UEL-Direktor Marc Wagener über Sozialdialog, Absentismus, Wirtschaftswachstum und Renten

„Bestenfalls eine Verschwörungstheorie“

Vor sechs Monaten hat Marc Wagener Jean-Paul Olinger als Direktor des vor 25 Jahren gegründeten Unternehmer-Dachverbands UEL abg
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 13.12.2024

D’Land: LCGB-Präsident Patrick Dury warf Regierung und UEL vergangene Woche auf einer Gewerkschaftskundgebung vor, sie hätten „eng reaktionär, eng destruktiv Agenda, déi d’Acquise vun de Salariéen, de Rôle an d’Rechter vu fräien an onofhängege Gewerkschaften net nemme wëlle beschneiden, se wëllen se futti maachen“. Hat er Recht?

Marc Wagener: Natürlich nicht. Es ist bestenfalls eine Verschwörungstheorie, dass „Patronat“ und Regierung unter einer Decke stecken. Die UEL hat eine gewisse Kontinuität in ihren Positionen. Wir stellen fest, dass im Regierungsprogramm Dinge stehen, die wir interessant finden. Zum Beispiel, dass die Arbeitgeber und ihre Angestellten am besten platziert sind, um die Bedürfnisse ihres Unternehmens zu kennen. Das Arbeitsrecht soll modernisiert und an die Bedürfnisse der Beschäftigten und der Unternehmen angepasst werden. Die Kollektivverträge sollen überarbeitet werden. Diese Ankündigungen liegen auf dem Tisch, seit das Regierungsprogramm veröffentlicht wurde. Dass wir bestimmte Schnittmengen sehen mit Positionen, die wir schon vorher hatten, ist im Sinn der Sache. Doch ich bedauere die Personifizierung der Auseinandersetzung, wo Unterstellungen gemacht, Personen namentlich genannt werden. Und eine Verschwörung detektiert wird, um die Rechte der Gewerkschaften zu beschneiden und das So-
zialmodell kaputt zu machen. Das ist weit weg von der Realität. Uns geht es darum, gemeinsam weiterzukommen, wir wollen nichts kaputt machen.

2019 sagte der damalige UEL-Präsident Nicolas Buck, das Patronat sei im CPTE „40 Joer gebiischt ginn“. Jetzt scheinen die Gewerkschaften sich „gebiischt“ zu fühlen. Hat die Verschwörung sich gedreht?

Mit den Personalausschüssen in den größeren und den Mitarbeitern in den ganz kleinen Betrieben klappt der Sozialdialog eigentlich sehr gut, ob mit oder ohne Gewerkschaften. Er funktioniert ebenfalls sehr gut in den Gremien der Sozialversicherung. Natürlich gibt es unterschiedliche Positionen, doch in der Debattenkultur herrscht Vertrauen und gegenseitiger Respekt. Auch wenn ein früherer UEL-Präsident das gesagt hat: Es geht nicht darum, wer gebiischt wird. Nur weil man in einem bestimmten Gremium Dinge hört, die einem nicht gefallen, bedeutet das nicht, dass der Sozialdialog nicht stattfindet. Der Sozialdialog ist auch kein Sozialdiktat, wo eine Seite ihre Positionen durchsetzt und die andere Seite alles hinnehmen muss. Er ist ein Verständigungsverfahren, ein Geben und Nehmen, und es wäre wünschenswert, wenn wir uns irgendwo in der Mitte treffen könnten. Wenn jedoch keine Schnittmengen gefunden werden, muss die Regierung eine Entscheidung treffen. Ein Sozialdialog ist es aber auch dann, wenn er nicht zu einer gemeinsamen Entscheidung führt.

Das Patronat setzt sich seit jeher dafür ein, dass Unternehmen Kollektivverträge ohne Gewerkschaften verhandeln können. Ihr Vorgänger Jean-Paul Olinger hat das noch vor zwei Jahren im Gespräch mit dem Land gefordert. Wozu bräuchte man dann noch Gewerkschaften, wenn man ihnen ihr Kerngeschäft wegnimmt?

