Jacobs, Jean-Paul: Jenes Gedicht & Mit Nichts

Späte Wiedergutmachung

d'Lëtzebuerger Land vom 14.07.2005

Zum dritten und ganz gewiss zum letzten Mal hab ich die Ehre und die Freude, im Namen der Stiftung und der Jury das Loblied auf die Autorin beziehungsweise den Autor anzustimmen, denen mit dem Servais-Preis die mindestens zweitangesehendste literarische Auszeichnung dieses Landes zuerkannt worden ist. Margret Steckel, der von Berlin über Irland und England verwanderten, weiter in ihrer Muttersprache Deutsch wurzelnden, trotz einer auf den Bayrischen Platz lautenden Novelle realiter in Luxemburg angekommenen Erzählerin durfte ich 1997 attestieren, spätestens mit dem Servais-Preis sei der Titel ihres bemerkenswerten Erstlings Nie wieder nirgendwo für sie und für uns obsolet geworden. Paul Schmoetten wäre anno 2000, weil seine Novelle Der Tag des Igels der Jury fast zu spät unterbreitet wurde, um ein Haar am Servais-Preis vorbei geschrammt. Leider hat sich der vielversprechende Erzähler Schmoetten seither nicht mehr vernehmen lassen. Hier und heute sei mit offenen Karten gespielt: Damit Sie sich - im Wirtschafts- und Finanzjargon zu sprechen - das richtige Urteil über das Verhältnis zwischen meinem Lobpreis und seiner Werkleistung bilden können, muss ich Ihnen gestehen, dass mich mit dem Servais-Preisträger 2005, Jean-Paul Jacobs, seit Jahrzehnten eine über die Distanz Luxemburg-Berlin zwar gelegentlich aufzufrischende, dafür aber haltbar echte persönliche Freundschaft verbindet. Seit 1979, das heißt seit mehr als einem Vierteljahrhundert erscheint in sich mehrmals abwechselnden, dafür aber meist hochangesehenen deutschen Verlagen ein Jahrbuch der Lyrik. Ich habe in den 26 unterschiedlich geglückten Lyrik-Annalen nicht nachblättern müssen, um festzustellen: Christoph Buchwald, der das Jahrbuch immer schon maßgeblich verantwortet, hat den auch im weiteren deutschen Literaturkontext zweifelsfrei solitären Poeten Jean-Paul Jacobs grandios übersehen, obwohl ihm spätestens dessen Beiträge in den manuskripten, dem Sprachrohr des Grazer Forums Stadtpark, das nicht selten inhaltliche Trends und formale Strömungen vorweggenommen hat, die sich zeitversetzt in Jahrbüchern niederschlugen, hätten auffallen müssen. Nur, warum einem Christoph Buchwald, dem im übrigen verdienten Herausgeber, ein Versäumnis ankreiden, dessen sich auch Jean-Paul Jacobs' engere und oft engherzige Heimat Luxemburg zum Teil sogar bereits 1964, als er dank Cornel Meder mit dem Bändchen Apoll kaputt gleich Bat- oder Superman über die bis dahin still und genügsam und bauchnabelfixiert vor sich hindümpelnde Provinzlyrik hereinbrach, zeihen müßte? Wie übrigens dieses Literaturluxemburg sich auch in den folgenden Jahren von Jean-Pauls sporadischen Veröffentlichungen vor Ort oder in Berlin kaum aus seinem Phlegma hat aufstören lassen; im Gegenteil, ich weiß um Buchhändlerinnen, die sich lediglich auf nachdrücklichen Wunsch ihrer Kunden herbeigelassen haben, die 1993 und 1998 immerhin in den éditions phi erschienenen extravagant verstörenden "Telefon-Bücher" Firwat as dem Denise seng Bitzmaschin da geckech gin?? und vor allem De Jean-Paul rifft de Roger un in ihrem Laden zu führen oder wenigstens nachzuordern. Ganz nebenher gefragt: Weshalb eigentlich hat dieser Roger den Jean-Paul nie zurückgerufen ? Zwar ist Jean-Paul Jacobs 1964 mit 