Die fragwürdige Qualität im rasant gewachsenen Kinderbetreuungssektor ist ein trauriger Dauerbrenner. Es gibt aber Lichtblicke

Voneinander lernen

d'Lëtzebuerger Land vom 16.03.2012

Mittagszeit. Der Schulgong hat geschlagen und Kinder strömen in das rote Gebäude im Ortskern Grevenmachers. Das Kinder nach der Schule in die Maison relais gehen, wo sie von Betreuern empfangen werden, weil beide Eltern berufstätig sind, ist nichts Ungewöhnliches und geschieht überall im Land täglich.

Und dennoch unterscheidet sich die Maison relais in Grevenmacher von den vielen anderen. Wer den hellen Eingangsflur betritt, sieht Kinder ihren Schulranzen abstellen, die einen zum Händewaschen ins Badezimmer eilen, während andere zum Spielen in den Garten gehen. Nur einer der Räume dient als Essenssaal – und dies obgleich rund 90 bis 100 Schüler täglich kommen. Statt zu 30 mit viel Lärm in Schichten zu essen, wie das in vielen Maisons relais aus Platzmangel geschieht, ist in Grevenmacher die Essensschlange verhältnismäßig kurz. Gerade ist eine Gruppe junger Mädchen eingetrudelt. Eine Mitarbeiterin notiert sich die Namen, dann geht’s los: Die Mädchen servieren sich, eine nach der anderen, am üppigen und ausgewogenen Buffet selbst, tun sich Fleisch, Kartoffeln, Nüsse und Salat auf den Teller.

„Wir hatten die Idee, als die Zahl der Kinder vor drei Jahren massiv zugenommen hatte“, erinnert sich Marc Dormal. Der Leiter der Grevenmacher Maison relais und Éducateur gradué hatte mit seinen Mitarbeitern nach einem Weg gesucht, rund 100 Kinder mit gesundem Essen zu versorgen und dennoch ein Umfeld zu schaffen, in dem Hausaufgabenhilfe, Spielen und Ausruhen möglich sein sollte. Die Idee mit dem Buffet kam auf. Wochen wurde daran gefeilt. Vieles musste bedacht werden: Würden die Kinder das Prinzip verstehen? Was halten Koch und Mitarbeiter davon? Wie das organisieren? Und vor allem: Was würden die Eltern dazu sagen? „Wir gestehen Kindern Kompetenzen zu, die viele ihnen zunächst nicht zutrauen“, erklärt Dormal. Die Portionen selbst zu wählen, in seinem eigenen Rhythmus zu essen, und im Anschluss gemeinsam mit den Erziehern pädagogischen Aktivitäten nachgehen.

Nach einem Probelauf in den Sommerferien startete das Unternehmen. Und war auf Anhieb ein Erfolg. Die Kinder waren begeistert – und sind es noch. Für sie ist das Buffet eine Selbstverständlichkeit. „Hier kann ich essen, mit wem ich will und wann ich will“, sagt ein Mädchen begeistert. Was für Elternohren ungewohnt und vielleicht sogar Anlass zur Sorge ist – wird mein Kind genügend essen? – funktioniert dank eines ausgeklügelten Systems erstaunlich gut: Kleine Jungen und Mädchen gehen selbständig zum Buffet, sitzen gemütlich und essen gemeinsam. Herangeführt werden sie an das System von klein auf: in der Spielschule. Sicher, es gibt auch die, die nicht alles mögen. „Wir fordern den einen oder anderen manchmal auf, ein Gemüse wenigstens zu probieren. Aber von Zwang halte ich nicht viel“, sagt Marc Dormal.