Wir sind ganz auf einer Linie mit dem, was im Regierungsprogramm steht. Wir wollen das Arbeitsrecht in der Hinsicht modernisieren, dass den Belangen der Beschäftigten, aber auch denen der Betriebe Rechnung getragen wird. Im CPTE wurde nie gesagt, dass Kollektivverträge nicht mit Personalausschüssen verhandelt werden sollen. Man muss sich aber fragen, wieso wir weniger Kollektivverträge haben, als die in der EU-Mindestlohnrichtlinie angepeilten 80 Prozent. Das liegt einerseits daran, dass das Arbeitsrecht schon extrem weit geht, und andererseits am Indexsystem. Wir finden, dass bestimmte Dinge wie die Notwendigkeit und der Inhalt von Arbeitsverträgen, das Recht auf bezahlten Urlaub, Feiertage und Mindestlohn im Arbeitsrecht stehen sollen. Bei der Arbeitsdauer, der Teilzeitarbeit und ähnlichen Dispositionen ist aber eine Öffnung notwendig. Mindestanforderungen sollten im Arbeitsrecht bleiben, doch im Rahmen von Tarifverträgen oder anderen Abkommen sollten Ausnahmeregelungen möglich gemacht werden. Ferner wollen wir über die Mindestinhalte von Kollektivverträgen verhandeln. Wir wollen sie nicht vollständig aushöhlen, aber es muss möglich sein, punktuell die Feingliedrigkeit der Arbeitszeitorganisation zu berücksichtigen. Manche Sektoren hätten sogar Interesse daran, dass es eine Leitplanke gibt, an die alle Unternehmen sich halten müssen. Doch die Details muss man mit den Delegationen in den Betrieben verhandeln können: Arbeitszeiten, Freizeitausgleich, wie organisiere ich das Weihnachtsgeschäft im Einzelhandel, wie arbeite ich im Juni auf Baustellen, wenn die Tage länger sind und das Wetter schöner ist.

Würde man den Gewerkschaften damit nicht lediglich eine Alibirolle zuteilen? Die Arbeitszeitorganisation ist ein wesentlicher Faktor.

Ja, sie ist ein wesentlicher Faktor, aber die mentions obligatoires zu den Kollektivverträgen enthalten sehr viele Bereiche, was neben dem Index und dem strengen Arbeitsrecht sehr weit geht. 60 Prozent Tarifabdeckung sind nicht so wenig, aber wenn Sie jetzt einen Branchenkollektivvertrag für den Handel abschließen, reicht das vom großen Einkaufszentrum über den kleinen Unterwäscheladen in Wasserbillig bis hin zu einem Geschäft mit drei Filialen. Die haben alle sehr unterschiedliche Bedürfnisse hinsichtlich ihre geographischen Lage, ihrer Größe und Unternehmensstruktur. Es ist nicht zielführend, auch nicht für die Beschäftigten, dass man in einem Branchenkollektivvertrag Detailfragen zur Arbeitszeitorganisation für alle diese unterschiedlichen Betriebe regelt. Es ist auch nicht mehr zeitgemäß, denn die Beschäftigten haben sehr individuelle Bedürfnisse hinsichtlich ihrer Arbeitszeit, auf die häufig nicht eingegangen werden kann, weil der reglementarische Rahmen teilweise zu rigide ist.

Das verhindert aber nicht, dass man die Gewerkschaften an der Verhandlung von Kollektivverträgen beteiligt.

