Unbequeme Wahrheiten oder wenn in der Kulturszene in Differdingen ein Bier umfällt: Der Roman Ondugen wurde kurz nach seinem Erscheinen als Bühnenstück im Mierscher Theater uraufgeführt

Viel Lärm um Fabio Martone

d'Lëtzebuerger Land du 13.12.2024

Man hätte darauf kommen können, dass sich hinter der Figur des ominösen, als Sohn eines italienischen Einwanderers beworbenen Fabio Martone eine fiktive Person verbirgt. Sein Foto im Internet wirkt aalglatt, sein Grinsen einnehmend. Die Brille sitzt makellos wie in einer Fielmann-Werbung. Googelt man den Autoren, der angeblich 1990 in Bettemburg geboren ist, sich eine Zeit bohemienhaft als Taxifahrer in Thionville durchgeschlagen haben soll und Theaterwissenschaften in Berlin studierte, so findet man außer den Verlagsfotos keinerlei Hinweise auf seine Existenz. Offenbar war er noch nicht einmal in ein Seminar an der Uni in Berlin eingeschrieben.

Doch der Wort-Mitarbeiter, der Martone per Mail über den Verlagskontakt schriftlich befragte und das Interview am 3. Dezember publizierte, schien nichts geahnt zu haben. Mittlerweile ist die Tageszeitung, mit der der Ich-Erzähler in Ondugen, Claudio Bottiglia, noch ein Hühnchen zu rupfen hat und in der er von Kindesbeinen an vor allem ein miefiges Blatt für Todesanzeigen sah, zurückgerudert und hat das Interview um den Hinweis ergänzt, dass es sich bei Fabio Martone um eine fiktive Person handelt.

Drei Tage später erschien in den „Kultur-Seiten“ des Wort unter dem Titel „Wie viel Fake News verträgt die Kultur?“ ein empörter Text über das Vorgehen des Verlagshauses Martones, den Éditions Hydre. Mit dem doppelseitigen Artikel wurde die Vorgeschichte zu einem Skandal aufgebauscht, perfekte PR für das Stück.

Nun hat das Kulturhaus Miersch, bevor es zum Mierscher Theater wurde, eine Tradition mit der Konstruktion von Fabeln auf der Bühne. 2017 feierte hier das Tanzstück BAL von Simone Mousset und Elisabeth Schilling Premiere (siehe „Frei nach Simone Mousset“, d’Land, 5.5.2017), in der die Tänzerinnen die Geschichte der Schwestern Joséphine und Claudine Bal als Pionierinnen des Tanzes in einem einstündigen Stück märchenhaft konstruierten. Unabhängig davon, ob sich hinter dem Verfasser von Ondugen eine KI, Serrano Martone oder Serrano Mille-feuille, nebst seinem italo-luxemburgischen Verleger verbirgt, lässt sich über den Roman sagen, dass sein Monolog, dicht und fast atemlos geschrieben, all jene bestens unterhalten dürfte, die sich für die kleine Welt handverlesener Luxemburger Literaten interessieren.

Genau hier setzt der Roman an. Warum zur Hölle gibt es keine luxemburgische Literaturgeschichte? Wo es sie nicht gibt, muss man sie eben herbeifabulieren, scheint das Mantra von Martones Alter Ego zu sein. Und so macht er sich auf den Weg, sie zu erfinden, und zwar auf recht amüsante Weise.

Protagonist Claudio Flasche macht sich mit Professor Hell auf die Suche nach den Spuren von Nachfahren berühmter Literaten, wie Goethe und Victor Hugo, die einst durch die Luxemburger Lande gezogen sein sollen; und dies aus Fragmenten, die nicht vollständig an den Haaren herbeigezogen sind. Wenn die Rede davon ist, dass Victor Hugo als veritabler Hurenbock in seiner Zeit in Vianden sich vor allem durch-„geféckt“ habe und Bottiglia zu dem Schluss kommt, dass er Nachfahren hinterlassen haben müsse, sind das provinzielle Schenkelklopfer.

Daneben geht es in dem Roman um koksende Literaten, den unaufhaltsamen Aufstieg des Faschismus und den Rassismus, unter dem Martones Vater gelitten hat, ein natürlich ehrlicher Bergwerksarbeiter, der sich durch die harte Arbeit den Rücken ruiniert hat und stets unter der Diskriminierung durch die Luxemburger leiden musste. Es gibt Medienschelte auf die Zeitungslandschaft des Großherzogtums – und auch hier verliert sich der Autor etwas in Selbstbezüglichkeit. Etwa wenn er schreibt, dass sich die verkannten Genies in den Kulturredaktionen der Tageszeitungen verstecken würden. Unterhaltsam ist der Text immer dann, wenn er mit der Phantasie durchgeht, meist an sozialdemokratischen Stammtisch erinnernd, immer dann, wenn er den Ich-Erzähler Bottiglia politisch austeilen lässt.

