Index hier, Lohndumping dort, der Unterschied zum Haupthandelspartner wird immer größer

Drei Schritte zur Annäherung des Lohnniveaus

d'Lëtzebuerger Land du 24.02.2012

„Wir können nicht so weitermachen wie in den vergangenen 20 Jahren, wenn andere Länder Lohnmäßigung betreiben“, meinte Jean-Claude Juncker am Freitag nach der Kabinettsitzung. Er sei zwar „kein großer Anhänger der deutschen Lohnpolitik“, die zu exportorientiert sei auf Kosten der Binnennachfrage, aber „wir müssen Abstand nehmen von der rasanten Entwicklung der vergangenen Jahre“.

Nach einer mehr als halbjährigen Pause hatte sich der Premier der Presse gestellt, um die Konturen einer nationalen Einkommenspolitik schärfer zu umreißen, mit denen CSV und LSAP das Lohnniveau schrittweise dem deutschen annähern wollen – und zu betonen, dass sich die Regierung, der Finanzminister und die LSAP darin einig seien.

Der Unternehmerdachverband UEL hatte schon vor zwei Jahren in seiner Schrift Comment sortir ensemble de la [-]crise, die knappe Forderung aufgestellt: „Réduire le coût salarial unitaire au niveau de celui de l’Allemagne“. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, seien nicht nur eine Erhöhung und Flexbilisierung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich notwendig, sondern vor allem „une vraie politique de réduction et de moderation salariale sur le modèle des efforts qu’ont consentis les salariés allemands au cours des dix dernières années (de ce point de vue, la modulation de l’indexation est impérative)“.

In Deutschland schuf seit 1998 eine Koalition von Sozialdemokraten und Grünen mit einer Flexibilisierung des Arbeitsrechts, Kürzungen der Arbeitslosenhilfe und der Schaffung von „Mini-Jobs“ die Bedingungen für den niedrigsten Lohnanstieg aller OECD-Länder. Unter Berücksichtigung der Inflation wurden die Löhne zwischen 2000 und 2009 sogar real um 4,5 Prozent verringert. Durch diese „désinflation compétitive“ wurden die Gestehungspreise der Exportwirtschaft gesenkt, die für den Absatz ihrer Produkte nicht auf die Massenkaufkraft im Inland angewiesen ist.

Der deutsche Merkantilismus geht aber auch auf Kosten der anderen EU-Staaten, wie die damalige Finanzministerin und heutige Direktorin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, im März 2010 in einem Interview mit der Financial Times klagte: „Clearly Germany has done an awfully good job in the last 10 years or so, improving competitiveness, putting very high pressure on its labour costs. When you look at unit labour costs to Germany, they have done a tremendous job in that respect. I’m not sure it is a sustainable model for the long term and for the whole of the group. Clearly we need better convergence.”

Für die Luxemburger Volkswirtschaft ist dies problematisch, weil laut Statec 29 Prozent der Luxemburger Exporte nach Deutschland gehen und 29 Prozent der Direktimporte aus Deutschland kommen. Vor einer Verteuerung der Luxemburger Produkte durch höhere Lohnstückkosten warnt deshalb die UEL in ihrem im November 2011 erschienenen Annuaire de la compétitivité: „En 10 ans, les coûts sala[-]riaux unitaires nominaux ont augmenté de 31,5% au Luxembourg alors que cette augmentation n’a été que de 16,8% pour la moyenne des trois pays voisins et seulement de 6,0% pour l’Allemagne, augmentant d’autant le coût de production par unité de produit national brut pro[-]duite en comparaison à celui de nos voisins.“ Die Folge sei: „L’écart cumulé avec l’Allemagne (1er partenaire commercial) est de 25,5 points de pourcentage en une décennie.“

Die Regierung ist schon gewillt, diese unter besonderen historischen Bedingungen in Deutschland forcierte Diskrepanz zu verringern, auch wenn sie es sich derzeit politisch nicht vorstellen kann, sie restlos zu beseitigen. „Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit nicht durch Lohndumping gewährleisten“, beteuerte der Premier am Freitag. „Wir müssen bei der Lohnfestsetzung vernünftig sein, ohne Lohndumping zu betreiben.“

Nicht ohne Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten versuchen Regierung und Sozialpartner seit einigen Jahren, die Tripartite und den Indexmechanismus unter dem Druck der Wirtschaftskrise und europäischer Konvergenzkriterien in ein Instrument nationaler Einkommenspolitik umzuwandeln. Dabei bedient sich die Regierung vor allem dreier Mittel zur Annäherung des Lohnniveaus an das deutsche: des Index, des Mindestlohns und der Gehälter im öffentlichen Dienst. Auch wenn politische Kompromisse sie dabei meist zwingen, ihr Ziel nur auf Umwegen zu erreichen.

Das gilt für die im CSV-Wahlprogramm angekündigte Senkung der „Anfangsgehälter für Neuanfänger bei Staat und Gemeinden“. So soll die unter anderem durch höhere Gehälter verursachte Abwerbung von Handwerkern und Angestellten aus der Privatwirtschaft beendet werden, so dass letztere ihr Lohn[-]niveau wieder senken kann. Herausgekommen ist bei den im Juli vergangenen Jahres abgeschlossenen Gehälterverhandlungen eine 20-prozentige Kürzung der Praktikantenentschädigung vor der Verbeamtung. So dass beispielsweise ein angehender Busfahrer im öffentlichen Dienst gerade zwei Gehaltspunkte mehr als der gesetzliche Mindestlohn bekommen soll, was private Busunternehmer ermutigen kann, ihre Anfangsgehälter ebenfalls zu senken.