Es ist ja nun bekannt, dass 56 Prozent der Delegierten – 9 500 insgesamt – nicht Mitglied einer Gewerkschaft sind. Diese 56 Prozent kaschieren aber die Realität, dass die Gewerkschaften in bestimmten Sektoren wie der Immobilienbranche nur weniger als zehn Prozent der Delegierten stellen, bei den Treuhandgesellschaften sind es 15, im Horeca 25 Prozent. In diese Sektoren, die kaum syndikalisiert sind und auch keine Gewerkschaftskultur haben, gibt es auch Delegierte, die Kollektivverträge oder ähnliche Abkommen aushandeln können. Sie sollen Experten zu Rate ziehen dürfen, die auch aus Gewerkschaften stammen können. Aber wenn die Personaldelegation das nicht will und einen guten Draht zu ihrer Direktion hat, muss man sie dann dazu verpflichten? Wir verstehen nicht, wieso man diese 9 500 Delegierten als Gielemännercher oder Patronsdelegéierter diskreditiert. Das finde ich nicht richtig.

Zwischen Beschäftigten und Direktion besteht aber ein Subordinationsverhältnis, die Macht ist ungleich verteilt. Ohne Gewerkschaft sind die Angestellten ihrem Patron quasi ausgeliefert.

Sowohl die Delegierten als auch ihre Stellvertreter haben laut Gesetz einen umfassenden Kündigungsschutz. Manchmal habe ich den Eindruck, wir wären noch im Manchester-Kapitalismus. Die Wirtschaft hat sich aber in den letzten 200 Jahren entwickelt: Wir haben einen starken Dienstleistungssektor, nach Irland haben wir den höchsten Anteil an Akademikern, wir haben sehr viele kleine Betriebe mit weniger als 100 Mitarbeitern. Sowohl im Handel als auch im Handwerk und in der Dienstleistungsbranche ist der Fachkräftemangel die größte Herausforderung – noch vor den Lohnkosten. Der Arbeitgeber, der gute Leute anziehen und sie halten möchte, hat gar kein Interesse daran, wie ein Großmufti aufzutreten, der alles alleine durchsetzt. Die Leute lassen sich das nicht mehr gefallen und können die Stelle wechseln, wenn es ihnen nicht mehr gefällt. Obwohl der Arbeitsmarkt etwas angespannt ist, haben wir noch immer Vollbeschäftigung. Der bassin d’emploi in der Großregion ist inzwischen weniger ergiebig, so dass die Betriebe alles tun, um ihre Beschäftigten zu halten. Das gleicht das Machtverhältnis weitgehend aus und stärkt ihre Verhandlungsposition.

Wenn man – wie kürzlich in einer Radiosendung – Aussagen hört von Unternehmer/innen, die Begriffe gebrauchen wie „Gefälligkeitskrankenscheine“ und „Krankfeiern“, erhält man den Eindruck, dass sie nicht besonders viel Respekt gegenüber ihren Angestellten haben – von denen die meisten übrigens keine Akademiker sind.

Es ist vor allem ein Hilferuf im Hinblick auf ein Absentismusproblem, das seit Covid größer geworden ist. Die Dauer der Krankenscheine ist zudem kürzer geworden. In Umfragen bei unseren Mitgliedsorganisationen ist herausgekommen, dass Beschäftigte montags drei Mal häufiger krank sind als dienstags. Damit äußere ich keinen Generalverdacht, sondern stelle lediglich fest, dass der Absentismus laut IGSS vergangenes Jahr bei über 4,5 Prozent lag. Das hat, alleine wegen der Lohnfortzahlung, Direktkosten in Höhe von 1,2 Milliarden Euro verursacht. Die indirekten Kosten lagen wesentlich höher, weil die anderen Beschäftigten die Fehlzeiten auffangen, die Betriebe vielleicht Interim-Personal einstellen mussten. Neben dem steigenden Absentismus hat man ja auch noch die Urlaube zur sogenannten Work-Life-Balance, die vergrößert, erweitert und attraktiver gestaltet wurden. Manche Betriebe, die zum Beispiel viel draußen arbeiten, können Fehlzeiten von sechs, sieben Prozent haben, zusätzlich zum regulären Urlaub beziehungsweise Elternurlaub, politischen Urlaub, unbezahlten Urlaub – was auch immer. Schließlich fehlen zehn Prozent des Personals, was die Organisation des Betriebs sehr schwierig macht.

