Heute loben wir die schweigende Minderheit. Der Luxemburger Pavillon auf der Weltausstellung in Shanghai ist ein Spielplatz der einheimischen Wirtschaft. Ein sogenanntes „Groupement d’intérêt économique“ hat das kostspielige Anbiederungsmanöver an die Chinesen organisiert. Es versteht sich von selbst, dass diese Herrschaften sich lieber die Zunge abbeißen würden, als auch nur ein Sterbenswörtchen über die undemokratischen und menschenfeindlichen Zustände in China zu verlieren. Trotzdem kümmern sie sich um eine „présentation économique, industrielle, géographique et historique du pays“. Wie die historische Darstellung aussehen wird, lässt sich am Beispiel der Gëlle Fra ablesen: die Kriegerbraut mit dem Heldenkranz wird kurzerhand umgedeutet zum „Friedenssymbol“. Das nennt man programmatische Geschichtsfälschung.
Nun kommt ein neues, zwiespältiges Element ins Spiel. Jene Wirtschaftsführer, die hierzulande längst nicht mehr nur zündeln, sondern offen mit dem Flammenwerfer gegen den Sozialstaat anrücken, möchten ihr rein kommerzielles Shanghai-Unterfangen unbedingt mit Kultur schmücken. Einmal mehr soll die Kultur dazu herhalten, biedere Handelsabsichten zu kaschieren. Es springt ja langsam ins Auge: Jene Banken zum Beispiel, die ihren Klienten am hinterhältigsten in den Rücken fielen, zieren ihre Geldinstitute mit den spektakulärsten Kunstwerken. Je unverfrorener das Schlachthausritual, umso farbiger und aufdringlicher die „kulturelle Dekoration“.
Eine Handvoll einheimischer Künstler wird also im Shanghai-Pavillon antreten, um den Wirtschaftsmanagern als wohlfeiles Alibi zu dienen. Der Kulturministerin, unsäglich naiv und schlecht beraten wie immer, ist diese Täuschung einen Kredit wert, der alles übersteigt, was sich hart ackernde Kulturschaffende hierzulande je erwarten dürfen. Die Beschwichtigungs- und Beschönigungsrhetorik wird gleich von Amts wegen mitgeliefert. Ein beteiligter Musiker versucht gar die Quadratur des Kreises: er ist interessiert „par les différences entre l’Ouest et l’Est, qui finalement ne font que nous rapprocher.“ Wie bitte? Das müsste uns der Maestro mal näher erklären. Seit wann konvergieren denn Demokratien und Diktaturen?
Kulturschaffende spielen von vorneherein in einer anderen Liga als die Wirtschaftsvertreter. Die unbedingte Ausdrucksfreiheit ist das Alpha und Omega ihrer Arbeit. Künstler, die sich der Zensur beugen, schicken sich selber in Pension. Nun stellt sich im Zusammenhang mit China ja unheimlich konkret und dringend die Zensurfrage. Um jede Debatte im Ansatz zu ersticken, hat sich ein sogenannter „unabhängiger Kulturkommissar“ etwas Tolles einfallen lassen. Er schaltet gleich alle Kunstformen aus, die in Shanghai auffällig werden könnten. Meinungen, Ansichten, klare Positionen sollen gar nicht erst geäußert werden. Man will ja die chinesischen Zensoren nicht unnötig verärgern. So kommt es, dass die Künstler des Worts insgeheim zu mißliebigen Provokateuren erklärt werden, unerwünscht im sakralen Gehege der großherzoglichen Wirtschaft. In Shanghai treten folgerichtig nur die Musiker und Gliedmaßenverrenkungsartisten an. Die reden ja nicht. Und riskieren kaum, subversive Ansichten von sich zu geben.
Musik ist eine Sprache, die in der ganzen Welt verstanden wird. Dieses Klischee ist offenbar noch nicht abgegriffen genug. Denn die Floskel bedeutet ja nur, dass jeder Musik nach seinem Gusto interpretieren kann. Die chinesischen Machthaber werden sich wohl freuen über die unverbindliche, nette Geräuschkulisse im zerknitterten Pavillon. Und über das harmonische Bewegungspotenzial der schönen Tänzerinnen und Tänzer. Im Endeffekt läuft die Geschichte auf das gleiche Fiasko hinaus, das schon mit der Gëlle Fra eingefädelt wurde: die luxemburgische Kultur wird stromlinienförmig zurecht gestutzt, damit sie ins aseptische Konzept der Wirtschaftskapitäne passt. Man amputiert kurzerhand den gesellschaftskritischen Flügel. Die treu ergebenen Zensoren sitzen also schon hier im Kulturministerium. Zum einen Geschichtsfälschung, zum andern Kulturverleugnung. Eine berückende Kombination. Und ein gutes Rezept, wie man sich unsterblich lächerlich machen kann. Und ganz nebenbei die Kulturschaffenden hierzulande entmündigt.
Wir setzen jetzt all unsere Hoffnungen in den wundervollen Cellisten André Mergenthaler. Wenigstens er wird Shanghai gewaltig aufmischen, da sind wir uns sicher. Soeben hat er hier, auf heimischem Terrain, ein Konzert namens Against the wall bestritten. Er trat unerschrocken auf gegen die Schandmauer, mit der die israelische Regierung die Palestinenser abriegelt und einsperrt. In China wartet viel Knochenarbeit auf den politisch engagierten Musiker. Er muss seine cello loops nicht einmal gegen die endlos lange Chinesische Mauer lancieren. Vielmehr verdienen die Betonmauern in den Köpfen der Diktatoren ein paar vorrangige Sprengladungen. Wir wünschen André Mergenthaler einen heilsam dissonanten Sound. Und seiner Cello-Waffe ein scharfes Profil.