Neun lange Jahre hat sich Lukas Braak nicht getraut, sich an seine Seemannsvergangenheit zu erinnern – denn auch wenn die Erinnerungen „wie Schaum zusammensinken und versickern“, ist ihm nämlich klar, dass jede aufflackernde Reminiszenz an seine vergangene Existenz ihm das ganze Knäuel tragischer Ereignisse, die zum Selbstmord seiner Ehefrau Inge geführt haben, wieder vor Augen führen würden.
Es ist ein Brief, der alles lostritt. Ein Brief, den Braak wohl jahrelang mit sich herumgetragen hat. Ein Brief, den der Hobbyschreiberling immer und immer wieder im Kopf umformuliert und geschliffen hat – denn, „ja, das konnte er: Sätze basteln, Wut in Sätze ballern, Hohnreime tanzen lassen“. Ein Brief, in dem sich seine Enttäuschung über die Verwandlung des marxistischen Traums in einen vor in vorauseilendem Gehorsam handelnden Denunzianten nur so wimmelnden Überwachungsstaat so wirksam kondensiert, wie Steckels Erzählung selbst. Einen Brief, den er an niemand anders als Erich Honecker adressiert hat. Stolz darauf, ihn abgeschickt zu haben, ist er schon, denn wie viele nie versandte Wutbriefe trägt jeder von uns mit sich herum? Mit den Folgen des Briefs hatte Lukas Braak aber nun wirklich nicht gerechnet.
Nur Tage später dankt Honecker ab. Und auch, wenn er diesen Brief „wohl eher für sich selbst“ geschrieben hat, das Schreiben vielmehr „eine Auseinandersetzung mit Traum und Wirklichkeit, der eigenen politischen Haltung und dem, was das System daraus gemacht hatte“ darstellte, so kommt er nicht darum herum, sich zu fragen, ob es nicht etwa doch sein Brief war, der „Honecker vom Thron gestoßen“ hat. Dies, obwohl er sich denken kann, dass bereits „weitere Honeckers“ in den „Startlöchern“ stehen.
„Was man nicht liebt, speichert das Gehirn nicht, oder Grau in Grau ohne Konturen“, schreibt Steckel ungefähr in der Mitte ihrer 92-seitigen Erzählung Doswidanja, Genosse und man spürt, wie sich aus diesem Satz sein genaues Gegenteil herausschält: Was man liebt, speichert das Gehirn in allen Farben, mit aller Intensität, und wenn es dann mal abstirbt, weil die Liebe verlöscht oder die geliebte Person nicht mehr lebt, oder weil man von dem, was man geliebt hat – in diesem Fall eine Ideologie, ein vermeintliches Wertesystem – enttäuscht wird, dann wird das Erinnern undenkbar, wird es zum Wahnsinn.
In Doswidanja, Genosse erzählt Margret Steckel vom Lieben und Fallenlassen, von Hoffnung und Betrug, in einer Dreiecksbeziehung, die Lukas Braak, seine Ehefrau Inge und die DDR miteinander eingehen. Dabei beginnt alles ganz harmlos, mit Lukas Braaks glücklicher Kindheit im Realsozialismus, überschattet nur durch die Trennung der Eltern, weil die Mutter es mit dem väterlichen naughty boy nicht mehr aushielt und zurück in ihre Heimat kehrt.
Die Desillusion gegenüber dem sozialistischen Traum einer Welt, in der alle gleich sind und in der Marxismus eben nicht eine „DDR-Version des Marxismus“ ist, macht sich allerdings im Rückspiegel der Erinnerungen schleichend bemerkbar: „Wann eigentlich hatte der Name Stalin aus dem Mund seines kommunistischen Vaters Stacheln bekommen? Da war er, Lukas, noch ein Junge gewesen.“ Während Steckel vom Aufstieg Braaks zum linientreuen Kapitän, der seine Begeisterung auch an die jüngere Generation vermittelt, und dem Fall eines zum Landwirt degradierten Mannes erzählt, der wie seine Frau Inge aus der Sicht des Regimes in Ungnade gefallen ist – er wegen Westkontakte zur im US-Amerika lebenden Mutter, sie wegen eines „nicht weggerückten“ Liegestuhls an Deck eines Schiffs –, wird der schleichende Zweifel am System zur herben Desillusion. „Sein Daseinsboden war mit Trotz gedüngt, und der ging am Morgen mit ihm.“ „Unser Staat schafft Ruinen ohne Krieg“, entgegnet Inge, deren Lebensfreude von Seite zu Seite mehr versiegt. Und doch hält sie bis zum Schluss an der Hoffnung fest („Ich will immer noch ein gutes Land errichten“), weigert er sich, trotz des Berufs- und Publikationsverbots, das Land zu verlassen – das Paar rebelliert stumm gegen die Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt.
