Luxemburg unternimmt viel, um die seine Industrie beim Gang in die Digitalisierung zu unterstützen. Würde das verpasst, so die Befürchtung, könnte es auch großen Betrieben an den Kragen gehen

Survival of the fittest

Peter Plapper, Universität Luxemburg
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 07.04.2017

In Peter Plappers Labor auf dem Campus Kirchberg der Universität Luxemburg stehen Indus-trieroboter und Versuchsstände zum Einsatz von Lasern. Und ein langer Tisch, an dem Einzelteile aus Metall und Kunststoff zu einem Handlocher für Papier zusammengesetzt werden. Die Teile tragen RFID-Chips, über die sie sich orten lassen. Der Maschinenbau-Professor von Uni.lu forscht an Robotik, Lasern und an verbesserten Produktionsprozessen in der Industrie. Ehe er nach Luxemburg kam, entwickelte er bei Automobilherstellern in Deutschland und den USA neue Fertigungsstrategien und leitete ihre Einführung in die Praxis.

Digital4Industry Das aus Deutschland stammende Konzept „Industrie 4.0“ kennt Peter Plapper gut. Die Luxemburger Industrie kennt er ebenfalls gut. Zum einen aus gemeinsamen Forschungsprojekten, zum anderen, weil er in der Arbeitsgruppe Industrie für den Rifkin-Bericht zur „dritten Industriellen Revolution in Luxemburg“ mitgearbeitet hat und der Plattform „Digital4Industry“ angehört. Sie wurde im Herbst 2016 von der Fedil ins Leben gerufen. Das Wirtschaftsministerium und Luxinnovation unterstützen sie. Mittlerweile wird hierzulande lieber von „Digital4Industry“ als von „Industrie 4.0“ gesprochen. Schließlich wäre es verwirrend, wenn der Zukunftsforscher Rifkin Luxemburg den Weg in die „dritte Industrielle Revolution“ zeigen wollte, die Branche selber dagegen nach deutschem Vorbild die vierte kommen sähe.

Allerdings ist „Industrie 4.0“ wahrscheinlich noch immer ein Hype. Timothy Kaufmann vom Softwarehersteller SAP hat vor zwei Jahren in einem Buch über Geschäftsmodelle in Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge geschrieben, beim damaligen Stand sei Industrie 4.0 ein Hype gewesen. Er werde noch ein paar Jahre anhalten, ehe die „Ernüchterung“ einsetze und anschließend klar werde, was tatsächlich machbar sei und alle dafür nötigen Technologien ausgereift wären. Auch das Versprechen, durch „Computer-integrated manufacturing“ werde es um die Jahrtausendwende vollautomatische Fabriken geben, war in den Achtzigerjahren ein Hype, auf den eine Ernüchterung folgte und Fabriken nur zum Teil automatisiert wurden. Wer sich heute auf „Industrie 4.0“ einlässt, ist demnach ein Pionier.

Daten nutzen Menschenleere Werkhallen, in denen Automaten und Roboter ihre Arbeit verrichten, hat auch „Industrie 4.0“ nicht zum Ziel, jedenfalls nicht in erster Linie. Eine neue Phase in der Automatisierung einzuleiten, wird damit durchaus verbunden: Die „Selbststeuerung“ von Fabrikprozessen soll zunehmen. Der große Unterschied zur „Industrie 3.0“, die stark automatisiert sein kann, bestehe in der neuartigen Nutzung von Produktionsdaten, erklärt Peter Plapper. „In traditionellen Fertigungsprozessen werden die Daten von einem Prozessabschnitt zum nächsten weitergereicht. In Industrie 4.0 werden sie dazu genutzt, vorgelagerte Prozesse zu beeinflussen.“

Was sich arg technisch anhört, enthält jenes Riesenversprechen auf höhere Wertschöpfung durch „individualisierte Fertigung“, mit dem für „Industrie 4.0“ geworben wird. Die Individualisierbarkeit eines Autos beispielsweise reicht heute schon weit. Ein Kunde könnte zum Beispiel anfragen: „Ich möchte dieses relativ kleine Auto kaufen, bin aber zwei Meter groß und mir nicht sicher, ob ich da bequem hineinpasse.“ Für diesen Fall steht dem Autohersteller eine Palette von Sitzen verschiedener Sitz-Zulieferer zur Verfügung. Sie alle wurden speziell für dieses Automodell hergestellt und sind unterschiedlich verstellbar. Dem Kunden wird dann der Sitz angeboten, der seinem Wunsch am besten entspricht.

