Die ADR-Politiker Tom Weidig und Fred Keup haben ein politisches Buch vorgelegt. Sie schüren Angst vor „EU-Bürgern“ und abstrakter Kunst

Der Untergang des Gutlandes

d'Lëtzebuerger Land du 27.05.2022

„Wa Gambia net komm wier, wa se dee Referendum net gemaach hätten, da wier ech warscheinlech nach schéi roueg doheem bliwwen“, behauptete ADR-Abgeordnete und Parteipräsident Fred Keup vor zwei Jahren auf Radio 100,7. Mit Vizepräsident Tom Weidig hat er diesen Monat das Buch Mir gi Lëtzebuerg net op - Auflösungserscheinungen einer kleinen Nation vorgelegt. Hierin taucht das Referendum von 2015 erneut als ein Stichdatum auf: Diesmal als größter Angriff des „Establishments“ auf die Souveränität des Großherzogtums, gegen den sich das Volk erheben musste. Dieser einheitliche Block, den die Autoren angeben zu repräsentieren, wurde in den Wahlen allerdings nicht bestätigt.

In dem Buch wird nun die These vertreten, der Zerfall einer angeblich ehemals einheitlichen nationalen Identität sei durch die Erosion der katholischen Kirche und der Monarchie sowie die Verdrängung der luxemburgischen Sprache „aus dem Alltag“ bedingt. Das Umbruchsdatum legen sie auf 1989 fest. Damals habe das Integrationsideal auf der Beherrschung der luxemburgischen Sprache aufgebaut. Heute stünde die Landessprache der politischen Elite und ihrem Wunsch nach einem transnationalen Turbokapitalismus im Weg, mit dem eine entgrenzte Immigration einhergehe (S. 27). Diese eher arbiträr gewählte Zäsur schien den Autoren einleuchtend, weil das Jahr 1989 mit der 150-jährigen Unabhängigkeitserklärung der Nation zusammenfällt.

Das 160-Seiten umfassende Werk erhebt den Anspruch, Personen die Luxemburger Geschichte zu erläutern, die nicht mit ihr vertraut sind, und der heutigen Jugend könne das Buch als Gegenpol zu dem „kulturellen Analphabetismus“, „der Political Correctness“ und der „knallharten Indoktrinierung“ bezüglich Genderthemen dienen, die sich in den Schulen breitmachen (S. 84f, 138). Unerwähnt bleiben die anstehenden Kommunal- sowie Parlamentswahlen im Juni und
Oktober 2023 auf die das Buch ihren Wahlkampf womöglich ideologisch polen soll.

Hauptsorge der beiden ADR-Männer ist die „Auflösungserscheinung“ der luxemburgischen Sprache, die als „Bindeglied der Nation par excellence“ zu betrachten sei (S. 7). Zwar habe RTL.lu sowie das Internet allgemein die schriftliche Anwendung des Luxemburgischen gestärkt, aber im Supermarkt und in der Arbeitswelt suche man sie vergeblich. Daneben führen sie Statistiken des Bildungsministeriums an, die einen Rückgang an luxemburgischen Muttersprachlern an Schulen von
25 Prozent von 2004 bis 2018 aufweisen. Allerdings unterhalten sich die unterschiedlichen Schüler mit Migrationshintergrund unter sich vor allem auf Luxemburgisch; sie ist weiterhin die zentrale sprachliche Schnittmenge für alle Schüler – das blenden die Autoren aus. Darüber hinaus wird berechtigte Kritik an einem monosprachigen frankophonen Klinikpersonal geäußert: Wer möchte nicht in der Notaufnahme seine Beschwerden in seiner Muttersprache mitteilen? Neben ernstzunehmenden Beispielen wie ein Zusammenleben in multilinguistischen Gemeinschaften erschwert werden kann, versumpft das Thema in Larmoyanz über Kassiererinnen, die Kunden auf Französisch ansprechen (S. 37f). Wer Luxemburger ist, machen die Autoren zuvorderst an der Sprache fest und schreiben: „Luxemburger erkennen eine Person als einen Luxemburger an, wenn sie Luxemburgisch spricht. Ein schönes Motto“ (S. 26). Welchen Standard sie anlegen, um jemanden als der luxemburgischen Sprache mächtig anzuerkennen, definieren sie nicht; ab und an wird sich unbestimmt über Ausländer beschwert, die mit Akzent reden oder ein niedriges Sprachniveau aufweisen. Mit Verweisen auf Eigenheiten des Moselfränkischen in dem Werk Yolanda von Vianden aus dem Jahr 1248 argumentieren Keup und Weidig, die luxemburgische Sprache und ergo Identität sei bereits vor der Nationenbildung konsolidiert worden (S.28).