Wieso sind denn immer mehr Menschen krankgeschrieben?

Diese Ursachenforschung machen wir schon lange und müssen sie auch weiterführen, die psychischen Krankheiten nehmen zu. Aber die Zahlen der IGSS belegen, dass die kurzen Krankenscheine häufiger werden. Wir wollen gegen den missbräuchlichen Aspekt dieses Phänomens vorgehen, wollen dass mehr ärztliche Kontrollen durchgeführt werden, um Leute zu identifizieren, die auffällig sind, die vielleicht in den letzten drei Monaten sechs, sieben oder acht Mal krankgeschrieben waren. Dann reden wir noch gar nicht von Karenztagen oder ähnlichen Maßnahmen.

Wenn wir jetzt wieder Karenztage einführen, sind wir doch tatsächlich gar nicht mehr so weit weg vom Manchester-Kapitalismus.

Ich habe jetzt nicht von Karenztagen geredet, auch wenn verschiedene Unternehmerverbände, die besonders von Absentismus betroffen sind, das fordern. Die UEL versucht einen gemeinsamen Nenner zwischen ihren Mitgliedsorganisationen zu finden. Auf UEL-Ebene haben wir noch nicht über Karenztage gesprochen, sondern wollen eher die ärztliche Kontrolle verstärken, um herauszufinden, wie hoch die Gefälligkeitskomponente wirklich ist. Wenn der gleiche Beschäftigte von fünf oder sechs unterschiedlichen Hausärzten Krankenscheine bekommt, kann das einen schon stutzig machen. Wenn jemand, der in Wiltz wohnt, bis nach Mondorf zum Hausarzt fährt, fällt das auf. Man muss das hinterfragen können, ohne ihm zu unterstellen, geschummelt zu haben.

Man könnte auch sagen, es muss schon ein sehr großes Malaise bestehen, wenn man so einen weiten Weg auf sich nimmt, um zum Arzt zu fahren…

Das sind alles nur Indizien, damit kann man keinen Prozess machen. Deshalb sind ärztliche Kontrollen die beste Möglichkeit, die Debatte zu objektivieren. Man kann sich natürlich auch fragen, ob man, wenn man sonntags krank ist, noch einen Aufschlag erhalten muss. Oder, wenn man im Urlaub krank wird, diesen Urlaub auch noch zurückerhält.

Weil Kranksein so etwas ähnliches ist, wie in Urlaub fahren?

Das ist Pech oder Glück. Wenn man im Urlaub krank wird, wird man eben im Urlaub krank. Dadurch soll man aber nicht das Recht haben, ihn später nachzuholen. Wie gesagt, wir sind sehr nuanciert, sehr moderiert. Wir versuchen zwischen Banken, Industrie, Handel und Horeca zu vermitteln und einen gemeinsamen Nenner zu finden. Von uns werden Sie nicht die Töne hören, die von – verschiedenen – Gewerkschaftern kommen.

Manche Ihrer Mitgliedsorganisationen werfen den Gewerkschaften – insbesondere dem OGBL – vor, im „Klassenkampf des 19. Jahrhunderts“ hängen geblieben zu sein. Wie steht es denn um den Sozialdialog? Hat das Lëtzebuerger Modell mit seinen Tripartite-Gremien noch eine Zukunft?

Der Sozialdialog hat absolut noch eine Zukunft. Vielleicht muss man die Erwartungshaltung etwas anpassen. Sozialdialog heißt nicht, dass man sich immer in allen Punkten einig ist. Wenn die Arbeitgeber in den letzten zehn Jahren immer das CPTE verlassen hätten, nur weil ihnen etwas nicht gefallen hat, dann wären sie oft gegangen.

Hatte die UEL nicht erst vor fünf Jahren das CPTE verlassen und es anschließend boykottiert?

