Satire lässt sich für gewöhnlich auf eines von zwei römischen Vorbildern zurückführen: den bitterbösen Juvenal, der überall nur Verderbtheit sieht, oder den spöttelnden Horaz, der Torheit anprangert, um die Menschen davon zu heilen. Pir Kremer (1919–2000) gehört in die zweite Kategorie. Ob im Rundfunk, auf der Bühne, in Gedichtbänden oder auf Schallplatten, der Kabarettist hat die luxemburgische Gesellschaft stets so zart und wohlwollend auf die Schippe genommen, dass sie von dort gar nicht mehr herunter wollte. Mit 26 Theater-Revuen und über 1 800 Um Staminee-Sendungen war Kremer ab den frühen Sechzigerjahren der satirische Dauerbegleiter der Nachkriegszeit, der mittelscharfe Moschterflap auf den Würsten einer an ihrer Behaglichkeit erstickenden Wohlstandsgesellschaft.
Genauso liebevoll wie der Koericher Autor auf seine Mitmenschen geblickt hat, blickt nun ein mächtiger Verbund aus Kultur-, Wissenschafts- und Medieninstitutionen auf ihn. Mierscher Kulturhaus, Centre national de l’audiovisuel (CNA), Centre national de littérature (CNL) und RTL haben sich zusammengetan, um „Kréimesch Pir“ ein multimediales Denkmal zu setzen. Um Stamminee nennt sich eine unter der Regie von Claude Mangen neu zusammengesetzte Revue im Kulturhaus, wo auch die von Pascal Seil kuratierte Ausstellung ZesummegePIKtes zu sehen ist. Dazu gibt es einen Ausstellungskatalog mit Audio-CD; obendrauf kann man die halbstündige Dokumentation D’Revanche vum klenge Mann von Fränk Grotz auf der CNL-Webseite streamen.
Wie der Untertitel der Ausstellung – Fir dem Auteur säin 100. Gebuertsdag – nahelegt, ist dieses monumentale Aufgebot ein monumentales Geschenk. Hier geht es um die vorbehaltlose Würdigung eines Künstlers und jenes oft zitierten „Lëtzebuerger Charakter“, den er ebenso verspottete wie verkörperte. Verglichen damit ist die Superjhemp-Ausstellung, die man gleich um die Ecke im Literaturarchiv besichtigen kann, eine mit allen marxistischen, feministischen und postkolonialen Wassern gewaschene Mythen-Dekonstruktion.
Wer meint, öffentlich geförderte Kulturprojekte hätten sich kritisch mit ihrem Gegenstand auseinanderzusetzen, und wissenschaftliche Einrichtungen sowieso, ist in der Theaterrevue Um Stamminee noch am besten aufgehoben. Vier Schauspieler/innen und Sänger/innen geben hier, begleitet von einem fünfköpfigen „Orchesterchen“, ein Potpourri von Liedern, Gedichten und Sketchen zum Besten, die zusammen eine Zeitreise durch die Sechziger und Siebziger ergeben. Gerahmt werden die einzelnen Nummern (zumindest in der ersten Hälfte) von Einschüben, die Pir Kremers Schaffen sozialgeschichtlich kontextualisieren.
Die Einschübe stammen von Dramaturgin Sarah Rock, die ihre Recherche auch im Katalog präsentiert. Abgehandelt werden Themen wie der Boom der Stahlindustrie, der Niedergang der Agrarwirtschaft, der Beginn der Konsumgesellschaft und der Umbau Luxemburgs zur EU- und Bankenstadt. In der Gegenüberstellung mit passenden Texten Kremers gelingt es Mangen und Rock streckenweise, den Kabarettisten als Sozialkritiker zu inszenieren, dessen fortschrittsskeptische Haltung zu Vergleichen mit unserer Gegenwart einlädt: „Ass dat Confort, wa mir / am Auspuffgas erstécken, / Wa freeschlech Betongsbuurgen / äis total erdrécken?“
Nur, nach der Pause wird dieses Verfahren zugunsten einer reinen Nummernrevue aufgegeben, und der Abend verkommt zu großzügig ausstaffiertem Dorftheater, zu einem Nostalgiefest auf darstellerisch hohem Niveau. Mit Jeff Elcheroth, Véronique Kinnen und Deborah Marinkovic verfügt das Stück über drei hervorragende Sänger/innen, zu denen sich der nicht immer souveräne Debütant Raffael Parrinha gesellt. Georges Urwalds Neukompositionen und Arrangements versuchen mit ihren Jazzanleihen etwas krampfhaft, Pir Kremers Lieder aus Blasmusikgefilden in eine klassische Musical-Tradition zu verpflanzen, werden von seiner kleinen „PIK Band“ aber tadellos umgesetzt.