In einer „Industrie 4.0“-Zukunft dagegen würden Autohersteller und Sitz-Lieferanten anhand mathematischer Modelle von Produktionsschritten, Lieferströmen und Kosten simulieren, ob ein ganz auf diesen einen Kunden zugeschnittener Sitz mit weniger Polsterung sich in einer akzeptablen Frist herstellen und liefern lassen könnte; ob er sich in das gewünschte Auto einbauen ließe, ohne Komfort und Sicherheit zu beeinträchtigen; was all dies für Auswirkungen auf die Autoproduktion insgesamt im Betrieb hätte und wie hoch der Preis für den Sonderwunsch wäre. Weil diese Fragen nur anhand vorher gewonnener Daten beantwortet werden könnten, hat „Industrie 4.0“ viel zu tun mit der Erfassung, Aufbereitung und Auswertung von Big Data. Der Traum ihrer Vordenker lautet, in Großserienproduktionen generell – nicht nur bei der von Autos – würden eines Tages lauter Unikate hergestellt, ohne dass dadurch die Prozesse der Großserie durcheinander gerieten.

Unikate in Serie Das ist noch Zukunftsmusik. Denn soll eine Produktion derart flexibel sein, gleichzeitig aber stark automatisiert, dann führt das zu einem Grundproblem: Flexibilität und Automatisierung stehen einander eigentlich im Weg. Nicht alles was automatisierbar wäre, rentiert sich auch; einmal automatisierte Prozesse umzustellen, kann sehr teuer werden. Nicht zuletzt daran scheiterten die Visionen von den vollautomatischen Fabriken eines „Computer-integrated manufacturing“. Lauter Unikate innerhalb einer großen Serie zu fertigen, erfordert allerdings permanente Umstellungen an den mechanischen Maschinen. Gesteuert werden soll das durch digitale Informationstechnologien.

„Hinzu kommt die Frage, wem die Daten gehören, aus denen man Vorteil zieht, und wer die Gewinne aus den wertvolleren Produkten behält“, sagt Peter Plapper. Immerhin impliziert das Zukunftsversprechen, dass Hersteller und Lieferanten miteinander vernetzt würden. Die Frage, ob, wer Daten teilt, auch Gewinne teilen sollte, ist daher ziemlich kritisch. Und wer durch Datenströme Lieferströme auslöst, der führt Material oder Halbzeuge, die bisher als „gebundenes Kapital“ gelagert waren, einem Verwertungsprozess zu. Zulieferer warten darauf nur, so dass „Industrie 4.0“ auch in dieser Hinsicht die Verhältnisse zwischen Endproduzenten und Lieferanten stark verändern würde.

Internet der Dinge Zu guter Letzt würden die Kunden in die neuen Prozesse ebenfalls einbezogen. Im Internet würden dann nicht nur Produktionsprozess- und Lieferdatenströme zirkulieren. Die Haushalte der Verbraucher wären auf einem ganz neuen Niveau beteiligt: Im „Internet der Dinge“ erhielte zum Beispiel jedes Elektrogerät eine IP-Adresse. Das soll ganz neue Geschäftsmodelle möglich machen. Die Hersteller dieser Geräte könnten deren Funktion von Ferne und mit Hilfe mathematischer Modelle überwachen, Wartungen planen, Ausfälle vorhersehen und Reparaturen veranlassen. Beim Kauf der Geräte wäre eine ganze Leistungspalette inklusive; die Grenze von „Industrie“ und „Service“ würde unscharf. Weil auch jeder Sensor und jeder Antrieb einer Werkzeugmaschine eine IP-Adresse erhielte, würden neben Prozessteuerungen von Ferne auch neue Service-Leistungen zwischen Firmen möglich.

