Helminger, Guy: Ver-Wanderung

Rekonstruierte Wahrnehmung

d'Lëtzebuerger Land vom 25.07.2002

Wie in der Reihe Graphiti üblich, purzeln Strichmännchen akrobatisch über den hier gelb-grünen Einband; sie umspielen den schön gerahmten Titel Ver-Wanderung, der im Leser Ver-Wunderung auslöst. Wortakrobat Guy Helminger weiß als poeta doctus, dass seit den Anfängen der modernen Poesie "surprise", die befremdliche, gar schockierende Überraschung, ein unverzichtbarer Arbeitsbegriff ist. 

In diesem Sinne markiert er auch dem neugierig-duldsamen Leser sein erschwert zugängliches Lyrikterrain mit dem kuriosen Motto: "Ich irre/ ver-/ und schreibe/mich /mit Verdacht/ auf gerne." Kryptisch formuliert sind konsequenterweise auch die Überschriften der acht Kapitel der Sammlung mit jeweils präzis im Zehner-Pack zusammengestellten verrätselten Gedichten. So liest man beispielsweise: "(kehlig)/ Ur/ Laub/ (fuchsrot)" oder "Arien/ reparatur/ (Kölner Seitenstraßen)". In diesem seiner Wahlheimat Köln gewidmeten Kapitel reimt der Autor kreuzweise vierzeilig je drei Strophen umfassende Poeme. Ansonsten belässt er es beim freirhythmisch linksbündigen oder zentrierten Gedichtaufbau von variabler Länge und Breite - im Überblick mithin nicht sonderlich experimentell auffallend.

Die Leseerschwernisse, die dem flüchtigen, auf Oberflächenreize fixierten Zeilenverschlingen erfreulicherweise entgegenwirken, entstehen durch andere Stilmittel; diese lassen auch bei fortschreitendem Einlesen die poetischen Funde aufleuchten. (Stilmittel übrigens, die zumeist schon in früheren Lyrik-"Schulen" erprobt wurden, die unter den Zeitgenossen beispielsweise einem Thomas Kling oder Dieter M. Gräf schon zu Ansehen und Preisgeldern verholfen haben).

Guy Helmingers "Machart" seiner "Sprachskulpturen" lässt sich auf ein knappes Schlüssel-Zitat zurückführen; in dem Gedicht Abgesteckt heißt es: " ... und die Sprache/ die meine Wahrnehmung rekonstruiert". In diesem gar nicht übermäßig kopflastigen Ausspruch mögen kluge Seminaristen verzwickte Kommunikationstheorien, Ergebnisse einer modernen Wahrnehmungsästhetik und einen postmodernen Diskurs entdecken - die konkreten poetischen Auswirkungen in diesen Gedichten sind, auf die wesentlichsten verkürzt, folgende: 

Als waschechter Luxemburger trumpft Helminger selbstverständlich mit französischen und lëtzebuergeschen Einlagen auf; darüber hinaus implantiert er auch englische, spanische und italienische Wörter und Verse, sei es der Ironie wegen, sei es, um deren Klang- und Bildreize auszukosten oder um dem Leser eine Falle zu stellen, aus der ihn nur das Wörterbuch befreit. Gelegentlich ist bei nicht so geläufigen Fremdwörtern und Begriffen ein Lexikon nützlich (Gottseidank seltener als beim allwissenden Durs Grünbein).

Der Dichter hat eine ausgeprägte Vorliebe für Assoziationsbrüche, für Verschachtelungen von Sinneseindrücken, für Gedankenaufsplitterung; dazu zerlegt oder verkürzt er gern Wörter, Silben, Satzbauten und vermischt Sprachebenen, etwa ausgetüftelte Metaphern mit simpler Umgangssprache. Gedichttitel zerbricht er oft, um sie im ersten Vers fortzuführen; ähnlich verfährt er beim enjambierenden Zeilenbruch und mit häufig eingestreuten Parenthesen setzt er Lesestopps und damit Sinnschranken.

Fast in jedem Gedicht trifft man auf ausgeklügelte bildhaft-sinnliche Neuschöpfungen wie "lichtbezuckerte Waffel", "lichtabgewebten Fäden", "abgestochene Zeit", "teeblättrigem Licht". Das gesamte Instrumentarium des Poeten, dem nicht an platter Wiedergabe von Realität gelegen ist, "rekonstruiert" wahrgenommene Reiseimpressionen, erfahrene Liebesszenarien, beobachtete Verhaltensmuster, alltägliche Abläufe und Zeitgeist-Vorgänge mit einer so komplexen Schreib-"Methode", dass der Leser diese Gedicht-"Inhalte" selber "rekonstruieren" muss, sei es mit Lust und/ oder Frust. Um Letzteren von vornherein zu verhindern, sollte man vielleicht die Lektüre mit Gedichten beginnen, die den Sprachschelm Helminger nahezu in Dada-Hochform zeigen:

Gethsemane - Himalaya 

(eine Fußwegbeschreibung)

 

Ins Zen drum links rum

befindet sich die Kirche

gleich rechts andernorts

dann über die Erdbeer fällt

es gerade aus den Wolken

nach ins Zen drum links

rum wo wir jetzt gerade

stehen

Über ein vergleichbar angestrengtes Formbewusstsein wie der Autor verfügt Illustrator Michel Geimer nicht. Seine naiv-brav hingetuschten zwölf Zeichnungen wirken eher wie laienhafte Ergebnisse eines "kreativen" Wochenend-Workshops. So regt ihn in einem Gedicht das Bild vom "faltigen Schwimmbad" zur banalen Skizze eines Bassins mit Sprungbrett an. Auf solche Beigaben hätte man gern verzichtet; sie sprechen nicht gerade für den Kunstsinn des Lektorats und - was schwerer wiegt - sie konterkarieren, ja diffamieren das poetische Leistungsstreben des Dichters.

 

Guy Helminger: Ver-Wanderung; Gedichte; mit Illustrationen von Michel Geimer; Éditions Phi, Reihe Graphiti D-6, 2002, 126 S., 12 Euro.

 

 

 

Fritz Werf
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