23 Jahren und seinem Erstling  schon weit über das Alter eines seiner geistigen Ahnherrn, Arthur Rimbaud, hinaus; wenn aber einer in Apoll kaputt (den Umschlag gestaltet übrigens Roger Manderscheid) mit Versen debütiert wie "das xylophon: das kind hat / seinen papagei erschlagen / die mutter ist / böse. sie sperrt / das kind zum hund. / der hund frißt / das kind. die mutter / sammelt die knochen / ein und bastelt sich / daraus ein xylophon. Sie / kommt mit den knochen / nicht aus", hat er sämtliche inhaltlichen und formalen, ja fast auch physischen und psychischen Brücken zwischen sich, seinen intellektuellen und kreativen Mitmenschen, kurzum, seiner direkt familiären und gesellschaftlichen Umwelt abgebrochen, nur, diese Brücken sind vielleicht längst vorher nur mehr die schmalen Stege gewesen, über die sich Jacobs, wenn ihn draußen in der Front- und heute Hauptstadt Berlin das Heimweh übermannt, denn doch mitunter nach Luxemburg liebend gern zurückschleichen würde.   Wie nicht seltene Beispiele aus der Literatur-, vornehmlich der Lyrikgeschichte lehren, Apoll kaputt hätte durchaus, salopp ausgedrückt, so etwas Ähnliches wie ein "one-day"- oder "one-night-stunt" sein können, Jean-Paul Jacobs jedoch löst die bei echten Kennern geweckten poetischen Versprechen, die bei manchen literarischen Hinterwäldlern aufgekommenen Befürchtungen in Vers und Prosa, wenn auch in unterschiedlicher Dosierung in den seit 1964 hingegangenen vier Jahrzehnten nicht nur nicht vollauf ein, er lässt sich so leicht von vielfältigem Unverständnis nicht beirren und abkehren, nein, auf den teils kotzigen, teils rotzigen Protestversen von damals baut er konsequent auf, vervollkommnet und verfeinert seine so phantastische wie phantasmatische Sprachkunst bis zur verkennbaren Künstlichkeit. Es spricht viel für die Vermutung, Jean-Paul Jacobs fühle sich noch lange, nachdem er das oppressive Korsett seines strengen Vaterhauses gesprengt hat, wie ein später Nachfahre von Vaganten der Extraklasse à la François Villon und Paul Verlaine, doch, er, der frühe und treue Stammgast in der berüchtigten Berliner Paris-Bar, zählt kraft seines schließlichen Engagements in der mittlerweile ebenfalls wiedervereinten Preußischen Staatsbibliothek, nicht zuletzt auch dank seiner freundschaftlichen Verbindung und Bewunderung für den genialen Streuner und stilistischen Tramper H.C. Artmann unter die notorischen poetae docti, ist also viel mehr als er sich selber eingestehen würde, als gebürtiger Escher seines dritten sprachlichen Standbeines, des Französischen eingedenk, ein ferner Jünger der Valéry und Mallarmé und nicht zuletzt über den nicht nur h.c., also honoris causa Art-, d.h. Kunstmann, dem austriazistischen phantastischen Realismus zutiefst verwandt und verpflichtet. Diesem oder jenem Zeitgenossen mag Jean-Paul Jacobs' Poesie sogar wie in Versform gegossene Ionesco-Stücke erscheinen. Jean-Paul Jacobs, dem Verfasser von buchstäblich so ver-rückten, entrückten Titeln wie eben Apoll kaputt, Himmelsruinen, Das Gebet der Engel, Die Pforten der Lust und des Schreckens, Der Trüffelhirsch, Die Toten schießen schneller und Die Bärenhäuterin, von den ausgeflippten Lëtzebuerger Telefonbüchern ganz abgesehen, wird seit je und und immer wieder heillose Extravaganz, unverbesserlicher Snobismus, demonstrativer Dandyismus, dreiste Extroversion