„Monsieur le Premier Ministre, Cher Xavier, la semaine dernière, notre pays a été frappé par l’une des plus graves catastrophes naturelles de son histoire“, flötete die Europaabgeordnete Viviane Reding (CSV) ein wenig pathetisch in einem Schreiben an den Staatsminister. Reding wies darauf hin, dass Luxemburg nach dem schlimmen Platzregen vor zwei Wochen, der in den Gemeinden Fels, Nommern, Reisdorf und Ernztal große Schäden angerichtet hatte, den Europäischen Solidaritätsfonds anzapfen könne. Das habe Luxemburg noch nie gemacht, wobei 24 andere Mitgliedstaaten seit 2002 3,7 Milliarden Euro Wiederaufbauhilfen aus dem Fonds erhalten hätten.
Xavier Bettel schloss vergangenen Freitag das Beantragen von Hilfsgeldern aus Brüssel aus. Zwecklos, so die Feststellung, denn dafür müsste sich die Schadenssumme auf mindestens 0,6 Prozent des Bruttonationaleinkommens belaufen, also über 180 Millionen Euro. Das Geld dürfe ohnehin nicht an die einzelnen Betroffenen weitergegeben, sondern nur für die Instandsetzung öffentlicher Infrastrukturen verwendet werden. Die Vereinigung der Versicherungsunternehmen Aca ging diese Woche „nur“ von einer Schadenssumme von fünf bis zehn Millionen Euro aus. Währenddessen beschloss die Regierung vor einer Woche mit 30 Millionen Euro die dreifache Summe zur Entschädigung der Betroffenen aus der Staatskasse bereitzustellen. Wahrscheinlich ist die Einschätzung der Aca zu bescheiden. Denn wie Marc Lauer, CEO von Foyer sagt, wurden allein bei dieser Versicherungsgruppe bisher 200 Schadensfälle gemeldet und die erste grobe Schadensschätzung beläuft sich auf drei bis vier Millionen Euro.
Die Versicherungsgesellschaften waren nach dem Regen vom 22. Juli schnell in die Kritik geraten, als die Betroffenen feststellten, dass sie gegen die verursachten Schäden eigentlich nicht versichert sind. Entweder, weil ihre Feuer- und Hausratsversicherung überhaupt keinen Versicherungsschutz gegen Unwetterschäden beinhaltet. Und wenn doch, die Versicherung nur Schäden abdeckt, die entstehen, wenn die öffentliche Kanalisation überlastet ist und es zum Rückstau kommt. Nicht aber, wenn der Regen so stark ist, dass er direkt ins Haus dringt, oder kleinste Bäche in Ströme verwandelt, die dann die Keller und Erdgeschosse überfluten.
Nach dem Starkregen – so nennen Versicherungsexperten das Phänomen, das am 22. Juli den Nordosten des Landes heimsuchte – gab es eine Unterredung der Versicherer mit Finanzminister Pierre Gramegna (DP), deren genauer Verlauf nicht belegt ist, die aber Wirkung zeigte. Danach waren sowohl der Verband als auch die einzelnen Versicherungsgesellschaften extrem bemüht, ihr Entgegenkommen zu bekunden. Man werden „Kulanz“ bei der Schadensaufnahme zeigen, so Paul-Charles Origer von der Aca, und nicht so genau prüfen, woher das Wasser kam. Wenn die Geschädigten über eine Unwetterversicherung verfügten, die je nach Versicherungsgesellschaft ein wenig anders heißt, würden sie im Rahmen der vertraglich zugesicherten Garantien entschädigt.
Dass das ausreicht, um in den einzelnen Fällen die Renovierungskosten an den Häusern und Gebäuden zu decken, ist nicht gesagt. Denn alle Verträge sehen Entschädigungsdecken vor, je nach Gesellschaft schwankt der Betrag zwischen 3 000 und 15 000 Euro. Dabei, unterstreicht Origer, dürfe man nicht vergessen, dass Schäden an der Elektrik einzeln abgerechnet würden und in Luxemburg die Deckungsrate für Kasko-Versicherungen für PKW sehr hoch sei, darüber könnten Schäden an wegspülten Autos gedeckt werden.
