Nachrichten von historischer Bedeutung werden zuerst verkannt. Arbeitsminister Nico Schmit kündigte am Montag an: Die Stahlindustrie sei nun „ein ganzes normales Unternehmen“. „Ein Unternehmen wie all die anderen“, das der Regierung mitgeteilt habe, dass 40 Jahre nach dem ersten Tripartite-Abkommen „die Krise vorüber“ sei.
Dabei war die Stahlindustrie in der Luxemburger Geschichte nie ein ganz normales Unternehmen: Die ersten hundert Jahre war sie die dominierende Industrie des Landes, „ein Staat im Staat“ mit der höchsten Prokopfstahlproduktion der Welt, die sich auch Krankenhäuser, Erholungsheime und politische Parteien leistete. Und dann war sie seit den Siebzigerjahren etwas wie der Kranke Mann am Bosporus, für den die ganze Nation zittern und Opfer bringen sollte und der wiederholt in melodramatischen Tripartite-Sitzungen gerettet werden musste.
Als Beweis führte der LSAP-Minister am Montag das kurz zuvor von ihm, Arcelor-Mittal-, OGBL- und LCGB-Vertretern unterzeichnete Abkommen der Stahl-Tripartite an. Eigentlich sollte es schon im September vergangenen Jahrs unterzeichnet werden, so OGBL-Sekretär Jean-Claude Bernardini. Denn das am 28. März 2012 unterschriebene Abkommen Lux-2016 war bereits am 31. Dezember 2016 ausgelaufen. Aber die Unternehmensleitung und die Gewerkschaften stritten noch ein ganzes Jahr weiter darüber, ob die Stahlindustrie ein ganz normales Unternehmen sei.
Dabei geht es gar nicht um die Einschätzung, ob die Krise in einer Branche zu Ende ist, in der es ständig auf und ab geht wie im Schweinezyklus. Vielmehr klammern sich die Gewerkschaften an die Tripartite-Abkommen, um ein wenig die Stahlpolitik beeinflussen zu können, und sich dabei die Unterstützung des allerlei Sozialmaßnahmen bezuschussenden Staats zu sichern. Während die Unternehmensleitung wieder uneingeschränkt Herr im Haus werden und sich dafür nicht mehr schriftlich binden will.
Die Stahl-Tripartite ist die 40-jährige Geschichte des staatlich bezuschussten Personalabbaus ohne Entlassungen. Vor zehn Jahren arbeiteten noch 5 870 Leute in der Stahlindustrie, heute sind es ein Drittel weniger, 4 100. Damit hat Arcelor-Mittal das Ziel erreicht und plant keine weiteren Personalkürzungen, die nicht über die laufenden Einstellungen, Abgänge und Leiharbeiter geregelt werden könnten.
Aus diesem Grund wollte Arcelor-Mittal schon in der Stahl-Tripartite 2012 ein ganz normales Unternehmen werden. Aber man einigte sich dann noch einmal auf den Plan d’avenir sidérurgique Lux-2016. Die Gewerkschaften hatten es damals als einen Erfolg verbucht, dass es ihnen gelungen war, die Vorruhestandsregelung zu verlängern, für die Jahrgänge 1956 bis 1959, und die DAC-Nachfahrin Cellule de reclassement zu erhalten.
Das Unternehmen hatte versprochen, 78 Millionen in das für seine schweren Träger bekannte Differdinger Werk und 153 Millionen in das Spundbohlen herstellende Belvaler Werk zu investieren. In Belval wurde auch eine neue Richtmaschine am Ende der Walzstraße 2 in Betrieb genommen. Die Gewerkschaften wollten noch für den Erhalt des bereits stillgelegten Schifflinger Werks kämpfen, etwas hilflos mit einem Gutachten und danach einem vom LSAP-Wirtschaftsminister bezahlten Audit. Vergangenes Jahr war dann ausgekämpft. Inzwischen hat Arcelor-Mittal selbst die Traditionsfirma Paul Wurth und den historischen Firmensitz am Rousegäertchen verkauft, um die gigantische Verschuldung abzutragen, mit der Lakshmi Mittal die feindliche Übernahme und seine Expansionspolitik finanzierte.
Folglich zeigen sich die Gewerkschaften diese Woche über die unverbindlichen Investitionszusagen von Arcelor-Mittal enttäuscht. Das Unternehmen schätzt, wie in den vergangenen Jahren, weiterhin etwa 30 Millionen Euro jährlich auszugeben. Aber das reicht eher für die Instandhaltung der in die Jahre gekommenen Werke, als dass es die von den Gewerkschaften erhofften Erweiterungsinvestitionen erlaube, die die Zukunft des Stahlstandorts garantierten.