Das kam aber eher selten vor und es war immer begründet. Im Oktober haben die Gewerkschaften etwas voreilig geschossen: Auf dem Tisch lag lediglich der Vorentwurf eines Aktionsplans, in den Herr Mischo und sein Team nur ein paar Ideen und Ansätze aufgenommen hatten. Wenn man sich einmal vorstellt, wie viele Etappen noch fehlen, bis daraus ein Gesetz wird. Wir haben den Vorentwurf nicht als Frontalangriff auf die Gewerkschaften gesehen, die nach wie vor einen hohen Stellenwert in den Debatten und in den Medien haben. Für uns hat sich nie die Frage gestellt, ob die Gewerkschaften überflüssig sind. Sie haben virulenter reagiert, als wir uns das vorgestellt hatten, weil sie offenbar denken, in dieser Angelegenheit gehe es um ihr Überleben.

Verschiedene Aussagen des Arbeitsministers haben darauf hingedeutet…

Andere Aussagen innerhalb der CSV-Fraktion und der Regierung gingen jedoch in eine andere Richtung. Wahrscheinlich wird es wie so oft sein: Die Suppe wird nicht ganz so heiß gegessen, wie sie gekocht wird.

Mehrere Dinge haben zur Eskalation beigetragen: Erst die angekündigte Rentenreform, dann die Kollektivverträge, gleich danach die Ausdehnung der Sonntagsarbeit und schließlich das Defizit der Krankenkasse. Hat die Regierung den Gewerkschaften vielleicht zu viel auf einmal zugemutet?

Man sollte nicht alles miteinander vermischen. Man sollte einerseits über Arbeitszeitorganisation, Arbeitsrecht und Kollektivverträge und andererseits über Renten, Krankenkasse und Absentismus reden können. Es ist natürlich berechtigt, dass die Gewerkschaften sich für die Belange der heutigen Arbeitnehmer einsetzen, doch wir finden, dass die langfristige Komponente vielleicht etwas fehlt. Bei den Renten stellt sich eine eklatante Generationenfrage und diese Debatte hat durchaus ihre Berechtigung.

Die Chambre de Commerce hat am Dienstag ein gewohnt düsteres Bild der Wirtschaftslage gezeichnet, doch insgesamt scheint es wieder langsam bergauf zu gehen. Laut Vorhersagen der OECD von vergangener Woche soll das BIP in diesem Jahr um 1,2 Prozent steigen, 2025 und 2026 dann um rund 2,5 Prozent. Das Statec geht für 2027 und 2028 sogar wieder von einem Wachstum von drei Prozent aus, Inflation und Arbeitslosigkeit gehen kontinuierlich zurück. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Wir stellen derzeit einen gewissen Bruch fest mit dem Trend, den wir hatten – sowohl beim BIP als auch bei der Beschäftigung. 2022 hatten wir nur noch eine Wachstumsrate von 1,5 Prozent, letztes Jahr eine Rezession und für das erste Halbjahr 2024 spricht das Statec von einem Wachstumsgewinn von 0,3 Prozent. Auf drei Jahre gesehen hätten wir also ein Wachstum von weniger als einem Prozentpunkt, auch wenn diese Addition arithmetisch nicht ganz richtig ist. Wir waren jedoch an ein Wachstum von um die drei Prozent gewohnt, das es uns erlaubt hat, die Renten und die Krankenkasse zu finanzieren. Ich weiß nicht, wie wir von den 0,5 Prozent, die wir in diesem Jahr vielleicht haben werden, wieder auf 2,5 bis drei Prozent kommen sollen. Bei der Beschäftigung stellt sich die gleiche Frage, was einerseits an der Wettbewerbsfähigkeit liegt, andererseits am Rückgang des bassin d’emploi. Wir entwickeln uns ein bisschen zu einem normalen Land, wir überperformen nicht mehr, und wenn man die demographische Komponente weglässt, haben wir eigentlich kein Wachstum mehr.

Wie kann Luxemburg denn wieder mehr Wachstum erzeugen?

