Theater

Amputation

d'Lëtzebuerger Land vom 17.01.2020

Was hat man nicht schon geschimpft über den freizügigen Umgang mit Dramentexten im deutschsprachigen Theater! Doch wo die Kürzungs- und Umschreibwut eines Castorf oder Thalheimer sich auf klassische Stoffe bezieht, hat Sandra Reit-
mayer ein überaus rezentes Stück zurechtgestutzt. Vor knapp einem Jahr wurde Rebekka Kricheldorfs Intervention am Staatstheater Kassel uraufgeführt, nun erscheint es im Kasemattentheater in neuem Gewand.

In seiner Originalfassung dreht sich das Stück, vereinfacht gesagt, um drei Frauen, die für eine vierte eine Intervention organisieren. Sie unterstellen ihr ein Alkoholproblem und möchten sie erst zur Selbsterkenntnis zwingen, dann in eine Entzugsklinik einweisen. Wie sich im Laufe des Abends herausstellt, ist allerdings jede von ihnen süchtig nach irgendetwas und dringend therapiebedürftig. Zu dem naturalistischen Frauenensemble gesellt sich bei Kricheldorf eine allegorische Figur, die Droge selbst, die mit Kommentaren und Aktionen in das Bühnengeschehen eingreift.

Am Kasemattentheater hat man die Figur der Droge praktisch gestrichen und auf eine Stimme vom Band reduziert, die den Prolog und Epilog spricht. Die Gründe dafür lassen sich in der Inszenierung selbst nicht finden. Übrig bleibt jedenfalls der Rumpf eines bürgerlichen Dramas aus dem 19. Jahrhundert – mit Lebenslügen, Geständnisszenen und allem, was dazu gehört. Darüber hinaus ist aus Tante Marlene Onkel Akasha geworden und die reine Frauenrunde somit aufgehoben, allerdings wiederum ohne erkennbaren Gewinn. Angesichts von Raoul Schlechters androgynem Spiel wäre ein Cross-Dressing durchaus vorstellbar und wohl auch konsequenter, als auf der Übereinstimmung von Schauspieler- und Figurengeschlecht zu beharren.

Intervention beginnt recht fulminant: Erst wird die Nebelmaschine angeworfen, dann wabert und zirpt es aus den Lautsprechern und vier in pinke Ganzkörperanzüge gekleidete Figuren betreten die Bühne. Eine trägt einen Hut aus überlangem Lametta, eine eine Drehscheibe mit einer Spirale darauf, eine ein amorphes Gestell aus Schläuchen, neonfarbenen Fäden und Kabelbindern, und eine eine lebensgroße Puppe, die sich um sie herumschlängelt. Während die Droge sich im Off als unumgänglicher und sich ständig wandelnder Begleiter und Katalysator menschlicher Kultur beschreibt, vollführen die vier unter Schwarzlicht seltsame Tänze und Rituale. Dann geht das Licht an, ein schachbrettgemustertes Interieur wird sichtbar, und die pflichtbewusste Hausfrau und Mutter Annika (Eli Johannesdottir) macht nach so viel Rausch und Ekstase erstmal sauber. Es ist, in der gefürchteten Kategorie der Regieeinfälle, der beste Moment des Abends.

Was folgt, ist ein pointiertes, aber vorhersehbares Krisenbewältigungsdrama. Annika macht sich Sorgen um ihre Freundin Lily (Eugénie Anselin), eine lebenslustige Kanzleiassistentin mit Hang zum Filmriss, und hat deshalb ihre alte Weggefährtin Frans (Anouk Wagener), eine Bobo-Lyrikerin, und ihren Onkel Akasha, einen Indien-Aussteiger, rekrutiert. Bald sind alle auf der Bühne und die Rollen klar verteilt: Lily steht zu ihrer Ambitionslosigkeit und möchte einfach nur Spaß haben; der „happy Hippie“ Akasha schafft es nur dank Joint und Rotwein, tagein tagaus handgemachten Schmuck an Touristen zu verkaufen. Frans möchte sich als Künstler ein gesellschaftliches Recht auf Depression herausnehmen, vermag jedoch nicht viel mehr als Gerundive aneinanderzureihen. Annika kommt nur dank Schlaftabletten durch die Nacht und hat ihre Karriere als Meeresbiologin Mann und Kind geopfert.

Über ihre pinken Overalls haben sich die Schauspieler/innen schon bald schwarzweiße Kleider gestreift. Im minimalistischen Dekor der Schachbrettbühne wirken sie wie Akteure einer Robert-Wilson-Inszenierung, die verzweifelt versuchen, Ibsen historisch getreu aufzuführen. Immerhin, das Ensemble trägt das Stück bis zum Ende: Anselin als quirrliges Energiebündel, Wagener als betont abgebrühter Möchtegern-Poet mit zerzausten Haaren, Schlechter als allzu gutmütiger Hippie-Onkel und Johannesdottir als dauerbesorgte, wenn auch manchmal etwas arg larmoyante Übermutter. Bühne, Kostüme und Schauspieler/innen sind durchaus sehenswert; ob diese Produktion mit der herausoperierten allegorischen Figur mehr als konventionelle bürgerliche Selbstbespiegelung wäre, bleibt offen.

Intervention von Rebekka Kricheldorf; Regie: Sandra Reitmayer; mit Eugénie Anselin, Eli Johannesdottir, Raoul Schlechter, Anouk Wagener. Die Premiere war am 13. Januar im Kasemattentheater. Weitere Aufführungen: 17., 27., 28., 29. Januar, jeweils um
20 Uhr in Bonneweg, sowie am 18. März im Opderschmelz in Düdelingen; kasemattentheater.lu.

Jeff Thoss
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