Arzneimittel wirken in geringsten Mengen, sind meist gut wasserlöslich und lange haltbar. Pech für die Umwelt?

Fische brauchen keine Pille

d'Lëtzebuerger Land vom 17.03.2011

Für jedes gelöste Problem handelt man sich ein paar neue ein. Nicht zuletzt dank der modernen Medizin werden die Menschen immer älter und die Schweine schneller fett. Deshalb werden auch immer mehr Medikamente verbraucht. Oft haben die hilfreichen Mittel jedoch eine Nebenwirkung: Sie landen dort, wo sie nicht hingehören – im Wasser. Kläranlagen sind überfordert und Wissenschaftler machen sich Sorgen über mögliche Folgen des Wirkstoff-Cocktails.

In den USA wurde 1976 im Ablauf einer Kläranlage erstmals Clofibrat gefunden, ein Lipidsenker, dessen Verbrauch sich durch gesünderes Essen durchaus verringern ließe. In Berlin tauchte dieser Stoff 1993 sogar im Trinkwasser auf. Seither stoßen Forscher mit verbesserten Analysemethoden immer öfter auf Arzneimittelrückstände.

Die Pharmaindustrie produziert in Europa rund ein Viertel aller Chemikalien. Davon gelangt ein beträchtlicher Teil ins Wasser: über Urin, Fäkalien, Gülle, marode Abflussrohre oder falsche Entsorgung. Manche Wirkstoffe sind biologisch gut abbaubar, etwa die in rauen Mengen verbrauchte Acetylsalicylsäure aus Kopfwehtabletten. Andere Arzneien überstehen nicht nur die Magensäure von Patien­ten unbehelligt, sondern sind auch in der Umwelt lange haltbar. Die großen Flüsse verfrachten mittlerweile mehr Medikamente als Pestizide oder Schwermetalle. Der Main beispielsweise transportiert im Jahr rund eine Tonne Röntgenkontrastmittel und 300 Kilo des Antiepileptikums Carbamazepin, aber „nur“ 100 Kilo des Pflanzenschutzmittels Diuron.

Bei über 13 000 Messungen in der ganzen Schweiz fand das von 2006 bis 2010 laufende Forschungsprojekt MicroPoll zum Teil Rückstände im Nano- und Mikrogramm-Bereich. Das sind sehr kleine Mengen – zu klein, um direkte Auswirkungen auf Menschen zu haben. Von dem Schmerzmittel Diclofenac etwa stecken in einer Tablette 25 bis 750 Milligramm. In Gewässern wurden bisher bis zu ein Mikrogramm pro Liter nachgewiesen. Man müsste also 25 000 Liter unaufbereitetes Wasser auf einmal trinken, um auf die Dosierung einer einzigen Tablette zu kommen.

Homöopathen, die an die Wirkung extrem verdünnter Arzneien glauben, beruhigt diese Rechnung nicht. Wissenschaftler allerdings auch nicht, denn in Indien, wo „Himmelsbestattungen“ üblich sind, wird Diclo­fenac für das Aussterben von Geiern verantwortlich gemacht. Was passiert mit Forellen, die den ganzen Tag in einer Arznei-Brühe schwimmen? Dass die Grenzwerte für Menschen weit unterschritten werden, bedeutet nicht, dass auch Wasserlebewesen schwach dosierte Dauermedikation ertragen. Synthetische Hormone aus Verhütungsmitteln lassen männliche Fische verweiblichen. Antibiotika könnten resistente Bakterien züchten. Vor allem ist unbekannt, was die rund 3 000 Pharma-Wirkstoffe und ihre vielleicht noch bedenklicheren Abbauprodukte langfristig anrichten, wenn sie sich vermischen.

Herkömmliche Kläranlagen filtern vor allem Waschmittel-Phosphor und andere Nährstoffe aus dem Abwasser. Spurenstoffe aus Medikamenten, Kosmetika oder Pestiziden und Nanopartikel aus Fassadenfarben oder Sonnenschutzmitteln gehen meist einfach durch, selbst wenn das Wasser im Abfluss klar aussieht. Oder sie lagern sich im Klärschlamm ab, der dann womöglich auf Feldern verstreut wird. Der Wasser-Branche wird zunehmend mulmig; für die „Deutschen Klärschlammtage“ Ende März in Fulda sind mehrere Referate zur Entsorgung angekündigt.