In der Regel läuft die Essensvergabe ruhiger und konfliktfreier ab. Kinder sitzen mit ihren Freunden am Tisch, lachen beim Essen. Eine Erzieherin kommt hinzu, erkundigt sich nach ihrem Tag, isst mit ihnen. Der erwünschte Nebeneffekt: Statt zwei Räumen für die Essensversorgung freihalten zu müssen, kann der Nebenraum zeitgleich für pädagogische Aktivitäten genutzt werden. So gut läuft das Konzept, dass andere Maisons relais das Modell studiert haben und überlegen, es bei sich einzuführen.

Von guten Beispielen zu lernen und praktische Lösungen zu bieten, ist vom katholischen Dachverband Caritas Teil einer Qualitätssicherungsstrategie, die möglichst in allen Einrichtungen der Unterorganisationen greifen sollen. Hintergrund war der massive und teils überstürzte Ausbau von Kinderbe[-]treuungseinrichtungen durch die Einführung der Dienstleistungsschecks, der die Träger zunehmend vor das Problem stellte, wie bei dem Andrang noch eine gewisse pädagogische Grund[-]qualität zu sichern ist. „Die Bedingungen in vielen Gemeinden waren nicht ideal“, sagt Georges Rotink, Sozialpädagoge und bei der Caritas als Koordinator zuständig für die Qualitätsentwicklung,

In der Schnelle stampften Gemeinden staatlich bezuschusste Maisons relais aus dem Boden, wurden Schulen, Pfarrhäuser in Kinderbetreuungsstrukturen umgewandelt, sogar Kulturzentren und provisorische Container mussten herhalten, um den großen Run zu befriedigen. Die Bedürfnisse der Kinder – und der Erzieher – blieben auf der Strecke.

Im knapp bemessenen Raum und bei stark flexibilisierten Öffnungszeiten blieb oft nichts anderes übrig, als schnell die hungrigen Mäuler zu stopfen und halbwegs eine Hausauf[-]gabenhilfe zu organisieren. An pädagogischer Arbeit war unter solchen Be[-]dingungen kaum zu denken. Der Gesetzgeber hatte es 2005 unterlassen, pädagogische Qualitätsstandards vorzugeben. Ein schweres, das Wohl vieler Kinder gefährdendes Versäumnis, das die Regierung nun endlich beheben will (d’Land 2.03.12).

Die Caritas wollte sich damit nicht zufrieden geben. Nachdem ein interner Qualitätsbericht vor gut drei Jahren zum Teil gesundheitsbedenkliche Mängel aufdeckte, machte man sich daran, ein Qualitätskonzept für den boomenden Geschäftszweig zu entwickeln. Die Idee, dass eine Tagesstätte von der anderen lernt, ist dabei zentral. Die Erzieher in Biwer beispielsweise, wo die neu gegründete Unterorganisation Arcus eine Maison relais betreibt, bekamen kürzlich Besuch von Kollegen einer anderen Einrichtung, die sich das innovative Raumkonzept anschauen wollten. Die Betreuungsstruktur ist in einer alten Schule untergebracht. Entsprechend funktionell waren die Räume, die die Erzieher vorfanden: Eine Wandtafel, einige Tische und Stühle. Nackte Wände, Neonlicht. Nicht gerade einladend, um hier seine Nachmittage zu verbringen. Wer Biwer heute besucht, sieht bunte Räume: Jeder Ecke ist eine bestimmte Funktion zugewiesen und diese meist mit Regalen von der nächsten Funktion abgetrennt. Hinten links in der Ecke liegen Hammer und Nägel bereit, in Kisten stapeln sich Holz. „Hier wird gehämmert“, sagt Christian Braun, diplomierter Erzieher in Biwer und derzeit mit der Leitung betraut. Daneben ist die Bauecke. In den Kisten, ordentlich im Regal verstaut und mit Bildern markiert, befinden sich Holzplättchen. Fotos an den Wänden zeugen von der Kreativität der kleinen Baudamen und -herren: Sogar der Pariser Eifelturm oder Luxemburgs Phiharmonie dienen als Inspiration und werden nachgebaut. Aber auch Eisbecher oder sogar Eislöffel gehören zu den Utensilien, an denen die kleinen Besucher ihre Fantasie und Kreativität austoben können