Vielleicht haben wir Glück, denn unsere Nachbarn bekleckern sich derzeit nicht gerade mit Ruhm, kaum ein Nachbarstaat hat noch eine Regierung. Wir haben wenigstens noch eine, die Entscheidungen trifft und Investoren beruhigt, sodass die Finanzbedingungen nächstes Jahr vielleicht wieder etwas besser werden. Die OECD spricht von einem positiven Impuls auf den Außenhandel, den ich jedoch zurzeit wegen des Narrativs der Entglobalisierung in den USA und China nicht erkennen kann. Wir scheinen definitiv weg zu sein von drei Prozent Wachstum und uns eher bei 1,5 bis zwei Prozent einzupendeln. Das ist zwar immer noch Wachstum, aber weniger üppig als in der Vergangenheit. Und vor allem werden weniger neue Arbeitsplätze geschaffen. Unser Sozialsystem ist aber abhängig von Beschäftigungswachstum. Dieses Jahr hat sie CNS schon ein Defizit von 40 Millionen Euro, wenn sich nichts ändert, werden es nächstes Jahr 160 Millionen sein und 2027 würden die Reserven nicht mehr ausreichen. Bei den Renten ist es ähnlich. Deshalb müssen wir jetzt Reformen durchführen, eine attraktive Steuerlandschaft schaffen. Der „Entlaaschtungspak“ der Regierung ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Reform des Arbeitsrechts kann Wachstumsimpulse freisetzen. Wir brauchen diese Impulse, um endlich wieder Produktivitätsgewinne zu erzielen.

Insgesamt geht es der Luxemburger Wirtschaft ja nicht schlecht, viele Betriebe erzielen hohe Gewinne, vor allem die Banken. Die Projektionen der IGSS zum Rentensystem beziehen sich auf 2070. Wenn man schon nicht weiß, was in den nächsten drei Jahren passiert, kann man es für die nächsten 50 Jahre bestimmt nicht wissen. Die Gesellschaft steht vor großen Veränderungen: Klimawandel, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, zunehmender Rechtsextremismus. Ist es nicht blinder Aktionismus, wenn man jetzt schon damit beginnt, Reformen vorzunehmen für Szenarien, die vielleicht gar nicht eintreffen werden?

Man sollte nicht Vorhersagen mit Projektionen verwechseln. Ich projiziere lieber auf 15 statt auf 50 Jahre. Wir wissen mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit, dass zwischen 2022 und 2040 die Zahl der Rentner um 90 Prozent steigt - in absoluten Zahlen sind das 180 000 zusätzliche Rentner. Heute haben wir zwei Beitragszahler pro Rentner, was aufgeht. Bis 2040 müssten wir also 360 000 neue Arbeitsplätze schaffen und zudem die 180 000 Rentner ersetzen. Das wird nicht gelingen, sogar wenn der Arbeitsmarkt weiter wächst. Was man nicht weiß, ist, wie produktiv diese Leute sind. Zwei Drittel der Parameter sind jedoch bekannt und sollten uns zu einer gewissen Vorsicht verleiten. Das ist keine Panikmache. Manchmal klingt es so, als würden wir uns pervers daran befriedigen, die Renten zu schleifen. Daran haben wir aber kein Interesse, denn unser Rentensystem ist ein Standortfaktor.

Was würden Belle Etoile und City Concorde ohne die Kaufkraft der Rentner tun? Wer außerhalb der Schulferien mit der Luxair in den Süden fliegen?

Als Arbeitgeber sind wir trotzdem der Meinung, dass der Kostenpunkt der Untätigkeit höher ist als in einem vernünftigen Maß gegenzusteuern, damit wir 2040 oder 2050 noch die Gelegenheit haben, dass das Kapital, das wir im Pensionsfonds haben, intakt bleibt und man auf eventuelle Schocks reagieren kann.

Die Gewerkschaften schlagen vor, die Arbeitgeberbeiträge zu erhöhen, die zu den niedrigsten in Europa gehören. Wäre das eine Möglichkeit, um die Rentabilität dauerhaft zu sichern?

