gewinnen war.

Auch in Luxemburg gehen Betroffenheit, Entsetzen und Angst um. Betroffenheit in der Öffentlichkeit, Entsetzen unter Soldaten, die zu den 333 zählen, die zwischen Juni 2003 und Mai dieses Jahres auf Afghanistan-Mission waren, Angst und Verzweiflung unter hier lebenden afghanischen Flüchtlingen.

„Was haben 20 Jahre Militärpräsenz in Afghanistan gebracht?“, fragt ein junger Mann, der heute der Armee nicht mehr angehört, 2008 mit einer Luxemburger Isaf-Mission nach Kabul ging, die dort den Flughafen zu bewachen half und ausländischen Militärs und Politikern Geleitschutz gab. Seinen Namen möchte er lieber nicht in der Zeitung lesen. „Alles war für nichts!“, findet er. Und fragt sich, „was man jetzt den Familien von Soldaten sagt, die in Afghanistan ihr Leben ließen“. Und was man „den Afghanen sagt, denen wir 20 Jahre lang Hoffnung auf Frieden und Sicherheit gaben“.

Sein eigener Einsatz sei natürlich schon lange her, 13 Jahre. „Ich weiß nicht, was seitdem in Afghanistan geschah.“ Seine Mission sei nie in Kampfhandlungen verwickelt gewesen, obwohl sie einer Schnellen Eingreiftruppe angegliedert war, die, wenn es sein musste, innerhalb von Minuten hätte ausrücken sollen, um das Militärlager zu verteidigen, in dem die Luxemburger Soldaten neben anderen untergebracht waren. „Wir fühlten uns einem unsichtbaren Feind gegenüber, ständig“, erinnert er sich. Kabuls Flughafen sei ziemlich schlecht gelegen, vor einer Bergkette. „Von dort aus kann er mit Raketen beschossen werden.“

Der ehemalige Soldat kann es nicht fassen, dass die vom Westen ausgebildete und ausgerüstete afghanische Armee so schnell zusammenbrach. „Ich weiß nicht, ob große Teile der Bevölkerung doch mit den Taliban sympathisieren. Die afghanische Gesellschaft ist auf jeden Fall speziell. Vielleicht stellen viele sich letztendlich auf die Seite derer, die am kampfkräftigsten scheinen. Aber eigentlich sollte das ja die afghanische Armee sein.“ Sie verfüge über eine Ausrüstung, die im Mittleren Osten „ihresgleichen sucht“. Und hatte US-Präsident Joe Biden nicht noch im Juni erklärt, sie sei den Taliban überlegen?

Ganz ähnlich äußerten sich diese Woche auch zwei Soldaten im Fernsehen. Andere diskutieren unter sich intensiv auf Facebook. Wenngleich die Afghanistan-Einsätze der Luxemburger Armee über fast 18 Jahre verteilt waren, sind die 333 in der Zeit dorthin insgesamt entsandten Männer und Frauen recht viele: Die Armee zählt nur 800 Militärs. Ihr Einsatz in Afghanistan war der bisher längste und teuerste der Armee im Ausland.

Am Dienstag hatte die Taliban-Führung in Kabul eine Pressekonferenz abgehalten – im selben Saal, in dem früher der Sprecher der afghanischen Regierung Journalist/innen empfing. Er wurde von den Taliban getötet. Taliban-Sprecher Zabidullah Mujahid, laut US-Medienberichten ein Mann, von dem Geheimdienste bis vor kurzem nicht sicher gewesen seien, ob er tatsächlich existiere, wiederholte dort schon am Sonntag von den Taliban gemachte Versprechen, es werde keine Vergeltung geübt, Frauen müssten sich nicht vor Gewalt fürchten, dürften eine „aktive Rolle“ in der Gesellschaft spielen, arbeiten und studieren, „aber in den Grenzen des islamischen Rechts“. Doch schon Anfang der Woche gab es Berichte, dass Frauen ihres Arbeitsplatzes verwiesen wurden. Rachemorde wurden ebenfalls gemeldet.

„Ich glaube nicht, dass die Taliban heute anders sind als vor 20 Jahren“, sagt Frau A., die vor sieben Jahren aus Afghanistan floh, nun in Luxemburg lebt und als Flüchtling anerkannt ist. „Die Taliban-Führer sagen das eine, die Realität ist eine ganz andere.“ Nach allem, was sie aus Afghanistan in Erfahrung habe bringen können, dürften Frauen ohne männliche Begleitung das Haus nicht mehr verlassen. „Es beginnt also wieder.“ Frau A. meint, die afghanische Gesellschaft habe sich kaum verändert in den 20 Jahren, die seit dem Sturz des ersten Taliban-Regimes vergangen sind. „Es gibt noch genug Frauen, die nicht arbeiten, nicht studieren wollen.“ Das wäre auch so geblieben, wenn die Präsenz des Westens im Land länger gedauert hätte. A. glaubt nicht, „dass es für mich jemals möglich sein wird, zurückzukehren. Ich würde es gerne tun, lieber als alles andere. Aber ich denke, es ist unmöglich.“

Herr B., ein anderer in Luxemburg lebender Flüchtling, hatte gehofft, der neue US-Präsident würde Donald Trumps Abmachung mit den Taliban rückgängig machen. „Ich habe seine Regierungserklärung am Montag verfolgt. Noch da hoffte ich, er würde sagen, wir haben einen Fehler gemacht, der Deal mit den Taliban ist schlecht, wir ziehen unsere Soldaten doch nicht ab.“ Mit den Taliban über Frieden zu verhandeln, wie erst die Amerikaner es in Doha taten, dann die afghanische Regierung, sei viel zu spät gewesen. „Das hätte man tun müssen, als in Afghanistan noch 130 000 ausländische Soldaten stationiert waren. Da hätte man eine starke Position gehabt, wäre von den Taliban ernster genommen worden und hätte auch mit Pakistan anders reden können.“ Nun aber, sagt B. „haben wir alles verloren“.