Angetrieben wird der Text, über den der vermeintliche Autor im Wort-Interview preisgab: „Ondugen ist ein Hybridtext. Es ist der innere Monolog einer aufgebrachten Figur, die ihrer Wut auf die Welt und den kulturellen Mikrokosmos in Luxemburg, der teilweise genauso vetternwirtschaftlich strukturiert ist wie der Rest des Landes, Ausdruck gibt“, von einer nicht unsympathischen Wut auf das Establishment.

Doch beim Lesen beziehungsweise Zuhören des im Mierscher Theater gekürzten Textes drängt sich der Eindruck auf, dass es sich beim Autor um einen nicht allzu unkonventionellen Luxemburger handelt. Angefangen mit der reaktionären Feststellung Bottiglias, das Einzige, was heute „misérable“ ist, sei die Allgemeinbildung der jungen Leute, über wohlfeile Schelte auf den Nationalismus der ADR, bis hin zum unter Journalist/innen gängigen Verwechseln von „an der Regierung“ mit „an der Macht sein“ – Tucholsky hätte da helfen können. Mitunter sind die Schlussfolgerungen verkürzt, wie etwa: „Politiker sinn ebe leider ëmmer ee Vull fir d’Kaz, egal ob se elo een hunn oder net.“ Die Metaphern für den Kapitalismus als Trugschluss und vermeintliches Ende der Geschichte (Fukuyama) sind gelungen, etwa, wenn sich der Autor in einem asiatischen Fast-Food-Restaurant in Trier ungehemmt mit Sushi vollstopft und dabei auf die Marx-Büste blickt. Schnell verirren sie sich aber in zu undurchdachten Reaktionsschemata. Ähnlich wie die naserümpfende Beschreibung der „ranzigen“ Grenzregion rund um Rodange. Schreiben junge Italo-Luxemburger mit Arbeiterwurzeln so herablassend-elitär über die Infrastruktur der wirklich Mittellosen?

Konstantin Rommelfangen haucht dem Text, der laut Martone von Anbeginn als Monolog für die Bühne konzipiert war, in der Bar des Mierscher Theaters Leben ein. Während er im ersten Teil recht atemlos durch den gekürzten Text eilt, ist er nach der Pause wesentlich souveräner.

Ondugen – unbequem ist für die Zuschauer/innen der „Inszenierung“ Claude Mangens vor allem die Beleuchtung, denn nicht nur der Schauspieler, sondern der gesamte Bistro-Bereich ist während der gesamten Dauer des Stücks in grelles Scheinwerferlicht getaucht und als Zuschauerin fühlt man sich grell ausgeleuchtet wie die Tiefkühlhähnchen im Discounter. Der Barkeeper (Georges Keiffer) fungiert hier als Stütze, der Rommelfangen nicht nur immer wieder das Bierglas füllt, sondern ihm auch ein paar Sätze zuspielen darf.

Spätestens, wenn kaum durch die Blume auf „Kuuschti“, den Volksbarden (Tonnar), gekloppt und das TNL als „Théâtre Nationaliste du Luxembourg“ bezeichnet wird, dürfte jeder Luxemburgensia-Kennerin klar sein, wer sich hinter dem Pseudonym Martone verbirgt. Sein Stil endloser Schachtelsätze und teils schiefer Metaphern, die mitunter in Tautologien wie „langer Giraffenhals“ münden, ist unterhaltsam, witzig und doch auf Effekt aus. Etwa wenn es heißt, Goethe und Victor Hugo seien doch „literarisches Bofrost“.

Und obwohl es der „Inszenierung“ in Mersch an Regie-Ideen fehlt – an einer Stelle wird immerhin auf einen Gong geschlagen – schafft es Rommelfangen mit seiner Performance des furiosen Textes die Zuschauer/innen streckenweise gut zu unterhalten und in die fabelhafte Welt des Fabio Martone hineinzuziehen.

Wenn Claudio Bottiglia in Mersch am Ende ein verstaubtes Bündel Bücher hervorzaubert und dem Publikum die Feststellung mit auf den Weg gibt: „Was ist Literatur anderes als das Erfinden von der Welt und sich selbst?“, ist der Vorhang zu und keine Frage offen.

Der Roman

Anina Valle Thiele
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