In einem weiteren Kapitel wird sich retrotopisch auf den Sonntag besinnt, der „immer ein einender Moment für das Dorf“ war. „Man traf sich morgens zur Messe, dann ging’s zum Staminet (Stammtisch), dann zum Sonntagsessen und später zur Abendmesse, also Vesper, oder zum Fussball“ (S. 122). Die beiden Autoren erwähnen, selber nicht in einer Kirche engagiert zu sein, sich aber gegen die medialen Verzerrungen über die Kirche wenden zu wollen. Von der derzeitigen katholischen Kirche unter Jean-Claude Hollerich distanzieren sie sich jedoch: Hollerich sei „der falsche Mann zum falschen Zeitpunkt“, der ohne Erfahrung auf dem „Terrain in luxemburgischen Gemeinden“ handele, sich „vom nationalen Narrativ“ abwende, und sich mit „Weltproblemen wie Armut, Migration, Diskrimination und Klimawandel“ abgebe (S. 136). Weil die heutige katholische Kirche nicht in das nationalistische Narrativ der beiden ADR-Politiker integrierbar ist, schwärmen sie von Kirchengängen von vor 40 Jahren, in denen noch fromme Katholiken anzutreffen gewesen seien.

Die beiden ADR-Politiker verteidigen darüber hinaus die Sonderstellung des Großherzogs. Sie mahnen,, „das politische Establishment“ wolle dem Großherzog durch die anstehende Verfassungsänderung nur noch symbolische Macht zuweisen. Eigentlich solle der Großherzog über der Exekutive walten, aber die Dreierkoalition beschneide seine Macht; die Autoren zeichnen gar ein Bedrohungsszenario: „Auf Initiative der Regierung kann der Großherzog vom Parlament abgesetzt werden“ (S. 146). Sie verweisen allerdings nicht darauf, dass nur unter spezifischen Voraussetzungen die Rechte des nicht vom Volk gewählten Staatsoberhaupts einschränkbar sind. Stattdessen wird gepriesen: Ohne den Großherzog fehle Luxemburg „das gewisse Etwas und die Einzigartigkeit, ja, der Glanz“ (S. 147). Henri sei ein Grundpfeiler, ohne den Luxemburg ein „Imageverlust im Ausland“ erleide, – er symbolisiere die Unabhängigkeit Luxemburgs (S. 246f).

Während die zweite Hälfte des Buches sich in den Duktus des Manifests einreiht, befinden sich im ersten Teil zeilenweise Abhandlungen zur Geschichte Luxemburgs. So liest man vom keltischen Sprachgebrauch im 4. Jahrhundert in den Gebieten des heutigen Luxemburgs, den fränkischen Eroberungen während der Völkerwanderung und wie sich deren Sprache mit den lokalen Dialekten „vermischten“ (S. 9); also davon, wie Kultur und Sprache sich stets hybridisieren und organisch wachsen. Es handelt sich in weiten Teilen wohl um Paraphrasierungen von Historikern wie Michel Pauly und Gilbert Trausch, die sie punktuell mit einer rechtsideologischen Deutung unterfüttern. Auf welche Quelle die Autoren rekurrieren, ist zumeist nicht ersichtlich, – die Quellenangaben befinden sich spärlich im Text verstreut.

In dem Kapitel folgen Aufzählungen über die Herrschaft der Burgunder, Spanier und Habsburger. Als Zäsur wird die französische Besatzung ab 1795 betrachtet, die anders als die vorherigen Herrscher durch ihren Regierungsstil konsequent auf eine kulturelle Anpassung der eroberten Gebiete an die französische Kultur abzielte. Der Klëppelkrich (1798) wird von den Autoren zwar nicht als nationalistisches Unterfangen revidiert, sei aber als „eine regionale Version des Gefühls Mir wëlle bleiwe, wat mir sinn“ zu verstehen und als ein „Kampf für den Erhalt der eigenen Identität“ (S. 13). Dies schreiben die beiden ADR-Politiker, nachdem ein paar Zeilen zuvor auf die unterschiedlichen Interessen der Bauern, des Klerus und der Aristokratie im Klëppelkrich verwiesen wurde und nicht auf eine homogene Identität.

