Videogame

Knallbunte Verstörung

d'Lëtzebuerger Land vom 09.10.2020

Ob sie es wollten oder nicht, die Hersteller/innen der meist erwarteten Triple-A-Videospiele des Jahres unterstreichen das weltweite Lebensgefühl im Covid-19-Jahr 2020. Doom Eternal und The Last of Us: Part 2 zum Beispiel zeichnen spielbare Endzeitstimmungen. Letzterer ist eine höchst cinematografische Vergeltungsgeschichte mit starken Frauenfiguren nach einer Zombie-Apokalypse im Mittelpunkt, während mensch in Doom massenweise Dämonen den Garaus machen muss. Von wegen Hölle auf Erden. Der Protagonist muss dafür wortwörtlich wiederholt in die Hölle steigen. Die fast schon erlösenden, regressiv eskapistischen Videospielmomente kommen in entschleunigter und farbenfroher Form daher. Aber während hinter Tom Nooks unscheinbarem Waschbär-Hunde-Gesicht in Animal Crossing: New Horizons die Abgründe des westlichen Spätkapitalismus in seiner geschmacklosen Dekadenz durchscheinen, so ist die Schnitzeljagd bei Fall Guys: Ultimate Knockout komplett ideologiefrei.

Fall Guys war in den vergangenen Wochen überall präsent. Die Gaming-Kanäle auf YouTube sowie Twitch und anderen sozialen Medien waren überschwemmt mit Streams des Titels. Und auch wenn das Indie-Spiel seinen Aufschwung in die Mitte der Spielergemeinschaft PlayStation Plus zu verdanken hat – die Sony-Gesellschaft hat Abonnent/innen das Spiel im August gratis zur Verfügung gestellt – so wäre es doch zu simpel, die Popularität von Fall Guys darauf zu beschränken. In der ersten Verkaufswoche wurden auf Steam nämlich zwei Millionen digitale Kopien über die Theke gereicht. Immerhin für zwanzig Euro. Woher rührt also die Hysterie um dieses kleine Spiel?

Fall Guys ist ein Battle-Royale-Spiel, bei dem fünf Dutzend Online-Gamer/innen als bunte Bohnenmenschen gegeneinander antreten. Social distancing, ade! Sie laufen, hechten und ja, fallen mit der Körpermotorik eines Dreijährigen durch Minispiele, damit am Ende nur eine/r die glänzende Krone ergattert. Eine Partie besteht aus fünf Minispielen und nach jedem Spiel werden x Spieler eliminiert, bis dass eine Handvoll die letzte Spielrunde erreichen. Wer vor vielen Jahren im privaten Fernsehen grenzdebile Sendungen wie Takeshi’s Castle oder Wipeout gesehen und in Erinnerung behalten hat, dem wird das mot d’ordre bei Fall Guys durchaus bekannt sein. Die Minispiele reichen vom Rennen über ein Hindernisparcours, Fänkches oder Team-Spielen wie etwa einer Partie Fußball, in der, Sie wissen schon, das Runde ins Eckige muss. Aber alles leichter gesagt, als getan. Es wird sich angerempelt und im Weg gestanden, angehalten und dergleichen. Die englischen Hersteller von Mediatonic haben sich etwas dabei gedacht, 60 Spiele/innen aufeinander loszulassen.

Anfänglich hat Fall Guys etwas vom Andrang während der Geschäftsöffnung am ersten Tag des Winterschlussverkaufs. Um am Ende – je nachdem, wie weit oder nah es mensch an die Krone geschafft hat –, belohnt zu werden. Ergatterte Preise dienen jedoch nicht dazu, um die Laufgeschwindigkeit anzuziehen oder sonstige strategische Vorteile aufzubauen. Nein, mensch gewinnt Skins oder Kostüme und kann zukünftige Partien als Taube oder Hotdog antreten. Reine Kosmetik also. So viel zur Ideologiefreiheit.

Wenn auch manche Minispiele die subjektive Balance aus Frust und Spielspaß verfehlen – der Autor dieser Zeilen ist seit Wochen unfähig, den Rollteppich in Fruit Chute hochzuklettern, während ihm Unmassen an Obst entgegenkatapuliert werden –, so sind andere in ihrer kriminellen Simplizität nahezu perfekt. See Saw zum Beispiel sieht vor, dass die Spieler/innen über eine Serie überdimensionierter Wippen rennen. Rennen jedoch zu viele an einer Seite entlang, purzeln alle herunter und kommen nicht zur nächsten Wippe. Physics is really nothing more than a search for ultimate simplicity, but so far all we have is a kind of elegant messiness, fasste es einmal der amerikanische Autor Bill Bryson zusammen. Simpel – ja, elegant – je nachdem. Aber das Chaos bei Fall Guys ist nahezu perfekt. Und die Gefühle, die binnen Sekunden zwischen Lachkrämpfen und ausladenden Wutausbrüchen gegenüber den eigenen Spielfähigkeiten und denen der Mitstreiter/innen hin- und herwechseln können, machen aus Fall Guys ein Erlebnis, welches in demselben Maße pur und kindisch zugleich ist. Dabei macht es fast genau so viel Spaß, beim Spielen anderer mitzufiebern.

Hoffentlich wird noch an der Präzision – bei den Tail Tag-Spielen etwa – gefeilt; und es wäre wünschenswert, wenn mensch das Spiel auch in einer lokalen Co-Op-Partie, also zu mehreren auf einer Konsole genießen könnte. Es wird spannend sein, zu sehen, mit welchen neuen Minispielen die Entwickler in zukünftigen Updates aufwarten. Denn die ADHS-ler/innen an den Controllern werden neuen Inhalt verlangen. Sonst stürzen sie sich auf das nächste gehypte Online-Spiel. Among Us wäre so ein Kandidat. Mediatonic haben jedenfalls für nicht später als die kommende Woche Season 2 angekündigt.

Tom Dockal
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