„Um die Lernlust und den Spieltrieb der Kinder anzuregen, braucht es nicht unbedingt die teuerste Einrichtung. Oft reichen einfache Dinge – und davon viele“, betont Nicole Horn, Diplom-Psychologin, wissenschaftliche Beraterin bei der Caritas und zudem bei Arcus tätig. So entstehen Spielangebote, die die Erzieher im Team allerdings gezielt vorbereiten, aus denen sich Kinder dann sozusagen bedienen können. Sicherlich hilfreich bei diesem Ansatz ist die Größe der Einrichtung: Anders als etwa in Betzdorf, wo sich zu Stoßzeiten bis zu 250 Kinder tummeln, sind es in Biwer maximal 80. Auch eine kleine Küche ist vor Ort.

Die Methode, Räume so zu gestalten, dass sie den Kleinen Lernimpulse bieten, haben nicht die Biwer Erzieher erfunden. Und auch nicht die Koordinatoren von Caritas. Die Philosophie vom Raum als dritten Erzieher nahm ihren Anfang in der italienischen Stadt Reggio Emilia. In den kommunalen Kindergärten dort wurde in den 60-er Jahren der Grundstein für etwas gelegt, was heute in Italien, Deutschland und anderswo als Reggio-Pädagogik bekannt ist. Dabei handelt es sich nicht um eine klare Theorie, sondern um eine Philosophie. Im Mittelpunkt steht das Kind, das sein Lernen und seine Entwicklung aktiv mitsteuert. Das Kind als neugieriger, wissensdurstiger Forscher. Dabei kommt den Erziehern die Rolle zu, diese Aktivitäten zu stimulieren, zu begleiten und sie zu dokumentieren. „Der Raum hat eine erzieherische Funktion“, betont Nicole Horn.

Auf den Ansatz kam die Caritas vor rund acht Jahren. Damals setzte sich der ehemalige Verantwortliche Manuel Achten, heute im Familienministerium zuständig für die Qualitätsentwicklung des gesamten Luxemburger Kinderbetreuungssektors, dafür ein, die Reggio-Philosophie als Ausgangspunkt für die Qualitätsentwicklung der Caritas-Einrichtungen zu machen. Gemeinsam mit der Hamburger Diplom-Pädagogin Angelika von der Beek, bekannt durch ihre mit dem Kölner Erziehungswissenschaftler Gerd Schäfer entwickelte Weltwerkstatt, wurde der Ansatz für Luxem-burger Verhältnisse überarbeitet und angepasst. Herausgekommen ist ein pädagogisches Konzept, das eine Anleitung für sämtliche Kinderbetreuungseinrichtungen sein soll, die unter dem Dach der Caritas versammelt sind. Grundidee ist die Maison relais als Bildungsort zu konzipieren. Aber nicht im schulischen Sinne, wo Lernpläne und Programme einen engen Takt und die Lernrichtung vorgeben. Sondern als spielerischer von den Kindern selbst mitgesteuerter informaler Prozess. „Wir verstehen die Maisons relais als Ergänzung zur Schule, in der die Kinder dennoch lernen“, erklärt Georges Rotink.

In Bildungsbereichen, wie beispielsweise Körpererfahrung und Gesundheit, Bewegung, Natur, Bauen und Technik, sollen Kinder ihre Erfahrungen machen können. Wichtig ist, dass die Erzieher den Prozess unterstützen und Kinder, wenn sie einen Impuls zu lernen haben, und den haben sie laut Angelika von der Beek „eigentlich fast immer“ den nötigen Freiraum zu geben, aber auch die Bedingungen zu liefern, um bereits Erlerntes gegebenenfalls zu vertiefen.