Um auch den Betroffenen zu helfen, die kein oder nicht genug Geld von der Versicherung bekommen, haben Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium die Betriebe in der Gegend aufgefordert, sich bei ihnen zu melden. Das Familienministerium, für Privathaushalte zuständig, hat bereits vergangene Woche drei Experten zur Schadensaufnahme ins Feld geschickt. Falls notwendig, könnten das auch schnell mehr werden, sagt die zuständige Regierungsrätin Dominique Faber. Bisher liegen ihr 41 Fälle vor. Die Zahl könnte noch steigen, denn die Überschwemmungsopfer haben bis 30. September Zeit, sich zu melden.
Es ist nicht das erste Mal dieses Jahr, dass das Familienministerium Überschwemmungsopfern hilft. Nach den starken Regenfällen im Mai und Juni im Südosten des Landes war der Staat bereits in 30 Fällen eingesprungen, um, wie Faber sagt, denen, die durch die Überschwemmungen ihrer Häuser Hab und Gut verloren, „wieder ein normales Leben zu ermöglichen“. Anders als bei den Versicherungen gibt es beim Familienministerium keinen Maximalbetrag. „Aber die Tennisausrüstung ersetzten wir nicht“, fügt Faber hinzu.
Dass die Versicherungen nach dem Gespräch mit dem Minister so viel Großzügigkeit zeigen, dass der Staat binnen weniger Wochen zweimal einspringen muss, das sind beides Hinweise darauf, dass es in der Abdeckung solcher Unwetterschäden beträchtliche Lücken gibt. Zwischen den auf maximal 15 000 Euro gedeckelten Garantien im Einzelfall und den apokalyptischen Zuständen, die herrschen müssten, damit der Europäische Solidaritätsfonds einspringt, klafft eine ziemlich große Millionenlücke.
Die Versicherer sind sich dessen nicht ganz unbewusst. Denn nach den starken Regenfällen im Frühjahr und dem Frühsommer kontaktierte beispielsweise Lalux alle ihre Kunden ohne Unwetterschutz schriftlich, um sie auf darauf aufmerksam zu machen, so Unternehmenssprecher Jean-Paul Meyer. Etwa ein Drittel der von ihnen versicherten Haushalte, so seine Kollegin Nathalie Hanck von Axa, verfüge über einen Unwetterschutz. Bei Foyer liege die Deckungsrate zwischen 70 und 80 Prozent, sagt Marc Lauer. Die meisten Versicherungsverträge der „neuen Generation“ würden einen Unwetter- beziehungsweise Naturkatastrophenschutz beinhalten, so Paul Charles Origer von der Aca. Wie neu die „neue Generation“ ist, kann er hingegen nicht sagen.
Dass es in Luxemburg Aufholbedarf gibt, hatte 2012 bereits eine Studie im Auftrag der EU-Kommission belegt1. Die Studie ist Teil der Bemühungen der Kommission, die EU auf den Umgang mit den Folgen des Klimawandels vorzubereiten. Sie hatte aufgrund der historischen Schadensdaten und von Extrapolationen festgestellt, dass das Risiko für Sturmschäden relevant sei, aber die Deckungsrate für Versicherungen gegen solche Sturmschäden mit 90 Prozent auch sehr hoch. Obwohl Stürme in Luxemburg Schäden von zwischen 0,6 und einem Prozent des Bruttoinlandprodukts (Bip) verursachen könnten, sei das eine „appropriate solution“. Was die Überschwemmungsrisiken betrifft, sah die Sache anders aus. Aufgrund der historischen Daten schätzten die Experten das Schadensrisiko durch Überschwemmungen in Luxemburg zwar niedriger ein als das von Stürmen. Dennoch sei es relevant und die Deckungsrate für solche Schäden bei den Versicherten betrage nur fünf Prozent. „Should awareness among citizens be increased?“, fragten die Experten.
Dass Luxemburger Haushalte besser gegen Sturmschäden versichert sind als gegen Überschwemmungsrisiken liegt daran, dass seit den schweren Stürmen in den Neunzigern die Sturmversicherung zum Basisprodukt der Hausratsversicherungen gehört, also im Paket verkauft wird. Für zusätzlichen Schutz gegen Unwetter und Naturkatastrophen müssen die Versicherten einen Aufpreis bezahlen. Bei einer Feuerschutz- und Hausratsversicherung für einen Hauseigentümer seien das bei Axa beispielsweise 70 Euro jährlich.
