Gesundheitsreform

Mikadospiel

d'Lëtzebuerger Land vom 18.03.2010

Kommenden Mittwoch ist Krankenkassen-Quadripartite – und schon lange gab es um die Runde aus Regierung, Sozialpartnern und Gesundheitsdienstleistern nicht so viel Spannung wie diesmal.

Das liegt daran, dass nach der Herbst-Quadripartite Anfang Oktober ein aufgeräumter Mars Di Bartolomeo aus dem Verhandlungssaal in der Handelskammer getreten war und gerufen hatte: „Jetzt kommt die Systemreform!“ Ab Anfang 2010 sollte in fünfzehn Arbeitsgruppen besprochen werden, in welchen Punkten das Krankenversicherungsgesetz und das Krankenhausgesetz geändert würden. Die Frühjahrs-Quadripartite sollte die Reformideen diskutieren, die dann bis Ostern in Gesetzentwürfe gegossen werden sollten, um möglichst noch vor Ende dieses Jahres vom Parlament verabschiedet zu werden.

Allerdings wird die Quadripartite nächste Woche nicht über ein fertiges Reformpapier befinden. Besser gesagt: womöglich nicht. Diskutiert werden stattdessen die Abschlussberichte der Arbeitsgruppen, deren Zahl mit der Zeit von fünfzehn auf sechs schrumpfte – so viel ist klar. Fragt sich nur, ob der Minister anschließend umständlich zu klären versucht, welche gemeinsamen Nenner es in der Quadripartite zu den Reformpisten in den sechs Berichten gibt, und daraus einen Gesamtansatz destillieren lässt. Oder ob er die Runde überrascht und die Entwürfe seiner Beamten auf den Tisch legt, die bereits geschrieben sind. Ob er das tun wird, soll sich am Montag entscheiden, heißt es aus dem engeren Umfeld des Ministers. Täte er es, müsste Mars Di Bartolomeo in den Kampf ziehen.

Denn was im Oktober vergangenen Jahres zu diskutieren beschlossen wurde, ist nicht gerade neu. Es ist auch keine Hervorbringung der Quadripartite, sondern steht sinngemäß im Regierungsprogramm. Etwa, dass endlich nachvollziehbar und computerbasiert dokumentiert wird, was im Gesundheitssystem geleistet wird. Dass die Kontrolle verstärkt werden soll. Oder auch, dass ein Weg gefunden werden müsse, um im Klinikbereich die Ärzte, obwohl ihnen Therapiefreiheit garantiert ist, an die Politik anzuschließen, die das jeweilige Spital für Qualitätssicherung, Risiko- und Effizienzmanagement verfolgt. Dass die Krankenhäuser untereinander interoperabel informatisiert werden und digitale Patientenakten eingerichtet werden müssten. Dass die Spitäler zu Arbeitsteilung und Spezialisierung übergehen sollen.

Es überrascht nicht, dass auffällig viele dieser Vorhaben das Klinikwesen betreffen: Der Großteil der Gesundheitsversorgung findet hierzulande in Krankenhäusern statt, und mit einem Anteil von fast 60 Prozent sind sie der mit Abstand größte Kostenfaktor für die Krankenversicherung.

Bereits in der vorigen Legislaturperiode vergingen mehrere Quadripartite-Sitzungen mit Betrachtungen zum Kliniksektor und gut gemeinten Appellen des Ministers, gemeinsam eine Politik des „Soigner mieux en dépensant mieux“ zu verfolgen. Geholfen hat es wenig, und es sieht so aus, als sei zumindest in zwei entscheidenen Hinsichten die Diskus-sion im huis clos der Arbeitsgruppen nicht vom Fleck gekommen: Die Entente des hôpitaux luxembourgeois (EHL) übermittelte Di Bartolomeo am Montag einen eigenen Katalog an Vorschlägen. Er enthält einen Punkt, der nicht proposition, sondern revendication genannt wird. Die EHL verlangt „de manière urgente un texte légal claire duquel pourront se décliner les relations contractuelles des hôpitaux avec les médecins“.

Daraus lässt sich nur folgern, dass der Ärzteverband AMMD in den Arbeitsgruppen-Diskussionen mit Erfolg die Rolle des Mediziners verteidigt hat, der auch im Krankenhaus letztlich nur seinem Patienten Rechenschaft schuldet. Das ist der erste entscheidende Punkt. Noch übersteigt kein rechtlich bindender Text den mit Minister-Erlass in Kraft gesetzten ärztlichen Deontologie-Kodex, der in Artikel 7 festlegt: „Le médecin ne peut aliéner son indépendance professionnelle sous quelque forme que ce soit.“ Wollte Di Bartolomeo diese, von ihm selbst im Juli 2005 erneut bestätigte Regel in irgendeiner Weise einschränken, düfte ihm massiver Widerstand aus der Ärzteschaft sicher sein.

Freilich sind, so lange nicht klar ist, wie Klinikärzte an Effizienzanstrengungen ihres Hauses gebunden werden können, Forderungen zur Kostensenkung der Spitäler zum Teil absurd. Vor Weihnachten forderte die Gesundheitskasse die Klinikdirektionen auf, zur Prävention neuer Defizite im CNS-Budget ihre variablen Kosten um 2,6 Prozent zu senken. „Variabel“ sind in Spitälern die Betriebskosten von Kostenstellen wie dem OP-Trakt oder der radiologischen Abteilung, aber auch der Verbrauch an Medikamenten oder Implantaten. Zu versuchen, beim Einkauf Letzterer bessere Preise zu erzielen, ist der im Grunde einzige Weg, der einem Klinikmanagement zur Senkung der variablen Kosten bleibt. Denn welche Medikamente verschrieben, welche Röntgendiagnosen vorgenommen werden, entscheidet der mit Therapiefreiheit agierende Arzt.