vorgeworfen. Nur eingefleischte Verehrer Gottfried Benns, des Berliner Arztes für Geschlechtskrankheiten, für den Blau, die Farbe der Introvertierten gewesen ist, verkennen oder wollen nicht wahrhaben, dass ausgerechnet und gar nicht zufällig die bedeutendsten, die innovativsten, reativsten Dichter ihrer Zeit, die Baudelaire, die Rilke, die Hofmannsthal, die Stefan George und bis in die jüngste Zeit die Durs Grünbein und Raoul Schrott, jawohl, auch als bewußte Extravaganten, auferlegte Snobs und demonstrative Dandys, doch auch auf ihre spezifische Art als so nimmersatte Bücherwürmer wie ein Jorge Luis Borgès als hochgescheite zwischen die Zeilen und über die Zeilen hinaus schreibende Intellektuelle gesehen werden dürfen. Seine Poesie verrät zweifelsfrei, Jean-Paul Jacobs hat sich aus den nach abertausend zählenden, interdisziplinären Bänden in den Beständen der Berliner Staatsbibliothek im Laufe der Jahrzehnte vollgesogen wie ein Schwamm, um seine ohnehin von Hause aus protuberante, orgiastische Phantasie nachhaltig zu füttern und nicht zuletzt in Jenes Gedicht einer erträumten Äbtissin wort- und versreich und als studierter Musikwissenschaftler höchst melodisch von Kometenschweifen, Pantherschwänen, Walddomen, Hirschkopfnächten, Rosenaugen, aleatorischen Bardamen, Bergkristallträgern, Lapislazulisänften, Nachtigallenopern, Kaskadenschöpferinnen, Hirschsonnenwüsten und - gar nicht einmal böse gemeint - von unzähligen weiter sprachseidigen Hirngespinsten zu erzählen. Auch von der großer, echter Lyrik innewohnenden Erotik, einer manchmal mittelalterlich märchenhaften Frauenverehrung, manchmal ungestümen Weibsbesessenheit steckt viel in der Versdiktion des Jean-Paul Jacobs, ich überlasse es Ihnen, diesen maßgeblichen Aspekt seiner Traumpoesie für sich zu entdecken. Im zweiten Teil des preisgekrönten Jacobs-Werkes Mit nichts verspricht uns Jacobs weder zuviel noch zu wenig, wenn er für einmal in leichthin luftigen Verschen aus nichtigstem Anlaß, aus fadenscheinigstem, banalstem, unverquastem Sprachstoff so verblüffend triftige Weisheiten und so herzerfrischenden Nonsens destilliert, dass man ihn getrost gewähren lassen darf, wenn er mit sich selbst in Versen kokettiert wie: "Ich vermute / manchmal lachen die Götter nachts über mich / und ich schäme mich dafür". Nicht doch, Jean-Paul, Jenes Gedicht [&] Mit Nichts in der hochverdienten, bibliophilen Reihe graphiti der éditions Phi, ist nach außen zwar nur ein kleines, dünnes Bändchen; in dem Dir dafür verliehenen Servais-Literaturpreis 2005 drückt sich nicht nur die Anerkennung und Bewunderung für einen neuen Gipfel deiner eignen und der Luxemburger Sprachkunst in deutscher Sprache aus, dieser Preis ist darüberhinaus eine späte Wiedergutmachung für alle Ehren, die deiner nicht nur für dieses Land Luxemburg solitären poetischen Lebensleistung längst zustünden.

Der Literaturkritiker, e.a. des Land, Michel Raus, ist Mitglied der Jury des Servaispreises, der jedes Jahr des beste Buch Luxemburgs auszeichnet. Die Preisüberreichung, bei der Michel Raus diese Laudatio hielt, fand am vergangenen Mittwoch, 6. Juli im Nationalen Literaturzentrum in Mersch statt. Das prämierte Buch: Jean-Paul Jacobs,  Jenes Gedicht [&] Mit Nichts, Éditions Phi, Esch, März 2004, 136 Seiten, 12 Euro; ISBN 2-87962-180-1.

Michel Raus
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