Vielleicht hat es bisher einfach nicht genug Überschwemmungsschäden gegeben, damit es in Luxemburg eine „appropriate solution“ dafür gibt. Der EU-Studie zufolge verursachten Überschwemmungen 1993 ein Schaden von 8,5 Millionen Euro. Der Sturm von 1990 kostete Luxemburg hingegen 290 Millionen Euro, der von 1995 noch einmal zehn Millionen Euro und der von 2010 23 Millionen Euro. Die Rückversicherung gegen Sturmschäden, erklärt Marc Lauer, koste Foyer jährlich mehrere Millionen Euro.
In den Neunzigern hatte das Versicherungskommissariat bei einem Rückversicherer eine Studie über Überschwemmungsrisiken in Auftrag gegeben, um eine nationale Lösung zu finden. Nur zwei Prozent der Bevölkerung seien einem Überschwemmungsrisiko ausgesetzt, hieß es darin, laut Xavier Bettel. Ein Versicherungsschutz würde teuer. Entweder für die zwei Prozent in den Überschwemmungsgebieten, wenn sie ihren Schutz alleine bezahlen müssten. Oder für alle. Hätte man das Solidaritätsprinzip angewandt – nach dem Versicherungen eigentlich funktionieren –, hätten 98 Prozent der Bevölkerung einen Aufpreis hinnehmen müssen, um eventuelle Schäden der zwei Prozent Einwohner im Überschwemmungsgebiet abzudecken. Wer damals am meisten dagegen war, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Xavier Bettel meinte vergangenen Freitag, es seien die Versicherungsgesellschaften gewesen. Paul-Charles Origer gab den Verbrauchervertretern die Schuld. Damals, erinnert sich Marc Lauer, heute Foyer-CEO, damals Mitarbeiter beim Versicherungskommissariat, sei beschlossen worden, vorbeugend zu handeln und in den Überschwemmungsschutz zu investieren (siehe Seite 2 und 3).
Dabei sind die Risiken von damals nicht mehr die selben wie heute. Zumindest, wenn man den großen Rückversicherern zuhört, die weltweit agieren. „Naturkatastrophen haben im 1. Halbjahr 2016 deutlich höhere Schäden als im Vorjahr verursacht“, meldete Munich Re zehn Tage vor dem Platzregen im Ernztal. Bis Ende Juni zählten die Münchener 70 Milliarden Dollar an Schäden, von denen 27 Milliarden versichert waren. Dazu gehören Erdbeben in Japan, Waldbrände in Kanada. Aber auch die Unwetterserie in Europa Ende Mai/Anfang Juni. Der Gesamtschaden dafür beläuft sich laut Munich Re auf 6,1 Milliarden Dollar, wovon drei Milliarden versichert waren.
„Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass Starkniederschläge in einzelnen Regionen Europas in den vergangenen Jahrzehnten häufiger geworden sind. So nahmen von 1951 bis 2010 Starkniederschlagsereignisse im Frühjahr, die sich früher rechnerisch einmal in 20 Jahren ereigneten, bereits um den Faktor 1,7 zu. Daran dürfte der Klimawandel einen Anteil haben“, so Peter Höppe, Leter der Geo-Risiko-Forschung von Munich Re. Was er sagen will: Der Klimawandel führt dazu, dass es öfter stärker regnet.
In Luxemburg dürfte das bedeuten, dass nicht länger nur die Anrainer der Mosel-, Sauer-, und Alzette-Täler einem Überschwemmungsrisiko ausgesetzt sind. Diese Risiken seien nicht „unversicherbar“, sagt Marc Lauer. Aber dafür müssen die Versicherer erst einmal Berechnungen aufstellen und abklären, wie weit sie sich rückversichern können. Für das verbleibende Risiko äugen sie nach staatlichen Garantien, wie in Frankreich, wo die Unwettergarantien ausgelöst werden, wenn der Staat in einer Region den Katastrophenzustand ausruft. Staatsminister Xavier Bettel stellte hingegen steuerliche Anreize für die Versicherungsnehmer in Aussicht, um dafür zu sorgen, dass möglichst viele Haushalte einen Unwetterschutz kaufen und somit das Solidaritätsprinzip zum Tragen kommt. Im September soll eine Arbeitsgruppe der Versicherungsbranche und des Finanzministeriums zusammenkommen, um über mögliche Lösungen zu diskutieren. Bei den erheblichen Garantieunterschieden lohnt es sich für die Versicherten, vielleicht einmal bei ihrem Agenten nachzufragen, wogegen genau sie in welcher Höhe abgesichert sind, und die Konkurrenzangebote miteinander zu vergleichen.