Erinnerungen aus der Kindheit und frühen Jugend sind oft fragmentarisch: Mal sind es Gerüche und Geschmäcker, die uns zurückführen können in längst vergangene Momente, mal intensiv erlebte Ereignisse voller Emotionen, die sich in unser Gedächtnis eingebrannt haben. Oft sind es mehr Momentaufnahmen als lineare Geschichten – „instantanés“, wie Titel und Cover von Carla Lucarellis autobiografischem Erzählband aufnehmen –, die wir in der Erinnerung wie Perlen in eine mehr oder weniger chronologische Folge aneinanderreihen. Ihre Zusammenhänge oder Bedeutung lassen sich erst im Rückblick in einer Erzählung ordnen: „Des flashs d’images, d’atmosphères, d’états d’âme, des pièces uniques que je suis seule à posséder, à visiter, des espaces imaginaires qui peuplent mon esprit et qui me relient à tous mes âges, qui, comme des fantômes, disparaîtront avec moi sans laisser de traces. Juste cette petite trace écrite [...]“ (S. 52)
Carla Lucarelli lässt sich von den Eindrücken aus ihrer Kindheit in den 1970er- und Anfang der 80er-Jahren im Süden Luxemburgs leiten und erzählt im Kapitel Images/Paysages von ersten Schulstunden, der Freundschaft mit den Nachbarskindern, religiösen Festen und den Sommerferien, die sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester bei der Familie in Italien verbringt. In der kindlichen Perspektive folgt die Erzählerin dabei den oben beschriebenen Sinneseindrücken: der Erfahrung der Materialität der Schulhefte in blau, schwarz und rot, der Vorfreude auf einen Friseurbesuch, dem Gang zur Épicerie im Dorf; der Panik, die sie befällt, als sie zu spät zum Umzug der Erstkommunion dazu stößt, und deren Eindruck über die eigentliche Zeremonie überwiegt. Dabei hinterfragt sie die eigene Erinnerung und kontrastiert sie mit der seither verstrichenen Zeit und der erzählten, von außen und durch andere ergänzten Erinnerung: Sind das meine eigenen Gedanken oder nur die Nacherzählung meiner Verwandten? Die Sommerferien in Italien und die gruseligen Geschichten der Großmutter über ein Monster, das nachts aus einer umliegenden Grotte kreucht, dienen als Grundlage, um sich mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Oft sind es Gefühle und Beobachtungen, die im Vordergrund stehen und den Erzählfluss leiten.
In der folgenden Erzählung Avant/Après wird die Identitätsfrage anhand des Lebens des Vaters gestellt und klar ausformuliert – hier endet die kaum bewertende, kindliche Erinnerung, in der die Kernfamilie hinter die beschriebenen Erfahrungen zurückgetreten ist. Wer ist dieses „je“, das spricht, dessen Standpunkt nicht über nationale Zugehörigkeit geklärt werden kann und soll? „Nous sommes? Des morceaux de souvenirs, des éclats de réminiscences“, lautet die Antwort. Es ist eine „identité mouvante“ (S. 62). In dieser Erzählung und der im Flattersatz im Andenken an die kürzlich verstorbene Großmutter verfassten Geschichte, die vom Vergessen und dem freien Fluss der Gedanken und Gespräche rhythmisiert wird („elle oublie vite“ S. 67), folgen reflektierte und dialogische Rückblicke auf die Familiengeschichte.
Carla Lucarelli wurde 1968 geboren und lebt in Luxemburg. Sie schreibt Theaterstücke, hat bereits zwei Gedichtbände und zwei Romane veröffentlicht, sowie einen Band mit Erzählungen. Enfance, instantanés ist ihr erstes autobiografisches Werk. Mit der Vorgehensweise tritt sie in die Fußstapfen der modernen Autobiografen wie z.B. Annie Ernaux, ohne ihre Eindrücke jedoch einem politischen Oberthema zuzuordnen. Wenn sie nur „Cinq Francs“ für Süßigkeiten hat, ihre Freundin aber zehn, bleibt der stärkste Eindruck der Wunsch nach der perfekten Auswahl von Lakritz und süßsauren Bonbons, mündet aber nicht in einem Vergleich der Familien. So erzählt Lucarelli von einer Kindheit in Luxemburg, erzählt die individuell erlebten, typischen Meilensteine im Werdegang eines jungen Mädchens. Sie beschreibt diese Momentaufnahmen, ohne auf den Grund der Dinge gehen zu wollen, sondern um die Erlebnissen als „petite trace écrite“ festzuhalten und mit-teilbar zu machen.