Soziale Medien

Im Fomo-Fieber

d'Lëtzebuerger Land du 24.01.2020

Neun Stunden und neun Minuten zeigt die Bildschirmanzeige auf dem Smartphone von Armina, 20 Jahre. „Das ist realistisch, du bist auch ständig am Telefon“, neckt sie Lara, 17, eine Klassenkameradin. Wir sitzen in einem Saal der Erzieherschule LTPES in Mersch und unterhalten uns darüber, welche sozialen Netzwerke derzeit unter Luxemburgs Jugendlichen angesagt sind: Laut Bee-Secure, Anlaufstelle für Internetsicherheit des nationalen Jugenddienstes SNJ, war 2018 mit 75 Prozent der NutzerInnen mit Abstand Facebook die beliebteste Online-Plattform, dahinter folgte Instagram mit 33 Prozent. Die Zahlen bezogen sich auf die gesamte Bevölkerung, ungeachtet des Alters.

„Facebook ist altmodisch“, sagt Naima, 19 Jahre, resolut. „Das nutzen wir nur, um mit den Eltern in Kontakt zu sein und mit Freunden im Ausland.“ Die Foto-Messenger-Dienste Snapchat und Instagram zählen derzeit zu den beliebtesten, ist sie überzeugt, die anderen vier jungen Frauen in der Runde nicken eifrig. Das deckt sich mit ausländischen Studien zum jugendlichen Kommunikationsverhalten: Snapchat oder Whatsapp hatte die Nase vergangenen Jahr vor, wenn es um soziale Netzwerke geht, die auf keinem jugendlichen Handy fehlen dürfen. Meist dicht gefolgt von Instagram oder Youtube. Und Videoplattform Tiktok nicht zu vergessen, „aber das ist eher bei den ganz Jungen zwischen zehn und 15 Jahren“, sagt Naima. In Deutschland zählt die Tiktok mehr als fünf Millionen vornehmlich junge Nutzer, in Luxemburg zirkulieren Tiktok-Videos eher unter Teenagern, die chinesische Video-App findet aber immer mehr Fans.

Sich ohne Smartphone und Messenger-Dienste durch den Alltag zu bewegen, „kann ich mir nicht mehr vorstellen“, sagt Armina. Alle nicken. Das Smartphone ist längst zum wichtigsten Utensil geworden, das über In-sein oder Out-Seit entscheidet. Mittels Snapchat und Whatsapp stehen die Jugendlichen untereinander in ständigem Kontakt, mit dem Freund, der besten Freundin oder der Clique. „Ich habe inzwischen so viele Whatsapp-Gruppen, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten“, räumt Stacy, 21 Jahre alt, ein: „Für die Schule, für Freunde, aber manche auch nach Aktivitäten sortiert.“ Da wird sich die neueste Netflix-Serie kommentiert, die coolsten Memes (manipulierte Bild-, Ton-, oder Video-Dateien, die etwas lustig kommentieren) ausgetauscht, das nächste Treffen verabredet, die Hausaufgaben oder Klassenarbeit besprochen oder „einfach nur„abgelästert“, erzählen die jungen Frauen.

Die Pflege der diversen Plattformen verschlingt Zeit, die zwischen Schule und Zuhause gefunden werden muss. Einige Lehrer sind bereits dazu übergegangen, Handys vor dem Unterricht einzusammeln, damit sich die Jugendlichen besser auf den Unterricht konzentrieren. Die Schulfreundinnen halten ihre Smartphones nebeneinander und starren gebannt auf den Bildschirm. Apple hat seit 2017 eine Funktion eingeführt, mit der NutzerInnen die Zeit, die sie im Netz und mit ihren Smartphone verbringen, besser verstehen und regulieren können: Keine der Frauen hat unter fünf Stunden Screen-time im Durchschnitt. Pro Tag, wohlgemerkt.