Widersprüche sind in längeren Abhandlungen nicht immer vermeidbar und jedem Denken ist eine gewisse Dialektik inhärent. Dass diese Wendungen gelegentlich dicht aufeinanderfolgen, dürfte jedoch die meisten Leser irritieren. Zwei weitere Beispiele: Der Euro wird in ein und demselben Abschnitt als „wichtiger Einschnitt in die Souverenität Luxemburgs“ betrachtet, um dann als ein Faktor für wirtschaftliche Stabilität bewertet zu werden, der Luxemburg einen Hauch von Weltmacht verleihe (S. 110). Das Internet wird an einer Stelle als ein Vehikel für die Auflösung von nationalen Narrativen betrachtet (S. 126), während zuvor Facebook als das bedeutend-
ste Instrument für die „Nee-Kampagne“ 2015 genannt wird (S. 114). Diese Unstimmigkeiten werden dadurch verstärkt, dass die meisten Sätze einen affirmativen Grundtenor aufweisen, man stößt kaum auf Differenzierungen und Abwägungen, viele Sätze enden mit einem Ausrufezeichen und in nur wenigen wird ein Konjunktiv verwendet.

Beide Autoren leben in einem hybridkulturellen Kontext und vermerken transnationale Stationen in ihrem Lebenslauf; wie sie zu diesen biografischen Eigenheiten stehen, erfährt man im Buch indes nicht. Tom Weidig ist ein promovierter Physiker, der an der Universität Cambridge forschte und Fred Keup studierte Geographie in Straßburg. Weidig ist mit einer Frau verheiratet, die in Serbien aufwuchs und bis 2013 dort lebte. Die Frau von Fred Keup schreibt auf ihrer Künstlerseite, sie sei sowohl vom Großherzogtum als auch von der Kultur ihres „berceau familial qu’est la Sardaigne“ geprägt. Sie verkauft über ihre Künstlerseite durchaus sehenswerte Acrylgemälde mit abstrakten Motiven. In ihrem Buch aber behaupten Keup und Weidig, abstrakte Kunst neige zum „Emotionalismus und Nihilismus“. Und sie fragen sich, ob mit dem Aufkommen der abstrakten Kunst der emotionale Abschied vieler Luxemburger „vom nationalen Narrativ“ zusammenfalle. „Noch vor 30 Jahren hingen Landschaftsbilder der schönen luxemburgischen Natur oder Bilder von Burgen und der Festung Luxemburgs an der Wand. Auch religöse Motive waren populär“. Jetzt aber nehme abstrakte Kunst immer mehr Raum ein, und die Luxemburger „leben zuhause nicht mehr in Luxemburg, sondern irgendwo in der Welt“ (S. 125).

Wie sich Bürger in Entscheidungsprozesse und demokratische Institutionen einbringen und die Demokratie konsolidiert werden kann, wird in Mir gi Lëtzebuerg net op nicht besprochen. Die demokratisch gewählte Regierung wird als „allmächtiges Staatsmonopol“ diffamiert (S. 132) und der Wähler wird nicht als autonomiebegabtes Individuum vorgestellt, das einen selbstbestimmten Beitrag zum demokratischen Prozess beisteuert. Ohnehin wird die Stabilität einer Nation bei Keup und Weidig nicht an ihren demokratischen Institutionen gemessen, sondern an den Gemeinsamkeiten, die zwischen Bürgern bestehen (S. 127). Vielleicht trauen sie den Wählern (und eigentlichen Adressaten des Buchs) nicht viel zu, im Kampf gegen den nationalen Zerfall, denn sie sehen in der Mehrheit der Einwohner vor allem Menschen, die Eigenheimbesitzer sind und dem „Turbowachstum“ der Dreierkoalition auf den Leim gehen.

Obwohl die Autoren den Eindruck vermittelten, sie würden die Luxemburger des 21. Jahrhunderts nur mäßig schätzen, befindet sich im Buch der Appell, die „massive Einwanderung“, die die luxemburgische Sprache bedrohe und langfristig zu einer Bevölkerungserosion führe, mit einer kinderfreundlichen Politik und einer erhöhten Geburtsrate unter Luxemburgern zu konterkarieren. Und weil die beiden Autoren Französisch nicht sonderlich mögen, fällt ihnen auf der letzten Seite des Buches eine Idee ein, wie man dem Französischen los werden könnte: Wie in Malta könnte Luxemburg die Zweisprachigkeit fördern und mit Englisch gezielter an die „globalisierte englischsprachige Welt“ andocken sowie zugleich die luxemburgischen Eigenheiten schützen (S. 164). Daraufhin könnte das Großherzogtum jedoch vermehrt Expats anziehen, die die beiden Autoren als Ausländer „auf der Durchreise“ betrachten, die sich „oft nicht als Einwanderer bezeichnen“, sondern häufig als „EU-Bürger“ und einen „größeren Willen“ aufzuweisen scheinen, „auch ohne Integration politisch mitbestimmen zu wollen“ (S. 152).

Stéphanie Majerus
© 2024 d’Lëtzebuerger Land