Die kleine Zeitzeugin

Positiv diskriminieren

d'Lëtzebuerger Land du 22.06.2018

Irgendwann, vor langer, langer Zeit, aber das tut eigentlich nicht zur Sache, es hätte gestern sein können oder es könnte morgen sein, und es könnte irgendjemand sein, aus einem Kulturkreis, der sich seiner selbst so sicher ist, dass ihm oder ihr das nicht einmal bewusst ist.

Weiße junge Frau, zum Beispiel aus Luxemburg, ein privilegierter Mensch aus einem privilegierten Land, frisch aus dem Flugzeug geschlüpft und hinein in die infernalische Hitze der New Yorker U-Bahn und wieder raus: Aha, wo bin ich hier? Keine Ahnung. Da, der U-Bahnfahrer tritt aus der Fahrerkabine, und inmitten des Menschengewimmels bittet sie den alten, schwarzen Mann um Auskunft. Der antwortet nicht, geht wortlos weiter.

Weißes, blauäugiges Fräulein ist nicht nur frustriert, sie ist beleidigt. Enttäuscht, zutiefst enttäuscht. Wie kann er mir das antun?! Mich zu ignorieren, die ihn zur Kenntnis nahm. Mich, die junge, vorurteilslose Weiße; mich, die ihn, gerade ihn, auserkoren hatte, mir weiter zu helfen. Die ich mit Schwarzen spreche wie mit jedem anderen. Und dann lässt er mich stehen. Mich, die junge Weiße, die Latein kann und auf seiner Seite ist. Gegen die Kapitalisten und gegen den Vietnamkrieg. Wahrscheinlich sind sie gar nicht so, wie ich mir das vorstelle. Onkel Tom hat mich zutiefst enttäuscht.

Ein als fortschrittlich geltender Arzt in Luxemburg war sehr ausländer_innenfreundlich, in seinem Wartesaal in der Stadt saßen beinahe nur Portugies_innen, es war in den Siebzigerjahren, als die Ausländer noch aus Portugal kamen. Jahre später war das Bild ein anderes, nicht nur, dass der Arzt bei der Erwähnung von Cattenom angeödet abwinkte, er machte auch abwertende Bemerkungen bezüglich jener, die früher hauptsächlich seine Patienten waren. Was war passiert, dass sein Weltbild so gekippt war? An einem bestimmten Punkt war sein Engagement ins Gegenteil umgeschlagen. Hatte er plötzlich das Gefühl, dass denen, denen er geholfen hatte, gar nicht zu helfen war? Denen ...

Welchen Illusionen hat mensch angehangen, bis er dann angeblich realistisch, eher verbittert ins andere Extrem umschwenkt? Sie sind doch nicht so, wie ich sie mir erträumt hab. Der edle Wilde, der geniale Jude, der musikalische Zigeuner. Der gutmütige Schwarze, der das Tanzen im Blut hat. Die von primitiven Luxemburgerinnen unterdrückte Portugiesin. Der Flüchtling mit dem Heiligenschein. Der sensible Schwule.

Wie können sie mir das antun, nicht so zu sein, wie ich sie mir vorstelle im Weltbilderbuch, in dem sie meine Helden zu sein haben? So anders als „wir“, so menschlich, so musisch, mit Familiensinn, Spontaneität, Humor, einem interessanten Gott, überhaupt so interessant. Die Chance, dass sich jemand als Beschützerin und Schutzpatronin aufspielt, einfach so verspielen? Nicht einmal schätzen, würdigen? Wie können sie diese An-Erkennung verkennen? Wie können sie derart ent-täuschen?

Und warum verdrehen jüdische Freund_innen die Augen, wenn ich auf der Intelligenz ihrer Community beharre, sie gar interessant finde? Ist eine Talkshow nicht schon dann gerettet, wenn jemand, dessen Judentum erwähnt wird oder bekannt ist, in der Runde sitzt? Sind sie denn nicht eloquenter als die anderen, schlagfertiger, witziger, und ist das nicht auch logisch, weil in jüdischen Schulen die Redekunst eine wichtige Rolle spielt?

Und dann diese Familiengeschichten, die weltweiten urbanen Verflechtungen, mit denen die, deren Vorfahr_innen vorwiegend die Scholle beackerten, gar nicht mithalten können? Was haben wir schon groß zu erzählen?

Gönnerhafte Überheblichkeit, Verherrlichung und Romantisierung von Ethnien, Bevölkerungsgruppen, Einzelnen, die nicht der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft entsprechen, ist jenen, von denen sie ausgeht, oft nicht einmal bewusst. Auch nicht, dass sie damit sich selbst verherrlichen, letztendlich.

Was ist denn, ich hab doch was Positives gesagt?

Michèle Thoma
© 2024 d’Lëtzebuerger Land