Mit 28 Jahren übernahm Corinne Cahen die Leitung des elterlichen Schuhgeschäfts. Sie war klassenbewusst: Sie wurde Vorsitzende des hauptstädtischen Geschäftsverbands und Delegierte der Handelskammer. Sie gehört zum Kleinbürgertum. Bürgertum, weil sie, anders als die von ihr entlohnten Verkäuferinnen, den Betrieb besaß. Klein, weil sie selbst in ihrem Betrieb arbeiten musste. Nach einer Säuberungswelle in der Partei wurde sie 2015 DP-Präsidentin. Die großbürgerlichen Parteikollegen summten den Filmschlager: „Mein Mädel ist nur eine Verkäuferin / In einem Schuhgeschäft...“
In der Wirtschaft geht es vordemokratisch zu: In ihrem Laden ist eine Geschäftsfrau Königin. Die Angestellten sind ihre Untertanen. Rechenschaftspflicht ist ihr fremd. Vergangene Woche verlangte die Opposition zum zweiten Mal den Rücktritt von Ministerin Corinne Cahen. Trotzig blieb sie den Abgeordneten eine Antwort schuldig. In ihrem Laden hat ihr niemand hineinzureden.
Corinne Cahen war 2013 ins Parlament gewählt worden. Als Touristin mit der Sonnenbrille im Haar schoss sie Handyfotos im Plenum. Dann kam sie nach drei Wochen in die Regierung. Drei Wochen waren zu knapp, um sich ein Bild vom Parlament zu machen.
Ihr wurde das Familienministerium unterstellt. Sie dachte, es sei das Mittelstandsministerium. Sie kürzte das Kindergeld für kinderreiche Arbeiterinnen und erhöhte den Elternurlaub für Mittelschichten. Mit dem Revis gab sie den Armen die Schuld an ihrer Not. Während der Covid-Seuche schützte sie die Gewerbefreiheit der Alters- und Pflegeheime.
Alters- und Pflegeheime sind Firmen und Vereine, die Rentnern Zimmer vermieten und Verpflegung verkaufen. Nach dem liberalen ASFT-Gesetz von CSV und LSAP erteilte die Familienministerin Zulassungen. Sie mischte sich nicht in die Geschäfte ein. Sie verlangte nicht, alle Angestellten und Besucher auf Covid zu testen. Sie verlangte keine Impfpflicht für die Betreuer, wie sie bis 1977 landesweit gegen Pocken galt. Sie ließ zu, dass statt der Putzfrauen die Buchhalter geimpft wurden. Manchmal ließ sie der Heim-Lobby unverbindliche Empfehlungen zukommen, als „notes blanches“ wie ein Geheimdienst. Nach der ersten Ansteckungswelle verzichtete sie auf einen Krisenplan für die nächsten.
Manche Entscheidungen traf die Regierung „en conseil“. Doch außer LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert wollte vorige Woche niemand mit Corinne Cahen gesehen werden.
Rund 350 mit Covid infizierte Bewohner von Alters- und Pflegeheimen sind gestorben. Mit raschen und energischen Schutzvorkehrungen könnten vielleicht fünfzig oder mehr noch am Leben sein. Fünfzig unnötige Tote sind Nitroglyzerin. Falsch gehandhabt, können sie eine politische Krise auslösen wie ein toll gewordener Geheimdienst. Das wollte vorige Woche nicht einmal der CSV-Abgeordnete Michel Wolter.
Die Parteien einigten sich darauf, Jeannot Waringo mit der Entschärfung des Sprengsatzes zu beauftragen. Jeannot Waringo war 31 Jahre lang Direktor der Finanzinspektion unter vier Finanzministern. Die Finanzinspektion bremst die Staatsausgaben gegen die Ausgabenpläne der Minister. Sie versteht sich als Hüterin der Staatsräson.
Jeannot Waringo lobt am liebsten seine Bescheidenheit. Für seinen Bericht sprach er nur mit seinesgleichen. Er fragte nicht die Heimbewohner, die Pflegerinnen und Putzfrauen. Er machte Benchmarking. Er verlangte „indicateurs de performances“ (S. 8). Die Technokraten behalten immer recht. In seiner entscheidenden Tabelle der Todesfälle fehlt der Monat Juni 2020, die horizontalen und vertikalen Summen sind nicht gleich (S. 19). Corinne Cahen gelobte, sich zu bessern. Wenn die mittelständische Familienministerin nächstes Mal den Heimen wieder verspricht: „Chaque gestionnaire est libre de prendre ses responsabilités et les mesures qui s’imposent“, dann auf amtlichem Briefpapier.