Auch B. glaubt Versicherungen der Taliban-Führung auf Frauenrechte nicht. „Sie sagen, Mädchen dürften zur Schule gehen. Aber das würde voraussetzen, in kurzer Zeit viele neue Schulen zu bauen, denn Jungen und Mädchen sollen getrennt unterrichtet werden. Dafür ist nicht genug Geld da, meine ich, vor allem in den Dörfern. Und zum Unterrichten der Mädchen würden viele Lehrerinnen gebraucht. Die gibt es nicht.“ Die Taliban wüssten das natürlich, und sie würden die Gesellschaft nun „indirekt“ spalten.

Was 20 Jahre westliche Militärpräsenz, Aufbauarbeit, aber auch Krieg wohl für Wirkungen auf die afghanische Gesellschaft hatten? B. denkt lange nach, denn er lebt ja nicht mehr dort, floh vor sechs Jahren über die Berge Richtung Türkei, erhält Informationen nur aus zweiter Hand von Angehörigen und Freunden sowie aus den Medien. Was den Zusammenbruch von Regierung und Armee angehe, sei die Korruption ein Hauptfaktor gewesen. „Keine Regierung in Kabul ging wirklich dagegen vor, Geld wurde nach Ethnien verteilt, das war mafiös.“ Die Armee, das habe er von Freunden erfahren, die ihr angehörten, hätte „bis zur letzten Kugel kämpfen“ können. Doch sei die Unterstützung aus der Luft seitens der Amerikaner seltener geworden – was auch in der US-Presse zu lesen ist –, und die Taliban hätten, soweit er weiß, mit Russland, China, Pakistan und dem Iran ausgehandelt, eine Einnahme Kabuls zu akzeptieren. „Die Taliban ließen die Soldaten daraufhin wissen, wenn ihr die Waffen niederlegt, geschieht euch nichts. Legt ihr sie nicht nieder, töten wir euch und eure Familien.“ So dass es also ums nackte Überleben gegangen sei.

Eine Meinungsäußerung unter vielen. Afghanistan sei „kompliziert“. Nicht nur in den größeren Städten hätten „viele die Demokratie begrüßt“. Auch in dem kleinen Dorf, in dem B. aufwuchs, hätten alle das getan, „auch die Paschtunen, die dort in der Minderheit sind“. Und in dem quasi nur von Paschtunen bewohnten Kandahar sei er als Angehöriger der Minderheit der Hazari zwar aufgefallen, weil Hazari-Männer sich keine langen Bärte wachsen lassen, doch das habe keinen gekümmert. „Alles war friedlich. Und natürlich sind nicht alle Paschtunen Taliban.“ Heute dagegen sieht B. für Afghanistan „null Hoffnung“.

Wie in anderen EU-Ländern herrscht auch in Luxemburg Regierungs-Betriebsamkeit nach der Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban. Doch diese Woche schien die Regierung nur aus LSAP-Außenminister Jean Asselborn zu bestehen. Vergangenen Sonntag, die Taliban hatten ihren Einmarsch in Kabul gerade vollzogen, gelang es RTL, den Außenminister noch in den letzten Stunden seiner alljährlichen Sommer-Radtour zu sprechen. Er hoffe, dass es kein Blutvergießen geben werde, sagte der sichtlich konsternierte Minister.

Dass es seitens der Regierung keine offizielle Stellungnahme zu Afghanistan gab, keine Pressemitteilung, keinen Tweet von Premier Xavier Bettel (DP), fiel der Opposition auf. Piraten-Abgeordneter Sven Clement fragte auf Twitter, wann die Regierung sich denn zu Wort melde, und setzte den Hashtag WhereIsXavier.

Er verstehe die Frage nach einer offiziellen Erklärung der Regierung nicht, sagte Jean Asselborn am Mittwoch dem Land. Und fragte zurück, was Luxemburg denn kommunizieren solle, man tue das ja auf EU-Ebene. „Was wir zu sagen haben, sagen wir im EU-Rat. Wir haben zum Beispiel gesagt, wir nehmen zwölf Afghanen auf, die kurzfristig aus Kabul geholt werden. Das sind Familien. Und dass wir mit Belgien unseren Militärtransporter für eine Evakuierungsmission einsetzen.“

Vielleicht ist es dem Außenminister ganz recht, dass Luxemburg eine Zeitlang ein eher niedriges Profil zeigt, allein er sich zu Afghanistan äußert und dabei die politische Übersicht hat. Am Mittwoch vergangener Woche hatte er vom Urlaub aus in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel Deutschland, Österreich, die Niederlande, Dänemark, Belgien und Griechenland kritisiert, weil sie in einem gemeinsamen Brief an die EU darauf drängten, an Abschiebungen abgelehnter afghanischer Asylbewerber/innen festzuhalten. Diese Woche erklärte er in Interviews in Luxemburg, aber auch in deutschen Medien, die EU brauche ein „Quotensystem“ für die Aufnahmen von Flüchtlingen, doch dafür gebe es „keine Spur“ einer Chance.

Bemerkenswert war diese Woche auch, dass Luxemburg seine humanitäre Hilfe für Afghanistan nicht unterbricht: Sie werde „reevaluiert“ angesichts der neuen Umstände, schrieb das Außenministerium am Mittwoch, aber im Prinzip beibehalten. Damit geht Luxemburg einen anderen Weg als Deutschland, das seine Hilfen am Dienstag auf Eis gelegt hat.

Peter Feist
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