Vielerorts wird bereits die Wasserreinigung verbessert. In Baden-Württemberg bekommen zum Beispiel Kläranlagen an Bodensee-Zuflüssen für 7,5 Millionen Euro zusätzliche Aktivkohle-Reinigungsstufen, die immerhin einen Teil der Spurenstoffe filtern können. Pro Einwohner entstehen dabei im Jahr Mehrkosten von sechs bis zehn Euro. In der Schweiz werden rund 100 Kläranlagen aufgerüstet, die etwa die Hälfte aller Abwässer reinigen. Die Investitionen dafür werden auf 1,2 Milliarden Franken geschätzt, die zusätzlichen Betriebskosten auf jährlich 130 Millionen Franken – ein Anstieg um sechs Prozent gegenüber heute. Dieses Frühjahr wird das Berner Parlament beraten, wo das Geld herkommen soll: höhere Abwassergebühren oder Zuschläge auf Medikamente?

Wie besonders belastete Abwässer von Krankenhäusern gereinigt werden können, untersucht derzeit das EU-Projekt Pills. An verschiedenen Kliniken werden außer Aktivkohle auch Membran-Filter, Ozonierung und UV-Bestrahlung getestet. Das Luxemburger Forschungszentrum Henri Tudor beteiligt sich noch bis Ende Juni mit einer Pilotanlage am Centre Hospitalier Emile Mayrisch in Esch-sur-Alzette. „Neben der Reinigungseffizienz einzelner Verfahren sind wir auch an deren Energieverbrauch und weiteren Betriebsparametern interessiert“, erläutert Kai Klepiszewski: „Die Auswertung wird Hinweise darauf geben, unter welchen Umständen eine dezentrale Reinigung an der Quelle einer zentralen Reinigung auf kommunalen Kläranlagen vorzuziehen ist.“

Für Sebastian Schönauer vom deutschen Bund für Umwelt und Naturschutz sind Kläranlagen der falsche Ansatzpunkt: „Die nachträgliche Entfernung aus dem Wasser ist reiner politischer Aktionismus.“ Statt Milliarden für „nutzlose Symptombekämpfung“ zu verpulvern, solle man besser „die Flut der chemischen Schadstoffe stoppen“. Er verweist darauf, dass Pharmahersteller bisher vom Chemikalienrecht und den Abwasservorschriften ausgenommen sind, sie müssen nicht einmal die Produktionsmengen offenlegen. Seit 2006 ist zwar für neue Medikamente eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgeschrieben, die Zulassung kann deshalb aber nicht verweigert werden.

Der Umweltchemiker Klaus Kümmerer, der an der Uniklinik Freiburg an „grünen“ Medikamenten forschte und jetzt an der Uni Lüneburg lehrt, berichtet von ersten Erfolgen: „Wirkstoffe können so entwickelt werden, dass sie zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Zweck stabil sind und dann spätestens in der Kläranlage wieder vollständig abgebaut werden.“ In Schweden gibt es seit 2004 ein Umweltlabel für ökologisch verträgliche Medikamente.

Am besten und billigsten wäre natürlich, wenn Pharmaka gar nicht erst im Wasser landen würden. Ungenutzte Medikamente, egal ob Tabletten oder Flüssigkeiten, gehören grundsätzlich nicht in die Toilette oder Spüle. Arzneifläschchen sollten auch nicht ausgewaschen werden. Besonders Zytostatika, die zur Bekämpfung von Tumoren eingesetzten Zellgifte, sind gefährlicher Sondermüll. Medikamente für die Dritte Welt zu spenden, ist gut gemeint, wird aber von Hilfsorganisationen meist abgelehnt, da nicht praktikabel. Beispielsweise benötigen sie eher Malariamittel als Blutfettsenker.

In Luxemburg stieg die Menge der korrekt bei Apotheken und Superdreckskëscht abgegebenen Arzneimittel von 47 Tonnen im Jahr 1994 auf knapp 99 Tonnen im Jahr 2009. Trotzdem berechnete die Umweltverwaltung, dass im vergangenen Jahr 556 Tonnen Medikamente via Hausmüll entsorgt wurden und darin mehr als 43 Prozent der „Problemstoffe“ ausmachten. Im Restmüll können zum Beispiel die bunten Betablocker spielenden Kindern in die Hände fallen. Dass solche Berge von Arzneimitteln weggeschmissen werden, lässt vermuten, dass viele überhaupt nicht gebraucht werden. Manche Probleme könnte man sich vielleicht ganz einfach sparen.

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Martin Ebner
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