Die historisch getreuen Kostüme sind echte Hingucker und werden gefühlt alle fünf Minuten gewechselt, um den Lauf der Zeit anzuzeigen. Das Bühnenbild ist vergleichsweise schlicht, deutet mit seiner mittig platzierten und vielfältig genutzten Treppe jedoch klar in Richtung Glamour und Varieté-Theater. Inmitten dieser Kulisse wird ein Hit nach dem anderen dargeboten. Es wird vom „steiwe Bueden“ unter den Schuhen gesungen, der selbst in den abgehobensten urbanen Milieus die eigene Bodenständigkeit garantiert, oder von den vielfältigen Gerichten, die man mit der guten alten Kartoffel zaubern kann. Je weiter der Abend voranschreitet, umso mehr nähert sich Um Stamminee einer Apologie provinzieller Kleingeistigkeit, die dank entsprechender technischer und finanzieller Mittel als raffiniert und weltgewandt erscheint.
Für die Ausstellung ZesummegePIKtes wurde ebenfalls nicht bei den Produktionskosten gespart, auch wenn die Materialschlacht im Vorraum des Mierscher Kulturhaus bescheidener ausfällt als auf dessen Bühne. Die Wände und der Katalog wurden von Vidale & Gloesener im Stile von Pir Kremers Büchern aus den Siebzigern gestaltet und besitzen demgemäß Retro-Charme. Was das Bild- und Videomaterial, die Textauszüge und deren Präsentation anbelangt, lässt ZesummegePIKtes wenig zu wünschen übrig. Allerdings, das Konzept dahinter ist so klar wie einfallslos. Auf einen kurzen biografischen Abriss folgt eine Wand pro Medium, das der Jean-fait-tout bedient hat: Radio, Theater, Lyrik, Musik, Werbung.
Die Wandtexte sind kurz. Überzeugen soll wohl vor allem die Vielfalt der Exponate, Zeugnis der ungeheuren Produktivität eines mehrfach begabten Künstlers, der sein Talent zu Paarreim und Knittelvers hinter der Fassade eines Ponts-et-Chaussées-Beamten versteckte. Jeder Supermann braucht seinen Clark Kent. Für Überraschungen sorgt am ehesten die Wand zu Kremers weniger bekannten Aktivitäten als Werbetexter. Ein echter Blickfang ist derweil ein großformatiges Foto seines Arbeitszimmers, das mittlerweile ins CNL-Archiv gewandert ist. Unzählige Witzesammlungen und Wörterbücher auf den Regalen geben Einblick in die Arbeitsweise des (semi-)professionellen Humoristen.
Der Katalog bietet wenig Vertiefung in die Materie und dient in erster Linie der Dokumentation. So enthält er etwa auch Transkriptionen von Interviews aus Fränk Grotz’ Dokumentarfilm. Den Hauptteil machen kurze Beiträge von Pascal Seil zu den einzelnen Aspekten der Ausstellung aus. Sein Vorwort beginnt mit dem Satz: „De Pir Kremer, dat ass e Stéck Lëtzebuerg“, und gibt damit die Stoßrichtung der weiteren Texte vor, die Zementierung des Autoren als Inbegriff luxemburgischer Kultur und Mentalität. Als Hauptquellen dienen Seil neben Pir Kremers eigenen Aussagen jene von Weggefährten und Mitstreitern; kritische Distanz blitzt in diesem hagiographischen Projekt nur selten auf. Im Vordergrund steht die Beschreibung einer beispiellosen Karriere in der heimischen Popkultur, mit viel Lob für Kremers „duuss Satir, déi op sengem déif verwuerzelten Idealismus [baséiert], dee vu Versteesdemech, Optimismus a Matgefill fir d’Mënsche gepräägt ass“.
Lediglich vom Werbetexter Pir Kremer scheint der Kurator selbst überrascht: „Wou hien a senger Satir ganz an Oppositioun zu den dominante Strukture steet, passt hien sech hei ganz der kommerziell orientéierter Medielandschaft un.“ Das eine schließe das andere aber nicht aus, so Seil. Bloß, die „Oppositioun zu den dominante Strukture“, die vielbeschworene „Revanche vum klenge Mann“, als die Kremer selbst seine Revuen bezeichnete, ist in Ausstellung und Katalog gar nicht nachvollziehbar. Dafür hätte man die dominanten sozialen Strukturen, gegen die angeblich opponiert wird, überhaupt erst herausarbeiten müssen. Wie bereits angedeutet, tut dies ansatzweise nur Dramaturgin Sarah Rock. Für den Rest könnte man das, was Seil als Satire „mat engem sproochleche Goldschmaddshimmerchen“ bezeichnet, auch als Satire in homöopathischen Dosen begreifen.
Gerade wer die Hochzeit von Pir Kremers Schaffen nicht miterlebt hat, könnte leicht glauben, dass dessen Werk als Satire getarnte Panegyrik ist, ein Loblied auf Luxemburger Sitten und Bräuche, gepaart mit gelegentlichen Elegien angesichts einer Moderne, die sie zu verdrängen droht. Aber vielleicht ist es gerade dieser Aspekt, auf den dieses nostalgisch-biedere Großprojekt abhebt: Pir Kremer als Rückbesinnung auf das, was den „Stacklëtzebuerger“ im Kern ausmacht. Unter diesem Blickwinkel sind die Theaterrevue, die Ausstellung, der Katalog, die CD und der Film höchst aufschlussreich und sehenswert: Sie sind Ausdruck einer anhaltenden Krise der nationalen Identität.