Graf, Linda: Nach dem Regen

Übung im Fremdschämen

d'Lëtzebuerger Land vom 29.01.2009

Vielleicht muss es nicht immer Tolstoi oder Proust sein. Zur Ent-spannung und Durchlüftung eines beanspruchten Hirns empfiehlt sich gelegentliche Abwechslung – eine Rückkehr zu einfachen Erzählstrukturen, befreit von jeglichem Bildungsdünkel und literaturhistorischer Gelehrsamkeit. Warum nicht mal ’ne nette Schmonzette? Ein Plot, der so einfach gestrickt ist wie ein Natur-wollpulli aus dem Reformhaus, bereitet mitunter großes Lesevergnügen –, vorausgesetzt natürlich, der Autor verfügt über die nötigen handwerklichen Fertigkeiten. Auch in dieser Hinsicht bietet sich der Naturwollpulli als Analogie an.

Linda Graf hat sich für den Klassiker unter den Schmonzetten entschieden: den Liebesroman. Aus unterschiedlichen Perspektiven verwebt sie in Nach dem Regen die Schicksale einer Gruppe von Mittvierzigern zu einem „Geflecht aus Zuneigung, Enttäuschung und Angst“, in dem besagte Mittvierziger „um ihr Glück ringen“ (Zitat Klappentext): Aus der Ehe von Claudia und Tom ist die Luft raus. Also trifft sich Claudia mit ihrer Jugendliebe Michel, einem gutaussehenden Journalisten, während Tom sich auf einer Rolltreppe im Auchan in eine forsche Blondine namens Mim verliebt. Mim ist eine Freundin von Helen, die ihrerseits eine Freundin von Claudia ist und sich ebenfalls mit einem ehemaligen Liebhaber trifft. In dem schwerfälligen Anzugträger Tom erkennt Mim ihre große Liebe, Helen verlässt ihren Ehemann doch nicht für Daniel, und Claudia, ihres Zeichens Medium und frustrierte Hausfrau, bezirzt Michel dermaßen, dass er sich wünscht, sie würde bei ihm einziehen. Alle bekommen, was sie wollen, insbesondere natürlich die Frauen.

Für sich genommen, wäre dieser Plot noch keine Katastrophe. Auch sprachlich kann man einer Gefühlsverhedderung im Alltagsgewand guten Gewissens einiges nachsehen. Plattitüden sind schließlich das Markenzeichen des Kitschromans; den kontinuierlichen Einsatz von abgetragenen Redewendungen erfordert das Genre. Deshalb braucht der Leser nicht zu erröten, wenn eine „Welle der Zärtlichkeit“ Mim beim Anblick ihres Liebhabers „durchströmt“, wenn sich die einge-schnappte Claudia „hinter einer Mauer des Schweigens verschanzt“ und Toms Kopf „augenblicklich heiß“ wird, wenn er „vor Ärger kocht“. Ist er ein wohlwollender Leser, übersieht er sogar großmütig die Behauptungen, eine Firma namens „Cartel“ stelle Designermöbel her, Botticelli male Frauenfiguren mit „üppigen Körpern“ und Pippi („Pipi“) Langstrumpf ernähre sich von „Kartoffelchips, Marsriegeln und Speiseeis“. Und da er gar nicht erst mit tiefschürfenden Erkenntnissen rechnet, wird er sich bei der Lektüre adretter Sprüche à la: „Alles ist plötzlich lange her, wenn man älter wird“ wehmütig an seinen letzten Glückskeks erinnern. Spätestens aber, wenn ein „im Weltverkehr verloren gegangener Grizzlybär“ seiner Angebeteten seinen „Whiskey- und Tabakatem unter dem wüsten Haarschopf in den Nacken bläst“, wird diesen Leser bei aller stilistischer Toleranz ein ungutes Ahnung beschleichen. Ungläubig und mit flauem Gefühl in der Magengegend wird er schließlich lesen, was dem als eklektischer Intellektueller angekündigten Michel bei Claudias Anblick durch den Kopf geht: „Er will mit Claude im Sattel gegen den Wind reiten, ihr Kinn auf seiner Schulter und ihre Brüste in seinem Rücken spüren, er will eine Schlafstätte auf dem Waldboden aufsuchen und ihre rosigen Fersen aus den Wanderschuhen herausschälen.“

Die Figurenzeichnung besteht aus einer Aneinanderreihung von Schwulst und bloß behaupteten Charaktereigenschaften und Gefühlsregungen, die im Aufeinandertreffen der Figuren überhaupt nicht zum Tragen kommen. Von „spitzfindigen Bemerkungen“ und „temperamentvollen Ausbrüchen“ keine Spur. Unbeholfen flickt die Autorin plumpe Rückverweise in innere Monologe ein („wie bereits erwähnt“), als habe sie vergessen, dass gerade nicht sie spricht, sondern ihre Figur; die Tempora befinden sich in einer heillosen Unordnung, und alle Ansätze einer eigener Metaphorik sind derart abstrus, dass sie eine (vermutlich) unfreiwillige Komik erzeugen („‚Mit Verstorbenen‘, korrigierte Helen mich mit zarter Stimme, die mich an ein junges Salatblatt denken ließ.“). Das Resultat wirkt so flach, dass man meint, eine Briefmarke draufkleben und es mit der Post verschicken zu können. 

Linda Graf: Nach dem Regen. Roman. Éditions Saint-Paul, Luxembourg 2008; 216 Seiten, 20 Euro; ISBN 13 : 978-2-87963-746-4

Elisabeth Schmit
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