Was heißt das schon, niedrige Beiträge. Ein Drittel des Pensionssystems ist ja steuerfinanziert, so dass die Unternehmen im Finanzsektor, die wegen der Zinsmargen hohe Gewinne erzielt haben, überdurchschnittlich viel beigesteuert haben. Auch die Privatleute mit hohen Einkommen steuern überproportional viel zur Rentenkasse bei. Von der Beitragsrate von insgesamt 24 Prozent zahlt der Unternehmer selbst acht Prozent, er hält seinem Angestellten acht Prozent ein – was schon 16 Prozent auf der Lohnmasse ausmacht. Zusätzlich zieht er noch Steuern ein, von denen ein Teil zu den Renten geht. Das ist schon eine große Punktion. Wir müssen aber der demographischen Realität Rechnung tragen. Irgendwann wird dem System die Luft ausgehen. Wenn wir nur die Beiträge erhöhen, ohne das System zu reformieren, sind wir in fünf Jahren wieder am Ausgangspunkt.

CSV und DP setzen auf qualitatives Wachstum – mit wenig Bevölkerungswachstum –, das es uns erlauben soll, das Sozialsystem aufrechtzuerhalten. Funktioniert dieser Plan nicht oder wieso müssen wir jetzt die Renten kürzen oder das Eintrittsalter erhöhen?

Das Zauberwort heißt ja Produktivität. Laut Conseil national de la Productivité haben wir makroökonomisch eigentlich keine Produktivitätsgewinne. Es gibt sie bestimmt in einzelnen Unternehmen und Sektoren, doch scheinbar werden sie neutralisiert durch die Desorganisation infolge von Absentismus und schwerfällige Verwaltungsprozeduren infolge von Auflagen wie Menschenrechtsstandards, die natürlich eine politische Berechtigung haben, aber eine wirtschaftliche Zusatzbelastung für die Unternehmen darstellen.

Sogar Wirtschaftsexperten bestätigen, dass die Produktivität der Finanzindustrie eigentlich nicht zu berechnen sei…

Es stimmt, dass der Preis von Finanzdienstleistungen schwerer zu messen ist als etwa der von Stahlträgern. Doch die OECD und die EU-Kommission sind sich dessen bewusst und passen ihre Berechnungsweise an die dematerialisierte Wirtschaft an. Man merkt einfach, dass wir diese Produktivitätsgewinne nicht haben. Nur zu sagen, das Thermometer sei falsch, ist ein bisschen zu einfach, es ist eine Verweigerung, diese Diskussion zu führen. Angetrieben wird die Produktivität durch Effizienz bei der Arbeit, Vereinfachung der Prozeduren, Bildung und Weiterbildung, Innovation. Wir müssen in Zukunft intelligenter werden. Früher ist uns das Wachstum in den Schoß gefallen, weil wir von strukturschwachen Regionen mit einer gewissen Arbeitslosigkeit umgeben waren und günstige Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Heute ist das nicht mehr der Fall, sowohl aus demographischen als auch aus soziologischen Gründen: Die Leute wollen nicht mehr im Stau stehen. Sie haben vielleicht die Möglichkeit, im Homeoffice für ein Unternehmen in Paris zu arbeiten und brauchen nur einmal die Woche mit dem TGV ins Büro zu fahren.

Laut Chambre de Commerce hat in den vergangenen Jahren die Hälfte der Luxemburger Unternehmen nur einen geringen Anteil ihres Umsatzes in Innovation investiert. Haben die Betriebe nicht auch selbst Schuld daran, dass die Produktivität vielleicht weniger hoch ist, wie sie sein könnte?

Auch die EU-Kommission sagt, dass die Luxemburger Betriebe bei der Digitalisierung hinterher hinken. Unter den 40 000 Betrieben sind bestimmt einige, die überholt sind, ich will das gar nicht herunterspielen. Vielleicht, weil sie durch die Desorganisation und die Überreglementierung nicht genug Zeit haben, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.

Luc Laboulle
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