Am 15. Juli verabschiedete sich das Parlament in den Sommerurlaub. Tags darauf reichte DP-Finanzminister Pierre Gramegna Halbjahreskonten der Staatsfinanzen nach. Stolz meldete er in einer Pressemitteilung, „que le Luxembourg est parvenu à renouer avec le rythme de croissance des recettes de l’avant-crise“.
Die Siegesmeldungen aus dem Finanzministerium machen die Wählerinnen hellhörig: Wurde die im Koalitionsabkommen versprochene Steuerreform voreilig abgesagt? Sollen der neue finanzielle Spielraum und die zwei Jahre Zeit bis zu den Wahlen nicht für die Reform genutzt werden? Wo der Finanzminister doch behauptete, die Reform bis zum Ausbruch der Corona-Seuche vorbereitet zu haben.
Herzstück der Reform soll die „Individualisierung“ genannte Abschaffung der Einkommensteuerklassen werden. Um die Individualisierung ist es still geworden. Ihre Anhängerinnen wollen den Regierungsparteien keinen Kummer bereiten.
Bei den Wahlen 1933 hatten die Nazis eine Senkung der Arbeitslosigkeit in Deutschland versprochen. Deshalb erfanden sie 1934 die Steuerklassen. Mit ihnen besteuerten sie Frauen und Juden höher, um sie aus dem Arbeitsmarkt zu drängen. 1941 führten die deutschen Besatzer die Steuerklassen in Luxemburg ein. Nach dem Krieg strich die CSV die Juden aus der Abgabenordnung. Mit Unterstützung von LSAP und DP behielt sie die Steuerklassen für bis 1974 unmündige Ehefrauen und danach bei.
Steuerklasse 2 mit Ehegattensplitting entlastet Haushalte, die von einem einzigen Erwerbseinkommen leben müssen. Die Entlastung bezuschusst die katholische Hausfrauenehe: Der Mann geht das Brot verdienen, die Frau hütet zu Hause die Kinder. Halbiert man die Summe von zwei steuerpflichtigen Einkommen, ist die Steuerersparnis am größten, wenn ein Einkommen gleich null ist. Die Progression der Steuertabelle vergrößert die Ersparnis zusätzlich.
Frauenerwerbstätigkeit ist zur Regel geworden. Während Jahren verlangten linke Frauenorganisationen die Abschaffung der gemeinsamen Veranlagung mit Ehegattensplitting. Denn sie degradiert Frauen zu Zusatzverdienerinnen und hält sie in wirtschaftlicher Abhängigkeit. Dann wurde der Ruf auf der Linken leiser. Frau befürchtet, dass die DP das hehre Prinzip auf Kosten linker Wählerfamilien mit kleinen Einkommen umsetzt.
Nun riefen blaue und grüne Liberale umso lauter nach der Individualisierung. Sie fördern lieber die Steuergerechtigkeit im Ehebett als zwischen Kapital und Arbeit. Jede Frau und jeden Mann als ökonomische Monade mit gleicher Steuerkraft zu behandeln, passt ins liberale Weltbild. Die Unternehmen wollen das weibliche Arbeitskräftereservoir ausschöpfen, um ihre Abhängigkeit von Grenzpendlern und Einwanderern zu verringern.
2017 hatte die Regierung eine Scheinindividualisierung angeboten. Als Vorwand, um Grenzpendler höher zu besteuern. Wie jede Steuerreform verursacht die Abschaffung der Steuerklassen eine Umverteilung. Die Frage lautet nicht, ob die Steuerklassen abgeschafft werden sollen, sondern was an ihre Stelle kommt. Davon hängt ab, wer bei der Umverteilung profitiert und wer verliert. Wer wenig verdient, zahlt wenig Steuern, kann ergo wenig Steuern sparen. Wer viel verdient, leistet sich eine Steuerberaterin.
Für Hausfrauenehen von Selbständigen, Beamten und leitenden Angestellten geht es um Tausende Euro. Viele wählen bisher liberal. DP-Präsidentin Corinne Cahen hatte im November 2018 versprochen, dass bei der Abschaffung der Steuerklassen „keen eppes verléiere“ soll.
Deshalb will die Regierung auf pralle Staatskassen warten. Um jahrelange Übergangszeiten und millionenteure Steuerausfälle zu finanzieren. Sie will kurz vor den Wahlen keine Mobilisierung von Härtefällen wie 1990 gegen die Steuerklasse 1a. Sie will die Reform bis nach den Wahlen aufschieben. Selbst auf das Risiko hin, dass die CSV an die Macht kommt und die Individualisierung absagt.