„Da war noch manches nicht ge- und beschrieben worden, das in die Fingerspitzen drängte.“ Dieser Satz, mit dem die Autorin Margret Steckel ihre berührende Figur und deren Schreibdrang erwähnt, kennzeichnet gleichermaßen das Spätwerk der Schriftstellerin, das in äußerst verknappter Form Themen, die sich wie ein roter Faden durch ihr Schaffen ziehen, kondensiert. Da, wo erste Capybara-Veröffentlichungen wie Drei Worte hin und her manchmal leicht den Kitsch streiften, bekommt die Kurzform Steckel gut. Denn kaum wurde die Schriftstellerin mit dem Batty-Weber-Preis ausgezeichnet, schon stand ihre Novelle Mutterrache auf der Shortlist des Servaispreises, wenige Monate später gelang es ihr dann, als einzige Frau auf der Shortlist des Lëtzebuerger Buchpräis, den Preis für ihre schlanke Novelle abzusahnen.
Auch in Doswidanja Genosse gibt es sie, die schwierige Beziehung zur Mutter, dies aber eher, weil Lukas‘ Erzeugerin den Vater, einen „Hallodri“, verlassen hat und nach Amerika ausgewandert ist. Die Mutterfigur ist hier nicht viel mehr als ein erzählerischer Auslöser, ein Wink aus dem Westen. Braak leidet nicht wahnsinnig unter ihrer Abwesenheit, es ist vielmehr die Begebenheit, dass die Mutter in dem vom Kommunismus verteufelten US-Amerika lebt, die ihm zum Verhängnis wird.
Anhand der Figuren von Braak und seiner Ehefrau Inge wird so nicht nur veranschaulicht, wie ein politisches Regime Menschenleben zerstört und zermalmt, und dies sogar und besonders dann tut, wenn diese Menschen an das System glauben – Steckels Erzählung verdichtet vielmehr eine Geschichte einer kollektiven Desillusion. Fällt erst mal der Schleier des Traums, werden sogar ein und dieselben Wörter anders ausgelegt: Wo Braak den titelgebenden Genossen stets kameradschaftlich und würdevoll empfand, wirkt das Wort später tadelnd, von Ironie und Paranoia umgarnt.
Dass Menschen in Ideologien hineingeboren werden, wissen wir spätestens seit Althusser, Steckels Erzählung führt uns zurück in eine Zeit, in der es neben der Metaerzählung des Kapitalismus noch eine weitere gab. In seiner Condition postmoderne erklärt Jean-François Lyotard, dass die Zeit eben jener Metaerzählungen vorbei sei, weil sie in eine Sackgasse von Gräueltaten geführt haben. Steckel zeigt uns zwar nicht Stalins Gulags, dafür aber, wie die DDR ihre „Genossen“ nach und nach zermürbt und bricht.
Implizit erinnert uns die Autorin daran, dass auch wir in eine Ideologie hineingeboren sind – die des Kapitals. Und auch wenn wir mittlerweile vor lauter Alternativlosigkeit nicht mehr verstehen, dass eine Ideologie stets nur ein mögliches Weltbild, eines von vielen Wertesystemen ist, so führt uns Steckel vor Augen, wie gefährlich das blinde Vertrauen in ein System ist, das selbst blind ist – vor allem für diejenigen, die es mittragen und es miterrichtet haben.
Die Stilexperimente ihres 1997 mit dem Servaispreis gekrönten Der Letzte vom Bayrischen Platz gibt es vielleicht kaum mehr (in den späten 90-ern schwang der Einfluss der späten Postmoderne eben noch mehr mit als anno 2024), und über verschiedenen Ausdrücken liegt eine zentimeterdicke nostalgische Staubschicht. Doswidanja, Genosse ist jedoch so stilsicher und präzise, so gekonnt reduziert und gleichzeitig berührend, dass die Erzählung ein wichtiges Addendum zu Margret Steckels beeindruckender Oeuvre darstellt.