Eine der wichtigsten Ursachen für den wachsenden Unterschied zwischen dem Lohnniveau in Luxemburg und Deutschland ist die gesetzliche Anpassung der Löhne an den Index der Preisentwicklung. Währen der Index die Löhne trotz wiederholter Manipulationen zu einem großen Teil vor der Inflation schützte, lag die Lohnentwicklung in Deutschland sogar unter der Inflationsrate.

Deshalb wurden soeben die Indexanpassungen bis zum Ende der Legislaturperiode auf 2,5 Prozent pro Jahr beschränkt und will die Regierung nun „Gespräche mit den Sozialpartnern führen, um die Alkohol- und Tabakpreise aus dem Index-Warenkorb zu entfernen sowie die Erdölpreise ab einer bestimmten Steigerung zu neutralisieren“, so Premier Jean-Claude Juncker am Freitag. Er hatte bereits am 16. Dezember angekündigt, dass die Regierung im März Vorschläge machen werde, wo unter anderem die Preisschwelle liegen soll, ab der eine Erdölverteuerung nicht mehr im Index berücksichtigt wird.

Weil aber die LSAP auf Druck der Gewerkschaften bis zum Ende der Legislaturperiode Änderungen im Indexwarenkorb zusätzlich zu der nun verfügten Verschiebung der Tranchen ablehnt, musste Juncker am Freitag gewunden zugeben, dass er den Sozialisten nachgibt und eine Gesetzesänderung vor den Wahlen „nicht nötig“ sei. Denn auch wenn die Regierung nächsten Monat „Vorschläge zur Nivellierung der Erdölpreise macht“, würden sie durch die bereits beschlossene Indexmanipulation sowieso „kurzfristig keinen Einfluss haben“. Denn es „geschieht nichts anderes, als dass jeweils zum 1. Oktober eine Index-Tranche fällig wird“.

Ein dritter Ansatz der Regierung, um den Unternehmerforderungen nach einer Senkung des Lohnniveaus nachzukommen, ist der Mindestlohn. CSV-Finanzminister Luc Frieden hatte während der Journée de l’ingénieur am 4. Februar festgestellt, dass der Mindestlohn in Luxemburg viel höher sei als in den Nachbarländern: „Le problème est que nous sommes dans une situa[-]tion de concurrence et que nous devons trouver des emplois pour les jeunes non qualifiés. Et c’est dans ce contexte-là que tous ces débats sur les salaires minima en Europe doivent aussi être menés. Est-ce que ces salaires sont nécessaires pour vivre ? Oui. Est-ce que ces salaires permettent de créer des emplois pour les jeunes non qualifiés pour l’avenir ? Est-ce que ces salaires sont appropriés pour attirer vers le Luxembourg de nouvelles industries ? Ce sont là les questions que nous devons nous poser. Et peut-être alors les réponses seront différentes.”

Jean-Claude Juncker wollte zwar am Freitag „dem Eindruck entgegentreten, als ob es grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten in der Regierung über den gesetzlichen Mindestlohn gäbe“. Aber er widersprach dann gleich seinem Finanzminister, dass man „keine Reindustrialisierung des Landes durch eine Senkung des Mindestlohns fördern“ soll, das sei „keine adäquate Antwort auf krisenhafte Erscheinungen“. Um nicht vor seinen Wählern als Hilfskraft der Großkonzerne da zu stehen, sah er auch lieber „die Probleme der kleinen Betriebe“. Obwohl die mittelständischen Betriebe vor allem die lokale Nachfrage bedienen und weit weniger dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind.

Da der Mindestlohn für unqualifizierte Jugendliche nicht ihrer Produktivität entspreche, die Lebenshaltungskosten aber höher als in den Nachbarländern seien, kündigte Juncker noch einmal an, was er bereits am 16. Dezember versprochen hatte: dass der Staat den Betrieben einen Teil der Mindestlohnkosten erstattet. Das geschieht vor allem mit Blick auf die zum Jahresende fällige Anpassung des Mindestlohns an die allgemeine Lohnentwicklung. Denn seit der Staat die vor einem Jahr erfolgte Mindestlohnanpassung durch eine Spende in die Unternehmer-Mutualität kompensierte, scheint es politisch kaum mehr durchsetzbar, dass eine gesetzliche Mindestlohnanpassung von den Unternehmen getragen wird.

Bedingungen für die Zuschüsse sollen laut Premier sein: dass sie zugunsten von unqualifizierten, beim Arbeitsamt eingeschriebenen jugendlichen Arbeitslosen erfolgen, im Rahmen eines nationalen Abkommens über die Einstellung „von Hunderten, von Tausenden“ gezahlt werden, und die Jugendlichen eine tatsächliche, überprüfbare Chance auf eine feste Einstellung in den Betrieben erhalten.

Obwohl derzeit rund 50 000 Beschäftigte zum Mindestlohn oder leicht besser bezahlt werden, fiele nur ein kleiner Teil von ihnen unter die Bedingungen zum Erlangen des staatlichen Zuschusses. Deshalb hielten sich die Auswirkungen auf das allgemeine Lohnniveau in Grenzen und senkten wohl zuerst die Löhne, die augenblicklich unmittelbar über der bezuschussten Einkommensgrenze lägen.

Sollten die aufgezählten Bedingungen tatsächlich erfüllt werden, träfe dann ein, was vor drei Jahren noch Gewerkschaften und LSAP als Skandalon galt – dass Arbeit so verbilligt wird, dass sie alleine ihren Mann oder ihre Frau nicht mehr ernähren kann.

Romain Hilgert
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