Energiegewinnung aus Kernfusion wird viel teurer und langwieriger als einst versprochen

Zombie-Reaktoren

d'Lëtzebuerger Land vom 05.08.2016

Was ist für Politiker schöner, als auf einen roten Knopf zu drücken? Angela Merkel, promovierte Physikerin, war selig, als sie heuer am 3. Februar in ihrem Wahlkreis an der Ostsee die Anlage Wendelstein 7-X einschaltete. Eine halbe Sekunde lang flackerten Monitore: das erste Wasserstoff-Plasma. Sibylle Günter, die wissenschaftliche Direktorin des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik (IPP), erläuterte, aus vier Eimern Wasser werde dereinst so viel Energie gewonnen werden wie heute aus 40 Tonnen Kohle. Von der „unbegrenzt verfügbaren und sauberen Energiequelle“ schwärmte auch die deutsche Bundeskanzlerin: „Wir glauben, dass dieses Geld gut angelegt ist.“

In dem Städtchen Greifswald betreuen rund 450 Mitarbeiter einen Edelstahlring mit 16 Metern Durchmesser für Millionen Grad heißes Plasma, extrem starke Mikrowellen-Heizer und gleich daneben 70 auf minus 270 Grad heruntergekühlte Magnetspulen von jeweils 3,5 Metern Höhe. Für Strom-Erzeugung wäre das Ungetüm aber zu klein: Die 725 Tonnen Hightech sollen lediglich die Kraftwerkstauglichkeit von Stellarator-Fusionsanlagen erforschen. US-Physiker waren in den 1950er Jahren auf die Idee gekommen, Plasma in einem verdrillten Magnetfeld so einzuschließen, dass Wärme im Dauerbetrieb gewonnen werden kann. Bis 2020 sollen Entladungen von bis zu 30 Minuten möglich sein. Die nächste Versuchsphase soll Mitte 2017 beginnen und erst einmal 10 Sekunden erreichen.

Der ab 1993 gebaute Wendelstein 7-X, derzeit der größte von weltweit neun Stellaratoren, wurde Ende 2015 fertig, fast ein Jahrzehnt später als ursprünglich vorgesehen. Die Kosten, die EU, Deutschland und das arme Bundesland Mecklenburg-Vorpommern tragen, haben sich dafür auf mittlerweile 1 Milliarde Euro verdoppelt. Damit liegt das Experiment im Trend der Teilchenphysik: immer gigantischere, langwierigere, teurere Bauten – bei nebulösem, jedenfalls Nicht-Wissenschaftlern nur schwer vermittelbarem Nutzen.

Sterne auf der Erde nachzuahmen, erweist sich als viel schwieriger als einst angenommen. Bei der Atomkonferenz 1955 in Genf hatte Konferenzpräsident Homi Bhabha vollmundig angekündigt, in 20 Jahren werde Kernfusion anwendungsreif sein. Seither „geistert der weiße Elefant der Kerntechnik als ewige Fata Morgana an den Horizonten“, frotzelt der Historiker Joachim Radkau. Andere spotten über die „Kernfusionskonstante“: Bis zum Durchbruch werde es immer „noch 20 Jahre“ dauern. Wobei IPP-Physiker heute eher von 50 Jahren sprechen.

Das größte Vorhaben ist ITER: der International Thermonuclear Experimental Reactor, der gerade im französischen Kernforschungszentrum Cadarache gebaut wird. Sein Herz ist ein Tokamak, eine kreisrunde Plasma-Kammer mit Magnetfeldern, wie sie sowjetische Physiker in den 1950er Jahren erdachten. Anders als ein Stellarator kann ein Tokamak nicht ununterbrochen arbeiten, sondern muss Pausen einlegen. Dafür ist das Prinzip besser erforscht: Bislang gibt es rund 30 Versuchsanlagen dieses Typs.

In einem von Euratom im britischen Culham errichteten Tokamak namens JET gelang es 1997 zum ersten Mal, Fusionsplasma zu zünden: Mit einer 80 Kubikmeter großen Brennkammer wurde eine Leistung von 16 Megawatt erzielt – allerdings wurden 24 Megawatt verbraucht, um das Plasma aufzuheizen. ITER dagegen soll erstmals netto Energie erzeugen: Eine 837 Kubikmeter große Brennkammer soll 50 Megawatt verbrauchen und 500 Megawatt bringen, und zwar jeweils rund 8 Minuten lang. Wenn das gelingt, soll das Demonstrationskraftwerk DEMO gebaut werden, um mit einem geschlossenen Tritium-Kreislauf richtig Strom zu erzeugen: Eine Brennkammer von bis zu 3 500 Kubikmetern soll vielleicht 4 000 Megawatt liefern.