Das geht freilich nicht überall und immer. Eingeschränkt, und das zum Teil erheblich, wird die pädagogische Arbeit mit den Kindern durch sehr heterogene Gruppen, je nach dem wer wie lange in die Maison relais kommt, und durch falsche architektonische Voraussetzungen. „Einige Kinder kommen nur zum Essen, anderen nur ein zweimal die Woche. Da ist es schwer, etwas Kontinuierliches aufzubauen“, so Erzieher Christian Braun von Biwer. Und Marc Dormal aus Grevenmacher betont: „Unser Buffet klappt, weil wir das Essen im Haus selbst zubereiten können und die Küche sehr nahe am Essenssaal ist.“ Mindestens so wichtig ist die professionelle Einstellung und eine gute Ausbildung des Personals –und die Hilfe von externen Profis im Rahmen der Weiterbildung. In der Pädagogin Angelika von der Beek hat die Caritas Unterstützung einer anerkannten Fachberaterin von Kinder-tagesstätten gefunden, die sich von den teils recht widrigen Umständen in Luxemburg nicht hat abschrecken lassen. Denn dass stark flexibilisierte Öffnungs- und Anmeldezeiten sowie gering qualifiziertes Personal und lieblose, pädagogisch wenig sinnvoll gebaute Räume eine professionelle Arbeit erheblich erschweren, bekräftigt von der Beek: „Die begrenzte Zeit, das Personal und die Massen an Kinder, die durch verschiedene Einrichtungen geschleust werden müssen, machen einen pädagogischen Anspruch schwierig.“ Nicht zuletzt ihre Auftraggeberin, die Caritas, spielte eine widersprüchliche Rolle, schließlich hat sie mit Crash-Ausbildungen wie Foga- und Formaflex für Quereinsteiger zur massenhaften Aufnahme an Geringqualifizierten in der Kinderbetreuung beigetragen, und dienten nicht zuletzt diese Projekte dem Maison relais-Gesetz von 2005 als Vorbild.

Intern wird das inzwischen durchaus kritisch gesehen – und versucht, gegenzusteuern. „Es gibt Punkte, die sind nicht optimal“, räumt Georges Rotink ein. Als die Träger gemeinsam mit dem Familienministerium in den vergangenen Monaten über das kürzlich hinterlegte Rahmengesetz zur Qualitätsentwicklung berieten, forderte Caritas mehr als die gesetzlich geplanten 16 Stunden. Weiterbildung des Personals ist für die Umsetzung des Werkstatt-Konzepts elementar: Im Idealfall besucht die Leitung gemeinsam mit einem Angestellten die elftägige Weiterbildung von Angelika von der Beek, um die Ideen danach als Multiplikator im eigenen Haus zu verbreiten und umzusetzen. In Biwer hat das funktioniert. „Wichtig sind engagierte Erzieher und gute Rahmenbedingungen“, sagt Nicole Horn. Diese zu schaffen, kostet. Neben den Kosten für die Fortbildung und wissenschaftliche Begleitung sei die dauerhafte Umsetzung der größte Kostenfaktor, so Georges Rotink. Nach und nach sollen alle Caritas-Einrichtungen nach der Methode funktionieren.

Zudem hat die Organisation, gemeinsam mit dem Architekturbüro Jim Clemes, vor einigen Jahren ein Buch erarbeitet, das Architektur und pädagogische Bedürfnisse von Anfang zusammen denkt. Auch die guten Erfahrungen mit Biwer, Betzdorf, Grevenmacher und anderswo sollen ganz im Sinne des Netzwerk- und des Best-Practises-Gedanken weitergegeben werden und andere Einrichtungen inspirieren: In einem Film stellen Erzieher, Koordinatoren und Weiterbilder das pädagogische Konzept des Weltateliers und seine Umsetzung vor. Ein Film, der immerhin eines zeigt: dass trotz aller Widrigkeiten pädagogische Qualität möglich ist.

Ines Kurschat
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