Anfangs hatten die Gewerkschaften und die Regierung von einem Nachfolgeabkommen mit dem wohlklingenden Namen Lux-2020 gesprochen. Aber anders als das vorige Abkommen, das eine Laufzeit von fünf Jahren hatte, ist das neue Abkommen nicht einmal für zwei Jahre gültig, vom 18. September 2017 bis zum 1. Juli 2019. Robert Fornieri, Gewerkschaftssekretär des LCGB, klagte am Montag, dass es den Gewerkschaften nicht gelungen war, eine längere Laufzeit durchzusetzen.
Doch das Abkommen ist nicht der erhoffte Zukunftsplan, sondern eine Übergangslösung, mit der die letzten Sozialmaßnahmen aus 40 Jahren Stahl-Tripartite abgewickelt werden. „Ein akuter Bruch nach Lux-2016“ wäre „nicht die sinnvollste Lösung gewesen“, gab sich Generaldirektor Roland Bastian am Montag versöhnlich. Das „Phasing-out-Abkommen“ stellt die Regierung oder zumindest die LSAP zufrieden, weil sie noch einmal als Hüterin der Tripartite-Tradition in der Stahlindustrie dasteht, zumindest bis zum Ende der Legislaturperiode.
Weil „wir verschiedene Kriseninstrumente nun nicht mehr brauchen“, so der Arbeitsminister, befasst sich das Abkommen vor allem mit der schrittweisen Abschaffung der Cellule de reclassement und der Vorruhestandsregelungen. Die Zelle zur beruflichen Wiedereingliederung nimmt seit dem 31. Dezember vergangenen Jahres keine Arbeiter mehr auf. Die restlichen derzeit rund 200 Arbeiter bleiben mit Zuschüssen aus dem Beschäftigungsfonds als Leiharbeiter angestellt, werden mit Hilfe des Arbeitsamts umgeschult oder in Invalidenrente und in den Vorruhestand geschickt.
Neben der Cellule de reclassement wollte Arcelor-Mittal auch die Préretraite-solidarité beenden. Nicht zuletzt auf Druck der Arbeiter, die sich Jahr für Jahr ausrechnen, wann sie an der Reihe sind, um frühpensioniert zu werden, konnten die Gewerkschaften einen Kompromiss herausschlagen: Nun dürfen auch die Jahrgänge 1960 und 1961 noch in den Vorruhestand treten, aber nicht mehr am 1. Januar nach Erreichen der Altersgrenze, sondern mit einer halbjährigen Verzögerung. Diesen Kompromiss versuchte der Arcelor-Mittal Direktor damit zu erklären, dass es „eher ein Widersinn“ sei, Leute „früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden zu lassen“, nun, da das Unternehmen wieder einzustellen begonnen habe. Der Arbeitsminister meinte, das halbe Jahr sei notwendig, um dem Arbeitsamt die Suche nach Ersatzarbeitskräften zu erlauben.
Wobei das Unternehmen 70 Prozent der Vorruhestandskosten und die Soziallasten vom Beschäftigungsfonds erstattet bekommt. Das Arbeitsamt versucht, Arbeitsuchende bereitzustellen und gegebenenfalls auf Kosten des Beschäftigungsfonds umzuschulen, damit die Abgänge dem Gesetz entsprechend ersetzt werden.
Danach, das heißt in zwei Jahren für die Jahrgänge 1962 und jünger, wird dann Schluss ein, wenn die Reform der Préretarite-Bedingungen in den kommenden Monaten Gesetz werden soll. Denn das Zukunftspak der liberalen Koalition hat als 191. Sparmaßnahme vorgesehen, die Préretraite-solidarité abzuschaffen. Der Arbeitsminister hatte schon vor zwei Jahren einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht, mit dem nun Artikel 581-1 bis -9 aus dem Arbeitsgesetzbuch gestrichen werden soll. Dagegen soll die Vorruhestandsregelung für Schichtarbeiter auch in der Stahlindustrie weiter angewandt werden, aus Rücksicht auf die schweren Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter, wie Generaldirektor Roland Bastian betonte.
Dem in der Stahlindustrie dominierenden OGBL ging es am Montag darum, Verantwortungsbewusstsein zu zeigen und zu wissen, „wie man den Leuten im Betrieb erklärt“, was ausgehandelt wurde, so Jean-Claude Bernardini. Zum Beispiel dass die Cellule de reclassement geschlossen, aber dass niemand entlassen wird. Und wie schön es sei, dass Arcelor-Mittal 15 Lehrlinge einstellen will. Der LCGB, der die zweite Geige spielen muss, versuchte, den OGBL links zu überholen, und verlangt ein Tripartite-Abkommen als „Ersatzrad“ für alle Fälle. Aber ein ganz normaler Betrieb wie die Stahlindustrie darf bei Bedarf und ohne Angst vor Brüsseler Konkurrenzwächtern auch auf die ganz normalen Kriseninstrumente zurückgreifen, wie Kurzarbeit aus konjunkturellen Ursachen.