Solche Aussichten klingen noch derart kühn, dass auch in Deutschland vor allem kleine und mittelgroße Betriebe sich fragen, „was würde mir Industrie 4.0 denn bringen?“ Mit Luxemburger Klein- und Mittelbetrieben forschen Peter Plapper und sein Team an Lösungen, die mit „Industrie 4.0“ im Zusammenhang stehen und letztlich auf den Übergang zur individualisierten Produktion abzielen. Schon heute sei es zum Beispiel üblich, Einzelteile, aus denen ein Industrieprodukt montiert wird, mit RFID-Chips auszustatten, erklärt Plapper. Die Ortung der Teile und die Auswertung der Ortungs-Daten erlaube es, die Montage-Abläufe zu optimieren – was Plapper Master-Studenten an dem Versuchstisch mit den Handlochern zur Aufgabe stellt. Der Professor denkt darüber nach, ob sich nach demselben Prinzip auf dem Campus Kirchberg eine Mini-Fabrik einzurichten ließe: Dort könnte er interessierten Firmen demonstrieren, wie man Prozesse durch Daten-Auswertung verbessert.

Andere Forschungsvorhaben liegen im Bereich Robotik: Mit einer Firma versuchen Plapper und sein Team den letzten Arbeitsschritt bei der Herstellung von Ventilgehäusen – das Schleifen – einem Roboter zu übertragen, der dank Sensoren in seinen Armen sehr präzise Bewegungen vollführen kann. „Gelingt uns das, kann der Roboter manuelle Tätigkeiten übernehmen, die laut sind, eintönig und damit sehr unattraktiv.“ Zum „Ende der Arbeit“ führe das sicherlich nicht. „Dieser Betrieb kann Arbeiter dringend an anderer Stelle gebrauchen.“

Den Stand erheben Weil sich um „Industrie 4.0“ noch viele Fragen stellen, beschäftigte sich im deutschen Maschinen- und Anlagenbau vergangenes Jahr laut einer Untersuchung des Branchenverbands VDMA erst jedes fünfte Unternehmen „intensiv“ mit „Industrie 4.0“ und nur 5,6 Prozent der Firmen wurden zu „Pionieren“ gezählt. Georges Santer, Berater bei der Fedil, räumt ein, derzeit sei noch nicht genau bekannt, inwiefern die Luxemburger Industrie dabei ist, die Digitalisierung aufzugreifen. „Wir werden das demnächst über Digital4Industry erheben.“

Die Chancen der Digitalisierung lägen aber nicht nur in der individualisierten Produktion innerhalb großer Serien oder in sich selbst steuernden, vernetzten Fabriken, meint Santer. „Ein Betrieb, der seine Daten auswertet, um Prozesse zu verbessern, geht schon einen wichtigen ersten Schritt, und auch die Wartungsvorhersage könnte für so manches Unternehmen interessant sein.“

Als ein gelungenes Beispiel, wie sich auf Industrieprodukte zusätzlich Dienstleistungen aufsetzen lassen, wird immer wieder Tarkett genannt: Der Hersteller von Fußbodenbelag hat seine Produktion in der Nähe von Hosingen nicht nur stark automatisiert, was im Grunde „Industrie 3.0“ entspricht. Er bietet den Kunden auch an, die Musterung des Fußbodenbelags selber zu wählen, und am Ende verkauft er nicht den Fußbodenbelag quadratmeterweise, sondern vermietet das als Leistung. Sie schließt unter anderem die Reinigung des Belags ein.

„Nun kommt alles voran“ „Der Wandel in der Luxemburger Industrie kündigt sich an“, sagt Johnny Brebels. Er ist bei Luxinnovation zuständig für den Bereich „Material und Produktionstechnologien“. Luxinnovation sehe „immer wieder interessante Projekte“ Luxemburger Betriebe. Sechs davon könnten sich noch dieses Jahr konkretisieren. „Sie reichen von der Umstellung kleiner Produk-
tionseinheiten in Richtung Industrie 4.0, bis hin zu kompletten Fabriken.“ Die Vorhaben hätten „lange reifen“ müssen. „Nun aber kommt alles voran.“