Dass Jugendliche sich so viel online tummeln, liegt daran, weil in den meisten Messenger-Diensten, Anreize zu bleiben eingebaut sind. Snapchat-Nutzende können schauen, wer ihnen folgt. Ihr Punktwert wächst mit der Nutzung. Je mehr Schnappschüsse jemand postet, umso mehr Trophäen oder Punkte bekommt sie. Das wirkt wie ein Sog und schafft zugleich Druck. „Wenn man 200 Punkte hat und jemand steigt aus, muss man wieder von vorne anfangen“, beschreibt Stacy den Reiz, der von Snapchat ausgeht, „Manchmal frage ich dann eine Freundin, ob sie meinen Streak weiterzuführen, wenn ich mal offline bin“, sagt Catia.

Mitunter sei das ständige Vernetztsein anstrengend, sagen alle fünf. „Ich kann keine Hausaufgaben machen, wenn das Handy neben mir liegt. Dann muss ich ständig aufs Display schauen“, erzählt die 18-jährige Catia. Ihr Telefon vibriert bei jeder Nachricht, manchmal geht es im Minutentakt. „Ich lege mein Telefon weit weg, wenn ich Ruhe will“, sagt Naima. Aber abends, zum Schlafen, das Telefon ganz abzustellen – das kann sich keine vorstellen. „Und wenn etwas Wichtiges ist?“, fragt Lara skeptisch. Fomo heißt das Phänomen, das zuerst unter US-amerikanischen Millennials einen Namen bekam und inzwischen längst Folgegenerationen erfasst hat: Fear of missing out. Einmal das Handy vergessen und schon den neuesten Talk of the town verpasst, ein Gerücht, eine Meme, über die die ganze Clique lacht.

Auch andere unschöne Erscheinungen der virtuellen Welt kennen die jungen Frauen: Cybermobbing und Sexting (siehe unten). „Ich glaube, es gibt keine, die das nicht kennt“, sagt Lara und schaut in die Runde. Wieder nicken alle. Die Jugendlichen sind sich der Risiken und dem damit verbundenen Stress der ständigen Online-Präsenz bewusst – und schauen zumindest bei ihren Geschwistern genauer hin: „Ich habe eine jüngere Schwester, die hatte schon ab der 7e ein Smartphone. Da hatte ich noch ein Nokia mit Tastenfunktion“, stellt Naima fest. Die technologische Entwicklung sei mittlerweile so rasant schnell, dass es sogar der internetaffinen Generation Z unheimlich wird. „Ich sammele von meiner Schwester das Handy abends ein. Sonst schläft die gar nicht mehr“, sagt Naima streng. „Und manchmal rate ich ihr, etwas aus dem Netz wieder herauszunehmen, wenn sie zu persönliche Dinge postet.“ Armina wirft ein: „Die haben kein Gespür dafür, was geht und was nicht.“

Die große Schwester übernimmt die Medienerziehung, die früher Aufgabe der Eltern war. Denn viele sind von den Internet-Trends zunehmend überfordert. „Mein Vater nutzt außer Facebook kaum soziale Medien“, sagt Stacy und es klingt mitleidig. Viele Eltern, konstatieren die Jugendlichen einhellig, hätten „den Anschluss verpasst“. „Die wissen gar nicht, was wir im Netz machen.“ Bei Lara war es die Mutter, die zu Beginn genau hingeschaut und ihrer Tochter Tipps gegeben hat, wie sie sich im Netz bewegen kann, ohne zu viel von sich preiszugeben. Heute macht sie dasselbe bei der Schwester. „Die posten Dinge, die hätten wir niemals von uns ins Netz gestellt“, sagt sie besorgt.

Durch die ständige Präsenz im Netz verschwimmen Grenzen. Ein Nebeneffekt ist die schleichende Gewöhnung daran, quasi dauerüberwacht zu sein. Per Snapchat lässt sich der Ex-Freund oder die Ex-Freundin stalken. Ob jemand online ist, lässt sich ermitteln, aber auch, wo sich jemand gerade im „echten“ Leben aufhält, sei es durch Fotos oder durch per GPS übermittelte Standortdaten. Dass so ganze Generationen ihre Bewegungsprofile an Firmen weitergeben, die sie auswerten und für ihr Geschäftsmodell nutzen, regt hier niemanden auf: „Was haben wir denn für eine Wahl?“, so die Mädchen. Es ist keine Frage.

Ines Kurschat
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