Bei dem Versuch, den Spitaldirektionen beim pilotage ihrer Häuser zu mehr Einfluss auf die Entscheidungen ihrer Ärzte zu verhelfen, ist es für den Krankenhaus-Dachverband politisch jedoch von Nachteil, dass die fünf Allgemeinkrankenhäuser im Lande nach wie vor nach einer Konkurrenzlogik funktionieren, die sich vor allem unter den drei Spitälern in der Hauptstadt äußert. Das ist der zweite kritische Punkt in den Reformverhandlungen.

So kann die EHL in ihrem Papier nicht einen konkreten Vorschlag zu einer Arbeitsteilung zwischen den Spitälern machen, geschweige berichten, dass eines bereit wäre, bestimmte Aktivitäten aufzugeben, damit der Nachbar sie übernimmt. Dass nicht einmal das Nächstliegende unternommen wird, zeigt sich daran, dass es auch fast drei Jahre nach der „Terzis-Krise“ im CHL zu keiner Entscheidung über eine Neuausrichtung der Neurochirurgie gekommen ist und in allen drei Hauptstadt-Spitälern Operationen am Schädelinnern durchgeführt werden.

Diese Situation trennen Welten von der im Regierungsprogramm skizzierten, in der eine „structure fédérative des hôpitaux“ es erlauben soll, die Entwicklung hin zu Spezialisierung und Kompetenzzentren zu steuern und unter den fünf Spitälern mit ihren 2 400 Betten, die gerade der Größe einer Universitätsklinik im Ausland entsprechen, tatsächlich „excellences universitaires“ zu entwickeln. Aus sich selbst heraus kann die EHL lediglich die Bildung eines Groupement d’intérêt économique für eine gemeinsame Laborstruktur sowie ein „sektorielles Informatikzentrum“ der Spitäler vorschlagen.

Bei einer Begegnung mit Klinikdirektoren vor zwei Wochen meinte der Minister, er könne sich vorstellen, allen Krankenhäusern ein gemeinsames Budget zu geben. Ob er sie fusionieren würde, sagte er nicht. Deshalb ist es sehr ungewiss, ob er tatsächlich sowohl den Konflikt mit der Ärzteschaft suchen und in einem neuen Krankenhausgesetz das Verhältnis von Klinikarzt und Klinikdirektion von oben regeln könnte, als auch die Auseinandersetzung mit Klinik-Lobbies eingeht und Arbeitsteilungen vorschreibt. Scheut er davor zurück, dürfte am Mittwoch nach einer Lösung gesucht werden, die allen Beteiligten ein Opfer abverlangt und das System noch einmal so, wie es ist, über die Runden rettet.

Zumal sich für den Minister im kostenträchtigen Kliniksektor noch ein Minenfeld auftun könnte: Bis zu 80 Prozent der Klinikkosten sind die für das Pflegepersonal mit parastaatlichem Statut. Da die Regierung vor drei Wochen beschlossen hat, die Krankenpfleger-Basisausbildung auf vier Jahre zu verlängern und mit einem Brevet de technicien supérieur statt einem Bac+1-Diplom eines technischen Lyzeums abschließen zu lassen, wird der Minister OGB-L und LCGB dazu bewegen müssen, sich mit Forderungen nach einer Laufbahnaufwertung aller Krankenpfleger noch eine Weile zurückzuhalten. Denn andernfalls dürfte der Ärzteverband schon aus rein sportlichem Interesse Honorarerhöhungen für die Mediziner verlangen.

Vielleicht wäre die Reformdynamik in Luxemburg eine andere, würde auf EU-Niveau noch über eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung verhandelt. Die Debatte hatte 2009 ihren Höhepunkt erreicht und sowohl das Regierungsprogramm als auch die Herbst-Quadripartite beeinflusst. Denn sie sah vor allem eins vor: EU-weite Preistransparenz für jede Art von Gesundheitsdienstleistung. Für Luxemburg hätte das bedeutet, innerhalb von ein paar Jahren zur Vollkosten-Betrachtung überzugehen, wo heute vor allem im Spitalwesen noch Intransparenz herrscht. Politischen Fragen um Klinikmanagement und Spezialisierungen hätte ebenso wenig ausgewichen werden können wie der, inwiefern Luxemburg tatsächlich Wettbewerbsnachteile durch seine hohen Personalkosten entstehen. Ende vergangenen Jahres aber fiel der Richtlinienentwurf im EU-Gesundheitsministerrat durch und liegt seitdem auf Eis. Und die zypriotische Gesundheitskommissarin, die sich stark für ihn machte, ist nicht mehr im Amt.

Doch auch unter dem Eindruck der anhaltenden Beschäftigungskrise, die zum Einbruch der Einnahmen bei der Gesundheitskasse geführt hat, standen die Diskussionen in den Arbeitsgruppen nicht wirklich. Weder spielten Szenarien eine Rolle, nach denen der Beschäftigungszuwachs jahrelang niedriger bleiben könnte als in den vergangenen zwei Jahrzehnten, noch solche über längerfristige Ausgabenzuwächse durch eine statistisch allmählich immer mehr alternde einheimische Bevölkerung. Am Mittwoch wird man wissen, ob den Reformgesprächen letzten Endes einfach das Ziel fehlte. Und ob sie einem Mikadospiel glichen, bei dem jeder den Griff nach einem Stäbchen scheute, um bloß das Spiel nicht zu verlieren.

Peter Feist
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