Das Gedicht: Erotik-Special

Das Wunder des Gedichts

d'Lëtzebuerger Land vom 28.12.2000

Wenn die Gefühle sich überstürzen, versagt die Sprache; und wo überstürzen sich die Gefühle heftiger als im Erotischen? Schon immer haben Dichter diese Barriere als Herausforderung begriffen, lohnend, weil sich so die Wohltaten der Liebe in die Länge ziehen lassen. Es tritt in die Zeit ein, was sonst gar zu gern die Zeit vergisst. 

Die deutsche Zeitschrift Das Gedicht hat sich das Jahr 2000 für eine  Sonderausgabe über "Erotik" ausgesucht. Von 1921 bis 1975 spricht ein, sprechen manchmal zwei oder mehr Autoren oder Autorinnen für (nahezu) jedes einzelne Jahr, nämlich sein/ihr Geburtsjahr. Doch damit nicht genug. 

Zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum (soviel ich weiß) kommen in diesem Heft auch frankophone luxemburgische Poeten zu Wort, in wunderbar einfühlsamen Übersetzungen. Wobei die französische Originalfassung kleingedruckt unten auf der Seite hinzugefügt wurde. Schließlich enthält der Band auch noch einige Essays zum Thema Erotik und erotisches Gedicht.

Hier, in der Prosa-Abteilung, steht mein Favorit. Der Aufsatz handelt von Catulls fünftem Gedicht aus der Sammlung der Carmina. Catull lebte von etwa 87 bis 54 vor Christus; dieses fünfte Gedicht wurde viele Jahrhunderte lang bewundert als Ausdruck von zarter Anmut und reinem Gefühl, erzählt uns Niklas Holzberg und zieht ein zweites Gedicht von ähnlicher Innigkeit heran. Sachte, sachte führt er uns nun in die Verhältnisse im alten Rom ein, in die dortigen Sprachgewohnheiten, stellt sie den unseren gegenüber, wer liebt wen, wer darf wen lieben, und wie sagt man es heute, wie sagte man es damals. Mit kurzen Worten: Es gelingt ihm, die Bedeutung des Textes (er behandelt das ganze natürlich an deutschen Übersetzungen) nahezu in sein Gegenteil zu verkehren und dann nochmals eine halbe Kehre anzufügen. Sein Geist hat die Gewandtheit eines Trapezkünstlers; ich bin seinen Argumenten mit der gleichen Atemlosigkeit gefolgt, zu der mich dieser verführen kann.

Als Luxemburger Dichter sind mit einem französischen Gedicht vertreten: Emile Hemmen, Nic Klecker, Anise Koltz, José Ensch, René Welter, Felix Molitor, Claude Bommertz und Tom Reisen. Der Übersetzer heißt Rüdiger Fischer. Wie kommt es, dass diese Gedichte so anders klingen als alle vorherigen, die Gedichte deutscher Muttersprache? Roger Manderscheid gucke ich an: gleichen seine Texte (es sind drei) mehr den Deutschen oder mehr den übersetzten Luxemburgern? Beiden nicht. Was die Luxemburger von den andern unterscheidet, so kommt es mir vor, ist ein Fehlen von Ironie. Mit Ironie bezeichnet man in Deutschland etwas, das nicht ganz so gemeint ist, wie man es sagt. "Das  Erwachen an ihrem Husten, der ausblieb ..." als Liebesbeweis; wenn mir sogar das Unangenehme an der abwesenden Person fehlt, dann muss ich sie doch gern haben. 

Manderscheid dagegen: "Vor Freude/sind wir/für einen/Augenblick/aus dem Häuschen ...", und auch er benutzt "aus dem Häuschen" in mehrfachem Sinn, durchaus nicht unironisch - also muss der Unterschied noch woanders liegen.  "Fruchtfliegen, Hotelfäule ..." les' ich an anderer Stelle oder "... es zittern doch die strammen Schenkel sehr vor lauter Not ..." oder "er küsste sie so, wie er es in den Schwulenbars gelernt hatte ...". Und dann die Luxemburger: "... ich bin meine lesbare Blöße an einem langen Tag ..." oder "Unsere Hände waren voll von jungen Trommeln ..." oder "... ich lutsche in deinem Mund ein Stück Weltall ..." oder - die unverwechselbare José Ensch "... pflück den Honig auf den Gipfeln des Wassers ..."

Es scheint, als kämen die Bilder, die vorzugsweise verwendet werden, aus zwei weit entfernten Fächern der menschlichen Fantasie. Je länger ich mich in die Texte vertiefe - mal Ute-Christine Krupp "... dort sprudelten meine Worte Sätze, aber das Wachs in seinen Ohren / was für ein Riß, Membran, Gräten ausgespuckt, freigelegtes Rückgrat ..." - mal Claude Bommertz" ... weißt du, ich entsinne mich nicht, aber durchs Gewölk erkenne ich Legionen von Ameisen ... ich wehre mich gegen das Kreischen ihrer frenetischen Schwingungen mit ihrer Fähigkeit, den Faden zu durchtrennen, der uns an den Zauber des  Wachstropfens bindet ..." ? desto mehr fühle ich mich davon getragen, weggehoben von meinem Alltag, und es ist mir, als zögen mich zwei Rösser fort, die ihren je eigenen Trab aufeinander abstimmten, so dass ein ganz neuer Rhythmus entsteht, einer, der beide Welthälften verbindet, wo Freude aufsteigt.

Die Gefühle, die in diesen Liebes- und Erotikgedichten eingefangen, in Wort gefasst werden, die Gefühle sind jedem Menschen zugänglich. Die Vokabeln, die Begriffe, die Bilder, in die der Autor, die Autorin sie einkleidet, entstammen ihren jeweiligen Erfahrungen oder ihrer Bildungswelt. Und dennoch öffnen sie sich den Lesenden, lassen sie ein, alle Lesende, wenn sie Ruhe mitbringen. Das und nur das ist das Wunder des Gedichts und auch dieses Heftes.

Das Gedicht. Zeitschrift für Lyrik, Essay und Kritik: Erotik-Special, Nr. 8 Herbst 2000, Anton G. Leitner Verlag, Weßling, 152 S., 11,15 Euro

Barbara Höhfeld
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