Der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow hatte 1985 dem US-Präsidenten Ronald Reagan das ITER-Projekt vorgeschlagen. Ab 1988 begannen am IPP in Garching bei München die Planungen. Dann wurde jahrelang über den Standort gestritten. Seit 2010 fließt in Cadarache, 60 Kilometer nordöstlich von Marseille, tatsächlich Beton: Auf einer Fläche von 60 Fußballplätzen entstehen 39 Gebäude. Die Halle für den 23 000 Tonnen schweren Fusionsreaktor wird 120 Meter lang, 80 Meter breit und 7 Stockwerke hoch.

Ursprünglich sollte ITER rund 5 Milliarden Euro kosten und 2016 fertig sein. Bald wurden daraus 15 Milliarden Euro und 2020. Allein der EU-Anteil, der seit Jahren den Großteil des Euratom-Budgets verschlingt, stieg von 2,7 auf 6,6 Milliarden Euro. Diesen Juni hat nun der ITER-Rat einen neuen Zeitplan genehmigt: ITER soll 2025 in Betrieb gehen. Deuterium-Plasma könnte ab 2027 fusionieren, später Tritium. Die Verzögerung wird wohl weitere 4,6 Milliarden Euro kosten. Genaueres soll die nächste Ratssitzung im November beschließen. Die USA, die von 1998 bis 2003 schon einmal ausgestiegen waren, wollen sich vorerst nur bis 2018 beteiligen. Kanada hat ITER bereits vor 13 Jahren verlassen.

Herauszufinden, was ITER wirklich kostet, wäre ein eigenes Forschungsprojekt. Die Euratom-Mitglieder, also die EU-Staaten und die Schweiz, sollen 45,6 Prozent zahlen. Den Rest teilen sich Russland, Indien, China, Südkorea, Japan und die USA. Die Beiträge der Staaten sind jedoch überwiegend nicht Geld, sondern Sachleistungen, die mit Hilfe einer eigenen ITER-Punktewährung verrechnet werden: Kabel aus Russland, Wassertanks aus USA, Reaktorsegmente aus Indien und so weiter. Die europäischen Anstrengungen werden von der ITER-Agentur Fusion4Energy mit Sitz in Barcelona koordiniert. Nicht zu verwechseln mit dem EUROfusion-Konsortium (Motto: „Realising Fusion Electricity by 2050“), das für Forschung zuständig ist und in Garching und Culham residiert.

2 000 Arbeiter, die zehn Millionen Teile aus aller Welt zu einer Maschine ohne Fehlertoleranz zusammensetzen, während Diplomaten aus 35 Ländern hineinreden: Europas größte Baustelle ist ein organisatorisch-logistischer Alptraum. Ein Grund für die Kostenexplosion sind zum Beispiel hunderte Betonpfeiler mit Gummipuffern, die eingebaut wurden, weil überraschend entdeckt wurde, dass Cadarache in einem Erdbebengebiet liegt. Ein Jahr lang wurde verhandelt, weil Italien Reaktorteile schrauben, Südkorea aber lieber schweißen wollte. Supraleitende, 380 Tonnen schwere Magnetspulen sind auch nicht überall zu kaufen. Dass sich die Handvoll einschlägiger Großkonzerne mit Kampfpreisen unterbietet, ist wenig wahrscheinlich. Die Branche trifft sich zum Beispiel in Monaco bei den „ITER International Fusion Energy Days“.

„Das pharaonische Irrsinnsprojekt geht einem totalen Fiasko entgegen“, ist der Kernkraftgegner Antoine Calandra überzeugt. Wie andere Kritiker verweist er auf die Gefahren von extremen Temperaturen, hohem Druck, explosiven Gasen und hochgiftigem Tritium. Eine Kernschmelze sei zwar ausgeschlossen, bei der Neutronenbestrahlung des Reaktormantels entstehe aber auch in einem Fusionskraftwerk tonnenweise radioaktiver Abfall. Lithium, aus dem der Brennstoff Tritium gewonnen werden soll, werde für Batterien gebraucht und sei keineswegs endlos vorhanden. „ITER ist ein Spielzeug reicher Männer, die für uns entschieden haben, mit unserem Geld“, meint Calandra. „Es ist eine zentralisierte, komplexe, dreckige Energie. Völlig obsolet.“

Für EDF, EON und andere Dinosaurier-Konzerne, die gerade vom Erneuerbare-Energien-Rummel bedrängt werden, macht vielleicht gerade das den Charme der angejahrten Utopie aus. „Fusionskraftwerke würden gut in die bestehende Infrastruktur passen und etwa so viel elektrische Leistung abgeben wie ein großes Kohlekraftwerk“, sagt Sibylle Günter. Nach Schätzungen ihres IPP-Instituts würde eine Kilowattstunde 5 bis 8 Cent kosten. Zum Vergleich: selbst im schattigen Mitteleuropa kostet Strom aus neuen handelsüblichen Photovoltaik-Anlagen heute nur noch 7 bis 9 Cent. Der älteste thermonukleare Reaktor ist und bleibt der beste: Er ist gratis, recycelt seine Abfälle und hat einen Sicherheitsabstand von 150 Millionen Kilometern. Er heißt Sonne.

Martin Ebner
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