Damit es noch weiter voran geht, wolle „Digital4Industry“ einerseits informieren, „was es gibt und was möglich ist“, erklärt Georges Santer. Andererseits ermittle man für den Wirtschaftsminister, welche Hindernisse für die Anwendung neuer digitaler Konzepte in der Industrie bestehen und welche Innovationsbeihilfen sinnvoll sein könnten. Johnny Brebels kündigt an, für interessierte Unternehmen solle eine „Technologieplattform“ entstehen. Sehr wichtig in dem Zusammenhang sei das Abkommen über die EU-Hochleistungscomputerinitiative eines Konsortiums aus sieben Mitgliedstaaten, das Wirtschaftsminister Etienne Schneider am 23. März für Luxemburg unterzeichnet hat. „Im Rahmen der Initiative wird Luxemburg bis 2018 einen Hochleistungsrechner mit einer Leistung von einem Petaflop anschaffen.“ Das sei zwar noch kein Supercomputer der allerneuesten Generation – über die Verteilung dieser Rechner soll im Konsortium erst später entschieden werden. Der Petaflop-Computer werde aber auf „Industrie 4.0“-Ansprüche der Privatwirtschaft zugeschnitten. „Die Firmen wissen dann, mit welcher Leistung sie auf dieser Computerplattform rechnen können und welchen Sicherheitsansprüchen sie genügt.“ Dass Luxemburg die Leitung in dem EU-Konsortium innehat, dem sich noch Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Portugal und die Niederlande angeschlossen haben, sichere dem Land natürlich obendrein „Visibilität“.

Vielleicht sind es öffentlich finanzierte Offerten wie diese, die der vernetzten Industrie in Luxemburg am Ende besonders nachhelfen: „Immer mehr ausländische Firmen mit Ambitionen in Richtung Industrie 4.0 zeigen Interesse an einer Niederlassung hier“, so Johnny Brebels. „In den letzten Jahren erhielten wir im Schnitt zwei solcher Anfragen pro Jahr. Allein seit November 2016 sind es sechs.“ Namen kann Johnny Brebels ebenso wenig nennen wie zu den besonders innovationswilligen heimischen Firmen, die schon bald auf „Industrie 4.0“ umstellen könnten. „Und noch sind diese Unternehmen nicht hier.“ Doch wenn sie kämen, brächten sie ihre Produktion mit.

3D-Druck Zusätzlich anzukurbeln hofft „Digital4Industry“ den digitalen Innovationstrend durch ein zweites Kompetenzzentrum in einer Partnerschaft zwischen öffentlicher Forschung und privater Industrie: 2015 wurde das erste, ein Zentrum für Verbundwerkstoffe, angeschoben. Es hat nicht direkt mit „Industrie 4.0“ zu tun, beim zweiten Zentrum wird das anders. Es soll sich um „additive Fertigung“ kümmern. Damit ist 3D-Druck im industriellen Maßstab gemeint, der eine wichtige Rolle in einer „individualisierten“ Fertigung einnehmen könnte. „Bereits heute stellt ein Luxemburger Industriebetrieb mit 3D-Druck Teile für die Flugzeugindustrie her“, sagt Johnny Brebels. „Ein anderer produziert Greifer für Roboter.“ Insgesamt 31 Firmen hätten sich bereit erklärt, das Kompetenzzentrum mitzutragen, soll heißen, auch mitzufinanzieren. „Das ist mehr an kritischer Masse, als für das Zentrum für Verbundwerkstoffe gefunden wurde.“

Johnny Brebels sieht durchaus eine Gefahr, dass die Luxemburger Industrie Schaden nehmen könnte, falls sie die Digitalisierung verpasst. „Im Moment sind vor allem große Unternehmen die Vorreiter, das hat mit Rentabilitätsfragen und mit Skaleneffekten zu tun.“ Aber nicht alle Großen der verarbeitenden Industrie hätten „Industrie 4.0“ verstanden. „Ich kann nur hoffen, dass sich das ändert, denn die Entwicklung geht nicht linear, sondern exponentiell voran, und das führt zum Survival of the fittest.“

Peter Feist
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