Heute loben wir den kritischen Geist. In fast allen Parteiprogrammen wird der mündige Bürger beschworen. Also jener Mensch, der jeder Zeit kritisch die Lage der Gesellschaft reflektiert und sich selber dabei nicht ausnimmt. Erst die kritische Kompetenz erlaubt es, Fehler zu vermeiden und negative Entwicklungen vorwegzunehmen. Die Schule ist der günstigste Ort, um kritische Einstellungen zu fördern. Lehrer und Schüler sollen gemeinsam eigene Positionen entwickeln und das „Hinterfragen“ einüben. Sogar Premier Juncker brüstet sich periodisch mit der edlen Forderung nach einer ausgeprägten „Streitkultur“.
Was aber geschieht neuerdings in der Schule? Sagen wir es so brutal, wie es ist: Kritik wird kuzerhand unterbunden. Die hervorragendste Eigenschaft des Lehrers wäre ja, kritisch veranlagter Beispielgeber für seine Schüler zu sein. Diese Ansicht wurde von der Delvaux’schen Reform zunichte gemacht. Zitieren wir zunächst ein anschauliches Beispiel. Die Lehrergewerkschaft SEW/OGBL schlug dem Unterrichtsministerium vor, ihre aktuelle „Journée de réflexion“ zum Thema „Evaluation“ ins Programm der formation continue aufzunehmen. Die Antwort des Ministerialbeamten Camille Peping spricht Bände: „Sou wi eng Rei Froen oder Aussoe formuléiert sinn, gëtt hei a mengen Aen eng Afrostellung suggéréiert vun der Démarche di per Gesetz festgeluecht gouf. Dir verstitt sécher, datt mir dat net kënne cautionéieren, dodurch datt mer et als Formation continue unerkennen.“
Nein, das verstehen wir sicher nicht. Übersetzen wir mal den umständlichen Bürokratenjargon des Herrn Peping in verständliches Deutsch: Abweichende Meinungen sind nicht erlaubt. Was im Gesetz steht, ist verbindlich, und zwar derart, dass Kritik nicht zugelassen wird. Im Klartext: Die Lehrerschaft ist gebeten, ganz einfach den Mund zu halten und das Gesetz auszuführen. Zur Weiterbildung der Lehrer gehört mitnichten das Erproben kritischer Modelle.
Das ist nicht nur ein von oben verordneter Maulkorb für die Lehrer, es ist der Versuch, alle Schulteilnehmer konsequent zu entmündigen. Der Unterrichtsministerin scheint zu entgehen, was denn eigentlich ein „Gesetz“ ist: nichts weiter als eine zeitlich begrenzte Vorlage, die vom nächstfolgenden Gesetz überholt und außer Kraft gesetzt wird. Auch vor Frau Delvaux’ Reformgesetz gab es ein Schulgesetz, auch nach ihrer Zeit als Ministerin wird es wieder anderslautende Gesetze geben. In anderen Worten: Fortschritt kommt immer nur aus der Überwindung von schlechten Gesetzen. Allein daher ist es dringend erfordert, jedes Gesetz kritisch zu begutachten. Dass Frau Delvaux offenbar unerschütterlich glaubt, ihr Gesetz sei gut und unanfechtbar, mag mit ihren parteipolitischen Scheuklappen zusammenhängen.
Dass sie allerdings frühere Gesetze, nach denen ganze Generationen von Lehrern ihre Schularbeit gestalteten, nachträglich zu schlechten Gesetzen stempelt, nur weil sie die universelle Weisheit gepachtet hat, kommt einer retroaktiven Stigmatisierung der Lehrerschaft gleich. Früher hatten wir in Luxemburg offenbar nur schlechte Lehrer. Die guten traten in Schwärmen erst auf, als Frau Delvaux ihre Reform erfand. Wäre sich die Ministerin konsequent, müsste sie als allererste ihr Mandat niederlegen. Denn sie stammt genau aus jener Riege schlechter Lehrer, die ihre phantastische Schulreform nun endlich enttarnt und an den Pranger gestellt hat.
Diese Ministerin wird in die Geschichte eingehen als jene Politikerin, die dem mündigen Bürger konsequent den Garaus macht. Dabei hat ihre Reform nicht einmal Ansätze eines Gesellschaftsentwurfs zu bieten. Doch! Die katholische Kirche ist das anerkannte Spiegelbild der luxemburgischen Gesellschaft. Da nimmt es nicht wunder, dass im neuesten Programm der formation continue folgendes Angebot zu finden ist: „Bewegter Religionsunterricht: Interaktion von Musik, Sprache und Bewegung“. Wir wussten gar nicht, dass der Religionsunterricht unter Frau Delvaux zum fächerübergreifenden Sammelsurium von Kunst, Literatur und Gymnastik gedeiht. Jedenfalls ist weit und breit kein Herr Peping zu finden, der dem Erzbistum einen Strich durch die Rechnung machen würde. Nicht zugelassen zur formation continue sind lediglich Organisationen aus dem weltanschaulichen Umfeld der Ministerin. Falls es denn stimmt, dass sie tatsächlich LSAP-Mitglied ist.
Ihre politische Heimat ist viel eher die CSV. Herr Gott ist ohnehin kein Freund der Gesellschaftskritik. Seine kämpfenden Truppen berufen sich, genau wie Frau Delvaux, auf brüchige Vereinbarungen. Warum pocht die CSV darauf, die zweite obligatorische Beratung für abtreibungswillige Frauen beizubehalten? Weil es so im Koalitionsabkommen steht, sagt kategorisch der CSV-Generalsekretär Spautz. Was aber ist ein Koalitionsabkommen? Nichts weiter als ein Kuhhandel zwischen Parteien, die sich untereinander die Macht aufteilen. Welchen Einfluss hat der Bürger auf Koalitionsabkommen? Gar keinen. Er muss nur dafür sorgen, nicht schwanger zu werden.